Aristoteles’ Metaphysik neu gelesen

Die Aristoteles-Forschung lässt sich in "Flügel" gliedern. Der älteste ist gewiss der neuscholastische, etwa vertreten durch Gil-son, Owens, Reale oder Inciarte. Daneben gibt es eine eher philologisch (maßgebend Jaeger, Düring) und eine eher philosophiegeschichtlich (z.B. Guthrie, Krämer, Flashar) ausgerichtete Forschung. Einflussreiche Forscher wie etwa Frede und Barnes beherrschen sowohl Philologie wie Historie virtuos. Daneben fragt sich, wer von den Philosophen im engeren Sinne sich im Ernst noch mit Aristoteles beschäftigt. Es sind nicht viele. Zwar kann auf Heidegger und Gadamer, auf Strawson und Putnam, auch auf Austin hingewiesen werden.

Das herrschende Aristoteles-Bild aller Flügel, nicht nur des neoscholastischen, ist durch das Mittelalter bestimmt. Auf Grund der absolut überragenden Stellung und allseitigen Interpretation, die Aristoteles in mehreren Jahrhunderten des Mittelalters genossen hat, hat sich ein, wie es scheint, kaum mehr korrigierbares Bild gefestigt. Zudem ist die Metaphysik von Theophrast (ver-mutlich von Andronikos an) jedenfalls bis ins Spätmittelalter als Einleitung zur Metaphysik des Aristoteles überliefert und als späte Kritik des Schülers nicht zuletzt an der Theologie und Teleologie seines Lehrers gelesen worden. Metaphysik XII unter theologischer Optik zu lesen fiel um so leichter, als es eine "Theologia Aristotelis" gab. Noch im 16. Jh. wurden diese Exzerpte aus Plotins Enneaden IV-VI als Teil des Gesamtwerks von Aristoteles gedruckt. Nicht genug damit, galten auch der Liber de causis (zwar im arabischen Raum entstanden, aber zu einem grossen Teil wörtlich Formulierungen der Stoicheiosis theologike von Proklos verwendend) und De mundo als aristotelisch. Da diese Schriften dem Bedürfnis der Zeit nach Fundierung der christlichen Art der Theologie sehr entgegen kamen, wirkten sie entscheidend auf das Verständnis von Aristoteles' Werken.

Nach der Ablehnung der Scholastik durch die Renaissance (man denke an Galileo Galilei, an Bacon) kam Aristoteles erst im 19. Jh. wieder zu breiterer Wirkung. Für Trendelenburg war Aristoteles eine Möglichkeit, sich von Hegel zu distanzieren. Sein Schüler Brentano, damals noch auf dem Weg zum Priestertum, rezipierte Aristoteles in stark katholischer Ausprägung. Obwohl in der akademischen Laufbahn von Misserfolg verfolgt, hatte er dank seiner charismatischen Ausstrahlung über die große Anzahl von Studenten (auch bedeutende, wie Meinong, Husserl, Masaryk) eine sehr breite Wirkung. Alternative Strömungen der Zeit, etwa die philologische oder die historische, konn-ten den Rahmen der Aristoteles-Auffassung nicht ändern. Das gelang erst Jaeger mit dem Nachweis, dass das Corpus Aristotelicum gar nicht der systematischen Schriftart zugehört, die man bis dahin vorausgesetzt hatte. Die an ihn anschließende Forschung des 20. Jh. hat dann allerdings fast ausschließlich nach Alternativen und Korrekturen einer angenommenen Entwicklung des aristotelischen Denkens gesucht. Sie endete, wie die Homer-Analyse, mit einem Patt. Wenig wurde aus der entscheidenden Entdeckung der anderen Schriftart gemacht. So hat sich, was die inhaltlichen Grundpositionen betrifft, das Mittelalter bis in die "mo-dernste" Literatur erhalten.

Die gängigen Philosophiegeschichten vertreten in einigen fundamentalen Punkten diese Standardauffassung. Einschlägige Monographien, Sammelbände und Artikel bestätigen diese Ansicht immer aufs Neue. Nicht alle, aber doch zu viele verlassen sich auf die Standardinterpretation der philologischen und historischen Forschung. So klar, so früh und so konsequent wie Heidegger in den Phänomenologischen Interpretationen zu Aristoteles" (1922) hat sich niemand von diesem Bild distanziert und zugleich versucht, den Grund für ein neues Bild zu legen.

