Beginn der Verwissenschaftlichung

Aristoteleskonferenz in Bonn

"In der die westliche Zivilisation bestimmenden Geistesgeschichte sind nur wenige Konstellationen zu nennen, bei denen das Aufeinandertreffen zweier Kulturen zu einer so weitreichenden und bis heute fortwirkenden Entwicklung geführt hat, wie die Begegnung des lateinischen Westens mit der aristotelischen Wissenschaft und ihrer arabisch-jüdischen Fortführung." Mit diesen Worten eröffnete Prof. Ludger Honnefelder die Internationale Konferenz "Die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter". Eine Woche lang, vom 14.-18. August 2000, beschäftigten sich 25 hochrangige Referenten vor internationalem Fachpublikum mit der Frage nach einem der wesentlichen Ursprünge des abendländischen Wissenschafts-, Welt- und Selbstverständnisses.

Die allmähliche Wiederentdeckung des bis ins 12. Jahrhundert den Lateinern in seiner Gesamtheit unzugänglichen corpus Aristotelicum in Verbindung mit dessen arabischen und jüdischen Interpretationen führte zu einem epochemachenden ,Rationalitätsschub'. Durch das Zusammentreffen des lateinischen Christentums mit der aristotelischen Weltdeutung kommt es zu jener "Synthese von Schöpfungsglaube und Naturphilosophie, Geschichtlichkeit und Weltveränderung, Individualität und Handlungsverantwortung" (Honnefelder), welche das Selbstverständnis der westlichen Kultur bis in die Moderne hinein wesentlich mitbestimmt hat. Auf diesem Boden entwickelt sich nicht zuletzt - um 1200 - das Erfolgsmodell der Universität als institutionalisierter Ausdruck einer allseitigen Verwissenschaftlichung.

Trotz seiner enormen Durchschlagskraft liegen die Anfänge dieses gewaltigen Rezeptions- und Transformationsprozesses noch weitgehend im dunkeln. Zu seinen zentralen Gestalten zählt der Kölner Universalgelehrte Albert der Große (Albertus Magnus), dessen ,Langzeitprojekt' einer durchgängigen Kommentierung aller Werke des Aristoteles der Anerkennung der Vernunftautonomie in den Wissenschaften zum Durchbruch verhalf. So war das Gedenken an den 800. Geburtstag dieses bedeutenden Philosophen, Theologen und Naturforschers der äußere Anlaß der Konferenz. Veranstaltet vom Bonner Albertus-Magnus-Institut (AMI), das sich seit 1931 der Herausgabe der Werke des doctor universalis widmet, bildete die Tagung den Abschluß eines von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung geförderten TRANSCOOP-Projekts zwischen dem Philosophischen Seminar LFB II der Universität Bonn (Prof. Honnefelder) und der School of Divinity der Universität Yale (Prof. Rega Wood) in Zusammenarbeit mit dem AMI.

Einer der frühesten Aristoteles-Kommentatoren ist der bis vor einigen Jahren fast unbekannte Richard Rufus von Cornwall (? um 1260). Seine Bedeutung zeichnet sich erst allmählich ab, ange-#stoßen vor allem durch die Forschungen von Rega Wood, die auch an der Edition seiner Werke arbeitet. Neben Sektionen zur Logik, Ethik oder Metaphysik galt diesem Denker ein wichtiges Augenmerk der Konferenz. Zu den Teilnehmern der Tagung, die Wissenschaftler aus Neuseeland, Nordamerika und Europa zusammenführte, zählte auch der Präsident der Internationalen Gesellschaft zur Erforschung der mittelalterlichen Philosophie (S.I.E.P.M.), Prof. David Luscombe (Universität Sheffield), der in einem öffentlichen Abendvortrag über Ethics in the Early Thirteenth Century den Entstehungsprozeß der Moralphilosophie als wissenschaftlicher Disziplin nachzeichnete. Auf die bei der Pressekon-#ferenz gestellte Frage nach der unmittelbaren Bedeutung der Aristoteles-Rezeption heute, antwortete Luscombe: Es sei der Respekt vor der fremden Kultur und die ernsthafte intellektuelle Auseinandersetzung mit ihr, die wir von den Denkern des 12. und 13. Jahrhunderts lernen können. Diese Reflexion, so ergänzte Honnefelder, bringe die Vernunft "in ein bis dahin unbekanntes Verhältnis zu sich selbst und öffne damit den Weg in eine veränderte, unverwechselbar werdende Identität."

 

Joachim R. Söder