Carnaps "Logischer Aufbau der Welt" in neuer Sicht

Der Logische Aufbau der Welt (1928) gilt gemeinhin als das Hauptwerk Carnaps. Zwar hat sein Denken später scheinbar andere Wege eingeschlagen, gleichwohl hat Carnap die im Aufbau formulierten Gedanken niemals widerrufen. So schreibt er 1961 in der Einleitung zur zweiten Auflage des Buches: "[Mit] der philosophischen Einstellung, die dem Buch zugrunde liegt, stimme ich heute noch überein. Das gilt vor allem für die Problemstellung und für die wesentlichen Züge der angewendeten Methode". Herauszufinden, was denn "die philosophische Grundeinstellung", "die Problemstellung" und "die wesentlichen Züge der angewendeten Methode" des Aufbau sind, hat sich jedoch als gar nicht einfach erwiesen. Jedenfalls sind die Interpreten, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, darüber alles andere als einig. Diese Uneinigkeit hat in den letzten Jahren geradezu dramatische Formen angenommen, insofern eine Vielzahl neuer Interpretationen des Aufbau vorgetragen worden sind, die alle wesentlich voneinander abweichen. So findet man bei Moulines (1991) eine - keineswegs als vollständig reklamierte - Liste von nicht weniger als sieben verschiedenen Lesarten.

Angesichts dieser Vielfalt ist es nicht möglich, hier jeden Ansatz zu behandeln. Im Folgenden möchte ich deshalb nur auf diejenigen Interpretationen eingehen, die ich für die wichtigsten halte. Das sind nach meiner Meinung die traditionell empiristische (immer noch), die neukantianische und die konventionalistische Interpretation des Aufbau und der Ansatz, der die Thematik einer formalen Konstitutionstheorie für zentral hält.

Die Bedeutung des Aufbau beschränkt sich nicht auf die Philosophiegeschichte. Wenn man die analytische Philosophie, ihre Geschichte und ihre Beziehung zum Rest der Philosophie des 20. Jahrhunderts verstehen will, muß man Carnaps Phi-losophie verstehen. Dafür ist es notwendig, den Aufbau zu begreifen, der einen entscheidenden Punkt in Carnaps denkerischer Entwicklung markiert.

Die neuen "revisionistischen" Interpretationen des Aufbau speisen sich in erster Linie aus der Einsicht, dass der philosophische Kontext dieses Werkes komplexer ist als die analytische Philosophie anglo-amerikanischer Provenienz wahrnehmen wollte. Der Carnap des Aufbau war keineswegs ein logischer Empirist im Sinne der amerikanischen mainstream Philosophie, sondern ein Denker, der geprägt war durch so verschiedene philosophische Strömungen wie den logischen Konstruktivismus Russells, den Neukantianismus der Marburger Schule, die Phänomenologie Husserls und den Konven- tionalismus Dinglers und Poincarés. Das hatte weitreichende Konsequenzen für den Inhalt des Aufbau, war doch Carnap bestrebt, möglichst allen diesen um "Wissen-schaftlichkeit", "Rationalität" und "Aufklärung" bemühten philosophischen Ansätzen gerecht zu werden. Folgerichtig lassen sich die "neuen" Interpretationen des Aufbau zunächst danach klassifizieren, auf welche Strömung sie das Hauptgewicht legen: bei Mayer (1991) ist es die Phänomenologie Husserls, bei Runggaldier (1984) ein von der Geometrie inspirierter Konventionalismus, in Proust (1986) ein modernisierter Kantianismus und in den Arbeiten von Friedman (1987) und Richardson (1998) ein Neukantianismus Marburger Prägung.

