Theorien der Emergenz

Der Ausdruck "emergence" wird im Englischen häufig in einem alltagssprachlichen Sinn gebraucht und bezeichnet dann das "Auftauchen" oder (erstmalige) "Erscheinen" irgendeiner Entität. Im Mittelpunkt des philosophischen Interesses steht jedoch der technische Begriff der Emergenz. Dieser bezeichnet eine Eigenschaft "zweiter Stufe", indem er Strukturen oder Eigenschaften erster Stufe (oder auch Verhaltensweisen oder Strukturen) als "emergent" auszeichnet und damit von anderen, den "nicht-emergenten" Eigenschaften und Strukturen unterscheidet.

In der Fachwelt gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, nach welchen Kriterien emergente von nicht-emergenten Phä-nomenen zu unterscheiden sind. Einige Kri-terien sind sehr streng, so dass nur wenige, vielleicht gar keine Eigenschaften unter den entsprechenden Begriff fallen, andere fördern einen eher inflationären Gebrauch des Emergenzbegriffs mit dem Ergebnis, dass sehr viele, wenn nicht alle Systemeigenschaften "emergent" genannt werden müssten. Die Folge ist, dass zur Zeit eine ziemliche Verwirrung darüber vorherrscht, was genau gemeint ist, wenn von "emergenten Eigenschaften" in so verschiedenen Bereichen wie Theorien der Selbstorganisation, der Philosophie des Geistes, der Theorie dynamischer Systeme oder dem Konnektio-nismus die Rede ist. Um hier Abhilfe zu schaffen, ist es wichtig, verschieden starke Emergenztheorien voneinander zu unterscheiden.

Drei Theorien sind unter den verschiedenen Spielarten des Emergentismus besonders hervorzuheben: der synchrone Emergentismus, der diachrone Emergentismus und eine schwache Form des Emergentismus. Für den synchronen Emergentismus steht das als zeitlos betrachtete Verhältnis zwischen den Eigenschaften eines Systems und dessen Mikrostruktur im Mittelpunkt des Interesses. Im Rahmen dieser Theorie gilt eine Systemeigenschaft dann als emergent, wenn sie irreduzibel ist, also nicht auf die Anordnung und die Eigenschaften der Systemteile zurückgeführt werden kann. Der diachrone Emergentismus richtet sein Augenmerk auf die Vorhersagbarkeit neuartiger Eigenschaften. In dessen Rahmen gelten diejenigen Eigenschaften als emergent, die vor ihrem erstmaligen Auftreten prinzipiell nicht hätten vorhergesagt werden können. Synchroner und diachroner Emergentismus sind im übrigen nicht unabhängig voneinander, da irreduzible Eigenschaften eo ipso vor ihrem erstmaligen Auftreten unvorhersagbar sind. Synchron emergente Eigenshafen sind also auch diachchron emergent, das Umgekehrt gilt freilich nichnt.

Diese beiden stärkeren Formen des Emergentismus basieren auf einer "schwachen" Theorie, die derzeit vor allem im Konnektionismus und in Theorien der Selbstorganisation die emergenztheoretischen Betrachtungen durchzieht. Deren drei Grundmerkmale, die These des physischen Monismus, die These der systemischen Eigenschaften und die These der synchronen Determiniertheit, sind auch mit reduktionistischen Ansätzen problemlos vereinbar. Die stärkeren Emergenztheorien ergeben sich aus dem schwachen Emergentismus durch das Hinzufügen weiterer Thesen.

Der schwache Emergentismus

Das erste Merkmal zeitgenössischer Emergenztheorien ist die These des physischen Monismus. Sie besagt, dass die Träger der emergenten Eigenschaften (oder Strukturen) ausschließlich aus materiellen Bestandteilen bestehen. Mögliche Kandidaten für emergente Eigenschaften, wie "lebendig zu sein" oder "in einem mentalen Zustand zu sein", werden nach dieser These allein durch ma-terielle Systeme mit einer hinreichend komplexen Mikrostruktur instantiiert. Ausgeschlossen werden damit vitalistische Positionen, denen zufolge die Eigenschaft, lebendig zu sein, erst durch die Verbindung eines Organismus mit einer übernatürlichen Entität wie einer Entelechie oder eines élan vital instantiiert werden kann. Ebenso abgelehnt werden damit substanzdualistische Po-sitionen, die das Haben kognitiver Zustände auf übernatürliche Träger wie eine res co-gitans zurückführen möchten. Im besonderen bedeutet dies, dass die Systeme, die lebendig sind oder Geist haben - seien sie natürliche oder artifizielle Systeme - aus den gleichen basalen Bausteinen bestehen wie die unbelebten Dinge der Natur. Mit der Übernahme der naturalistischen Position unterstreichen Emergenztheoretiker ihren empirisch-wissenschaftlichen Anspruch, ohne sich damit auch schon einem reduktionistisch-physikalistischen Ansatz verpflichtet zu fühlen.