Die Standard-Interpretation

Im Zentrum der gemeinsamen Inhalte der Standardsicht steht die Auffassung, dass Aristoteles der prominenteste Vertreter einer Substanz-Metaphysik sei. Es fällt allerdings auf, dass alle, die diese Behauptung aufstellen, sofort auch wissen, worin sie ungenügend und verbesserungsbedürftig ist. Barnes fasst die Meinung vieler, sonst divergierender Richtungen zusammen, wenn er sagt, dass es bei Aristoteles keinen klaren und folgerichtigen Inhalt und Aufbau der Metaphysik gebe, egal ob man darunter eine Wis-senschaft der ersten Prinzipien, eine Untersuchung des Seienden als Seienden, eine Theologie oder auch eine Untersuchung der Substanz verstehe (Companion, 69). Jedenfalls bestehe ein klarer Unterschied zwischen den "guten" Büchern Met. VII und VIII, und dem "erstaunlich schlechten" Met. XII. Zum harten Kern der Standardsicht gehört auch die Lehre von den vier Ursachen. Dabei wird diese als Behauptung über den faktischen Aufbau der Welt, nicht als Analyse unserer Redeweise über die Welt (so Wieland) verstanden. Damit stimmt die Ansicht über den je nach Standpunkt härteren oder gemäßigten Realismus von Aristoteles zusammen. Wenn die vier Gründe Konstituentien der Welt sind, dann müssen sie und die Welt auch als real behauptet werden. Mit inhaltlichen Punkten dieser Art ist ein bestimmtes Philosophieverständnis verbunden. Danach ist Aristoteles Vertreter einer behauptenden Philosophie.

Im geschilderten Gesamtbild kommt Met. XII eine besondere Rolle zu, denn hier ist angeblich die Theologie des Aristoteles als Abschluss seines Systems dargestellt. Dieser relativ kurze Text (ca. 7 Seiten in der zwei-spaltigen Ausgabe von Bekker, 20 Seiten bei Jaeger) enthält, dem Standardverständnis nach, den Versuch eines Existenz-Nach-weises von Gott. Als Mittel dafür werden die Substanz-Metaphysik, die Onto-Theologie, eine Kosmologie, die Teleologie sowie Überlegungen zur Noesis noeseos ("Denken des Denkens") eingesetzt.Schon für Ross hat das Buch die Rolle des "coping-stone" gespielt. Reale versucht, diese Wertung noch zu überbieten. Aber auch in der Darstellung von Barnes bleibt es dabei, dass Gott zu denken sei als Substanz und "Erster Beweger", dass er überhaupt Thema von Met. XII sei und dass Aristoteles versuche, für ihn einen Existenzbeweis zu erbringen. Gott als Einzelwesen, reiner Akt (actus purus) und reiner Geist denke sich selbst im Denken des Denkens (noesis noeseos). Für all das enthalte Met. XII die abschließende Begründung.

Kritik der Standard-Interpretation

Die Standard-Interpretation erregt allerdings einige Bedenken. 1888 hatte Natorp einen ersten Versuch gemacht, von der theologischen Lektüre von Met. XII loszukommen. Sein Argument war hauptsächlich der Gesamtaufbau der Schrift Metaphysik. Zudem hat er darauf hingewiesen, dass Gott hier nicht als solcher, sondern nur sofern er einer der Gründe ist, thematisiert werde. Er fand keine Nachfolge. Als eine der wenigen hat H. Lang (1993) darauf insistiert, dass Gott, wenn er denn thematisch sein sollte in dieser Schrift, schlicht zu wenig häufig im Text vorkommt. Tatsächlich erscheint das Wort "Gott" im Abschnitt 1072b22-30 gerade viermal (in der Übersetzung von Tricot sechs Mal). Dabei appelliert hier Aristoteles an eine damals übliche Meinung über das Denken Gottes, das als ein Beispiel für das Denken überhaupt fungieren soll. Weitere neun Male fügt Tricot das Adjektiv divin/ divine zu großgeschriebenem Pensée oder Intelligence. Reale schreibt Egli, wenn er Gott meint. So täuschen die Übersetzungen in diesem Punkt.