Auch wenn die neuen Lesarten des Aufbau in den letzten Jahren an Boden gewonnen haben, ist bis heute die klassisch empiristische die am meisten verbreitete. Diese tra-ditionelle Sicht begreift den Aufbau als Werk eines durch die moderne Logik angereicherten reduktionistischen Empirismus ("Hume plus mathematische Logik"). Der Aufbau, so die traditionelle Interpretation, habe das von Russell propagierte Programm, die Außenwelt als logisches Konstrukt aus Sinnesdaten darzustellen, zum ersten Mal ernsthaft in Angriff genommen. Carnap, so Quine noch 1995, kam der Verwirklichung dieses Programms am nächsten, was sein grandioses Scheitern jedoch nicht verhindert habe. Für diese phänomenalistisch-empiristische Lesart des Aufbau gibt es einige Belege: so die Tatsache, dass Russells "oberste Maxime des wissenschaft-lichen Philosophierens" als Motto des Aufbau diente: "Wherever possible, logical constructions are to he substituted for inferred entities." Bei näherem Besehen stößt diese phänomenalistisch-reduktionistische Interpretation des Aufbau jedoch auf Schwierigkeiten. So verkündete Carnap explizit, der Ansatz des Aufbau bleibe im Zwist zwischen Realismus und Empirismus "neutral". Offen nichtempiristisch ist seine These, die Wissenschaft behandle nur die Struktureigenschaften der Gegenstände und spreche "von bloßen Formen, ohne zu sagen, was die Glieder und die Beziehungen dieser Formen sind." Was immer man von Behauptungen dieser Art halten mag, mit dem Empirismus sind sie sicher nicht vereinbar. Damit wird eine rein empiristische Interpretation des Aufbau unplausibel.

Neukantianische Interpretationen (Friedman, Richardson) setzen die Akzente des-halb anders. Ihnen zufolge ist es das wesentliche Ziel des Aufbau, die Fortschritte der Logik und Mathematik (Whiteheads und Russells Principia Mathematica) und der empirischen Wissenschaften (Gestaltpsychologie) dazu zu nutzen, eine wissenschaftlich respektable Nachfolgerdisziplin der herkömmlichen Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie zu entwerfen, die den alten Streitigkeiten der traditionellen Philosophie aus dem Wege geht. So sind für Car-nap die Auseinandersetzungen zwischen Idealismus, Realismus und Phänomenalismus obsolete metaphysische Scharmützel. Der Ansatz des Aufbau, die sogenannte Konstitutionstheorie, bleibt ihnen gegenüber neutral. Im Anschluss an den Neukantianismus ist für Carnap die Konstitutionstheorie eine Theorie des wissenschaftlichen Begriffs oder besser eine Theorie wissenschaftlicher Begriffssysteme. Begriff und Gegenstand fallen für ihn dabei, gut idealistisch, zusammen. Ein Hauptproblem der Konstitutionstheorie als Theorie von Konstitutionssystemen ist es, den Rahmen möglicher Grundgegenstände (Grundbegriffe) abzustecken, auf deren Basis alle anderen Gegenstände konstituiert werden. Das Verdienst, dieses Problem gelöst zu haben, kommt nach Carnap zwei "einander nicht immer freundlich gesinnten philosophischen Richtungen" zu: "Der Positivismus hat hervorgehoben, dass das einzige Material der Erkenntnis im un-verarbeiteten, erlebnismäßig Gegebenen liegt; dort sind alle Grundelemente des Konstitutionssystems zu suchen. Der transzendentale Idealismus insbesondere neukantianischer Richtung (Rickert, Cassirer, Bauch) hat aber mit Recht betont, dass diese Elemente nicht genügen; es müssen Ordnungssetzungen hinzukommen, unsere 'Grundrelationen'." Man kann deshalb den Aufbau auch als Versuch einer Synthese von Positivismus und Neukantianismus mit der Mitteln der Relationenlogik ansehen.

Diese Neutralität der Konstitutionstheorie gegenüber Streitigkeiten der herkömmlichen Philosophie und die Vielfalt möglicher Konstitutionssysteme (Carnap erwähnt im Aufbau mindestens vier oder fünf) bringt den Aufbau-Ansatz in ein konventionalistisches Fahrwasser (Runggaldier 1984). Es ist eine Sache der Konvention, welche Art von Konstitution des wissenschaftlichen Wissens man wählt. Grundsätzlich gibt es immer mehrere Konstitutionssysteme. Der Aufbau als Theorie von Konstitutionssystemen ist nicht festgelegt auf ein bestimmtes solches System, etwa ein phänomenalistisches.