Die theologische Lesart von Met. XII geht von der späten Datierung von Met. XII aus. Es ist aber wahrscheinlicher, dass sie eine frühe Schrift ist. Sie ist eine Sammlung aller relevanten Fragen, die in der Alten Akademie behandelt worden sind, verbunden mit dem Entwurf einer spekulativen Antwort. Zudem ist anzunehmen, dass die Metaphysik von Theophrast eben so früh, wohl kurz nach dem Weggang von Aristoteles von Athen anzusetzen ist. Dann ist die Schrift von Theophrast weniger die späte Kritik am Meister als ein gemeinsamer Versuch eben der Aufarbeitung der anstehenden philosophischen Fragen. Und, bisher hatte man die Metaphysik von Theophrast als Fragment betrachtet, jetzt zeigt sich immer deutlicher, dass sie ein vollständiger Text ist.

Der Standardinterpretation nach enthält Met. XII einen Gottesbeweis. Dieser beruht hauptsächlich auf dem Begriff der Substanz. Man meinte, ousia damit übersetzen zu können. Der von Heidegger geführte Nachweis, dass eine Substanz-Ontologie eine Theologie nach sich zieht, denn das relativ "Selbstän-dige" braucht ein absolut Selbständiges, besteht völlig zu Recht. Fraglich ist nur, ob Aristoteles eben den Gedanken der Substanz im hier erforderlichen Sinne angesetzt hatte. Das scheint bestreitbar zu sein, denn es lässt sich eine Geschichte dieses Begriffes nachzeichnen, die nach-aristotelisch ist. Erst in der Folge stoischer Überlegungen zu Hypostasis, im weiteren in der Folge der lateinischen Gebrauchs von substantia im Recht (Stasis-Lehre) und im Zusammenhang der Versuche der Kirchenväter, sich den Begriff von Gott klar zu machen, wird aus ousia "Substanz". Zum zweiten braucht der Begriff der Substanz den der Existenz im Unterschied zur Essenz. "Existenz" spielt aber im Griechischen Denken keine Rolle, es gibt kein Wort dafür.

Wenn man zwischen Platon und Aristoteles eine Problemkontinuität annimmt, melden sich auch methodische Bedenken. Platon hat das Behaupten über das Sein im Sophistes aufgegeben zugunsten der Analyse unserer fundamentalen Meinung darüber. Es wäre ein fast unbegreiflicher Verlust des Problemniveaus, wenn Aristoteles danach nun wieder frisch Behauptungen über das Sein hätte aufstellen wollen ("Dieses Pferd da ist das eigentlich Seiende"). Er würde sich mit vollem Wissen in die Reihe derer stellen, "die uns, wie Kindern, Märchen erzählen" (Soph. 242c). Es ergibt sich ein besseres Verständnis, wenn man annimmt, dass Aristoteles in der Metaphysik mit eigenen Mitteln, auf neuem Niveau, die Frage des Sophistes wiederholt. Statt eigene Behauptungen aufzustellen, bezieht sich Aristoteles unablässig und ausdrücklich auf endoxa, auf herrschende Meinungen, um sie auf ihre Fundamente hin zu analysieren. Damit hängt die sprachliche Form vieler Begriffe zusammen. Ein statistisch relevanter und inhaltlich zentraler Teil seiner Begriffe sind aus der Umgangssprache geformte Zitierungen. Um dem Zwang zur Behauptung zu entgehen, werden aus der faktischen Rede Ausdruckweisen zitiert, die nur noch auf den Sinn weisen, den sie in diesem Gebrauch haben, ohne sie selbst zu behaupten. Die Kategorien gehören dazu (das "Was ist das?", das "ir-gendwie-beschaffen" usw.), die vier Gründe (das "worum-willen", das "woraus" usw.), das "ob", das "dass" und manches mehr.

Alternative Lektüre-Prämissen und ihr Ertrag

Nach diesen Beobachtungen liegt es nahe, mit neuen Lektüre-Prämissen einen neuen Zugang zu Metaphysik XII zu suchen. Das ist nicht ausweglos, denn Aristoteles gibt im ersten Satz von Metaphysik XII "Lesehilfen". Danach ist als Thema ousia festgelegt. Ousia, das Sein, ist also das, wonach gefragt wird, es ist nicht schon die Antwort. Die Zugangsweise oder Methode für die Frage nach dem Sein ist Theoria, ein Wissen, das um seiner selbst willen reflektierend gewonnen wird; es steht im Gegensatz zum Wissen, das im Hinblick auf mögliches Handeln oder für das Herstellen gesucht wird. Die Hinsicht, unter der theoretisch nach dem Sein gefragt wird, ist das Erste: Was ist das Erste, im Hinblick worauf wir "sein" verschieden gebrauchen? Theophrast stellt in § 1 seiner Metaphysik genau dieselben Fragen.