Alle Konstitutionssysteme gehen von der Grundvoraussetzung aus, dass wissenschaftliche Aussagen Strukturaussagen sind. Am Anfang des Aufbau steht also eine Übersetzungsthese: Jede wissenschaftliche Aussage kann in eine Strukturaussage übersetzt werden. Damit verweist das Projekt des Aufbau auf eine formale Strukturtheorie. Zu den interessantesten Aspekten dieses Werkes gehören deshalb die neuen formalen Mittel, die Carnap für die Konstitution struktureller Begriffe verwendet. Dazu gehört insbesondere die Quasianalyse, welche als eine originelle und weitreichende Verallgemeinerung der Abstraktionsmethode von Frege und Whitehead verstanden werden kann. Diese Methode, die Carnap als universelle Konstitutionsmethode überhaupt galt ("Alle wissenschaftlichen Gegenstände sind Quasigegenstände, d.h. quasianalytisch konstituierte Gegenstände"), ist im Anschluss an Goodman von vielen Philosophen vehement kritisiert worden.

Mittlerweile wird, unter anderem durch die Arbeit von Proust (1986, siehe auch Ri-chardson 1998) immer deutlicher, dass die Verabschiedung der Quasianalyse wohl et-was zu voreilig war. Gleichwohl hat die erneute Beschäftigung mit der Problematik der formalen Konstitutionstheorie im Stile des Aufbau bisher wohl noch nicht zu allgemein akzeptierten Ergebnissen geführt. Von einer allgemein anerkannten verbindlichen Interpretation des Aufbau sind wir heute also weiter entfernt als je zuvor. Das ist ein vielleicht etwas unbequemer Zustand - man kann nicht kurz und bündig sagen, "was Carnap wirklich gemeint hat." Philosophen sollte diese Tatsache jedoch nicht sonderlich beunruhigen, sie belegt nur die Lebendigkeit dieses Klassikers der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ich glaube deshalb, dass Nelson Goodman, einer der schärfsten Kritiker des Aufbau, recht hat mit seiner Behauptung: "Der Aufbau kann nicht auf den Status eines monumentalen Werkes heruntergestuft werden, das nur noch historische Bedeutung besitzt. Die Lehren, die er uns erteilen könnte, sind bis heute nur unzureichend aufgenommen worden." Auf längere Sicht hänge die Bedeutung dieses Werkes nicht davon ab, was Carnap im Aufbau er-reicht habe, sondern wie weit wir über ihn hinauskommen. Eine Vielfalt verschiedener Sichtweisen kann dafür nur nützlich sein.

 

Wichtige Literatur zum Thema:

Carnap, R.: Mein Weg in die Philosophie. Nachwort und Übersetzung von Willy Hochkeppel. 160 S., kt., DM 8.--, RUB 8844, 1993 (1963), Reclam, Stuttgart

Carnap, R.: Der Logische Aufbau der Welt. XXIV, 290 S., Ln., DM 68.--, Philosophische Bibliothek 514, 1998 (1928), Meiner, Meiner, Hamburg.

Friedman, M.: Reconsidering Logical Positivism, Cambridge, Cambridge University Press, 1999.

Goodman, N.: The Relevance of Carnap's Aufbau, in P.S. Schilpp (ed.),

The Philosophy of Rudolf Carnap, La Salle, Open Court, 545 - 558, 1963

Mayer, V.E.: Die Konstruktion der Erfahrungswelt: Carnap und Husserl,

Erkenntnis 35, 287 - 303, 1991.

Moulines, C.U.: Making Sense of Carnap's Aufbau, Erkenntnis 35, 263-86, 1991.

Proust, J.: Questions of Form. Logic and the Analytic Proposition from Kant to Carnap, 1986, Minneapolis, The University of Minnesota Press.

Quine, W.V.: From Stimulus to Science. 128 p., $ 25.95, 1995,

Harvard University Press, Cambridge Mass.

Richardson, A.W.: Carnap's Construction of the World, £ 35.--, 1998, Cambridge University Press, Cambridge.

Runggaldier, E: Carnap's Early Conventionalism. An Inquiry into the Historical Background of the Vienna Circle, 1984, Rodopi, Amsterdam.

Autor

Thomas Mormann ist Professor für Philosophie an der Unversität des Baskenlandes in San Sebastian, Spanien. Von ihm ist dieser Tage der Band "Rudolf Carnap" in der Beck'schen Reihe Denker, (Beck, München) erschienen.