Wenn man auf die Textart achtet, zeigt sich, dass Met. XII keine systematische Ausarbeitung einer Behauptung über Gott und die Welt ist. Sie enthält vielmehr eine Problemsammlung und -ordnung, verbunden mit einem spekulativen Versuch zu einer Antwort, der zusammen mit der Metaphysik von Theophrast, und den Frühschriften von Aristoteles selbst gelesen werden muss. So ist Met. XII eher eine frühe Programmschrift. In ihrer Funktion kann sie vielleicht mit dem "Ältesten Systemprogramm" des deutschen Idealismus verglichen werden. Es ist methodisch korrekter, die eben genannten Schriften als Repräsentanten des Problemstandes der Alten Akademie zu verwenden als je eigene Rekonstruktionen aus unsicheren Frag-menten. Jene Texte haben insgesamt einen engen Bezug zum Timaios von Platon und einen gemeinsamen Fragehorizont. In ihnen wird die Frage nach dem das Werden begründenden Sein gestellt: Wie und inwiefern kann das Sein als das Erste Grund des Werdens sein? - Zuletzt kann bemerkt werden, dass bereits in Met. XII die topische Einstellung eingenommen ist, die darin besteht, Meinungen aufgreifen, in begriffliche Fassung bringen, sie zu analysieren und auf die dabei verwendeten Begriffe zu reflektieren.

Was ist der mögliche Ertrag, wenn man bei Aristoteles auf metaphysische Behauptung und auf Theologie verzichtet? Auf die Frage, wie das Sein als das Erste Grund des Werdens sei, antwortet Met. XII, dass das Sein Grund sei als jene energeia (Wirklichkeit), auf welche hin sich das Werdende bewege, ohne dass deswegen das Sein sich bewegen müsste, denn es bewege in gleicher Weise, wie ein Ziel bewege. Dieses Sein meint aber nicht "Existenz in einer realen Außenwelt" (das wäre wiederum nur die Behauptung einer neuen Meinung). Das je Seiende ist dadurch, dass es sich in die Struktur einordnet, welche als noesis von uns in Form herrschender Meinungen je vorweg schon erfasst ist. Der Philosophie bleibt die Analyse, nicht das neuerliche Aufstellen von Meinungen. Nur sofern die Noesis, das Denken, sich selbst je schon vorweg als Struktur erfasst hat, kann das mundan Seiende seinerseits als Verwirklichung der strukturellen Möglichkeit Wirklichkeit des Nus werden und damit sein.

Literatur zum Thema:

zu Aristoteles und Theophrast

Barnes, J. (ed.): The Cambridge Companion to Aristotle, Oxford 1995.

Heidegger, M.: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hrsg. von H.-U. Lessing, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, 6, 1989, 235-274.

Radice, R.: Aristotle’s Metaphysics, An Annotated Bibliography of the Twentieth-Century Literature, Leiden 1997.

Las, A., Most, G.W.: Théophraste, Métaphysique, Paris 1993.

Fortenbaugh, W.W., Sharples, R.W. (eds.): Theophrastean Studies on Natural Science, Physics and Metaphysics, Ethics, Religion and Rhetoric, New Brunswick 1988.

Zu Aristoteles, Met. VII:

Sonderegger, E.: Aristoteles, Metaphysik Z 1-12, Bern 1993.

Zwei Beispiele moderner, aber trotzdem traditio- neller Darstellungen:

Frede, M./Patzig, G.: Aristoteles, Metaphysik Z (2 Bände), München 1988.

Bostock, D.: Aristotle Metaphysics, Z and H, Oxford 1994.

Zu Aristoteles, M. XII:

Sonderegger, E.: Aristoteles, Met. XII - eine Theologie? in Methexis IX, 1996, 58-83 (erster Entwurf einer alternativen Lesart)

Frede, M./Charles, D.: Aristotle’s Metaphysics Lambda, Oxford 2000 (Dieser Gemeinschafts- kommentar bestätigt leider außerhalb des Vor- worts alle alten Vorurteile).

Autor

Erwin Sonderegger ist Titularprofessor für Geschichte der Philosophie an der Universi- tät Zürich und Gymnasiallehrer für Griechisch und Latein an der Kantonsschule Freudenberg in Zürich.