Mit der These der systemischen Eigenschaften, der zweiten These, die die Diskussion zeitgenössischer Emergenztheorien prägt, wird der Typ der Eigenschaften, die überhaupt als mögliche Kandidaten emergenter Phänomene in Frage kommen, eingegrenzt. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass die allgemeinen Eigenschaften komplexer Entitäten in zwei verschiedene Gruppen zerfallen: (i) in solche Eigenschaften, die auch einige der Bestandteile haben, und (ii) in solche, die kein Bestandteil des Systems hat. Beispiele für Elemente der ersten Gruppe sind Eigenschaften wie "ausgedehnt zu sein" oder "eine Geschwindigkeit zu haben"; sie werden mitunter "erbliche" Eigenschaften (allerdings nicht im biologischen Sinne) genannt. Beispiele für die zweite Gruppe sind "zu laufen", "sich selbst duplizieren zu können", "zu atmen" oder "eine Schmerzempfindung" zu haben. Diese werden als systemische oder kollektive Eigenschaften bezeichnet.

Die dritte These der zeitgenössischen Emer- genztheorien spezifiziert den Typ des Verhältnisses, das zwischen der Mikrostruktur eines Systems und dessen emergenten Eigenschaften besteht, als eines der synchronen Determiniertheit. Danach hän-gen die Eigenschaften und Verhaltensdispositionen eines Systems nomologisch von dessen Mikrostruktur, d. h. den Eigenschaften seiner Bestandteile und deren Anordnung ab: Es kann keinen Unterschied in den systemischen Eigenschaften geben, ohne dass es zugleich Unterschiede in den Eigenschaften der Bestandteile des Systems oder in deren Anordnung gibt.

Jemand, der bereit wäre, die These der syn- chronen Determiniertheit der Systemeigen- schaften abzulehnen, müsste entweder "frei schwebende" Eigenschaften zulassen, die nicht an die Eigenschaften und die Anordnung der Bestandteile ihres Trägers gebunden sind, oder annehmen, dass ein anderer, in diesem Falle nicht-natürlicher Faktor für die unterschiedlichen Dispositionen struktur- und bausteinidentischer Systeme verantwort- lich ist. Illustriert an einem Beispiel aus der Chemie könnte dies bedeuten, dass es Ge-genstände gibt, die dieselben Bestandteile in derselben Anordnung wie Diamanten haben, ohne jedoch deren Härte zu haben. Das erscheint völlig unplausibel. Ebensowenig scheint vorstellbar zu sein, dass es zwei identische Organismen gibt, von denen der eine lebensfähig ist, der andere aber nicht. Im Falle geistiger Phänomene scheinen die Intuitionen weiter auseinanderzuklaffen, doch scheint eines klar zu sein: Wer z. B. bereit ist zu glauben, dass von zwei struktur- und bausteinidentischen Lebewesen das eine farbenblind sein könne, während das andere in gewöhnlicher Weise Farben unterscheiden kann, der vertritt keine naturalistisch-physikalistische Position mehr.

Die These der synchronen Determiniertheit findet man in der gegenwärtigen Debatte mitunter auch in einer etwas schwächeren Variante als These der mereologischen Supervenienz, der zufolge die Eigenschaften (bzw. Dispositionen) eines Systems über den Eigenschaften seiner Bestandteile und deren Anordnung supervenieren. Auch da-nach kann es keinen Unterschied in den sy-stemischen Eigenschaften geben, ohne dass es zugleich Unterschiede in den Eigenschaften der Bestandteile des Systems oder in deren Anordnung gibt. Die Supervenienzthese ist jedoch schwächer als die These der synchronen Determiniertheit, da sie nicht die Abhängigkeit der Systemeigenschaften von der Mikrostruktur des Systems, nur deren Kovarianz, behauptet.

Der bisher skizzierte schwache Emergentismus vereint die Minimalanforderungen an emergente Eigenschaften und ist die gemeinsame Grundlage auch aller stärkeren Theorien. Darüber hinaus - und das legt es nahe, ihn als eigenständige Theorie auszuzeichnen - wird er heute nicht nur von von einigen Philosophen (z. B. von Bunge und Vollmer), sondern auch von Kognitionswissenschaftlern (z. B. von Hopfield, Rosch, Varela und Rumelhart) in eben dieser schwachen Form vertreten. Seine drei Merkmale - die These vom physischen Monismus, die These der systemischen Eigenschaften und die These der synchronen Determiniertheit - sind jedoch ohne weiteres mit den zeitgenössischen reduktionistischen Positionen vereinbar, zumal diese zur Erklärung systemischer Eigenschaften - im Gegensatz zu älteren Formen des Reduktionismus - die Struktur der jeweiligen Systeme mitberücksichtigen. Die bloße Nicht-Additivität einer systemischen Eigenschaft macht diese daher noch nicht irreduzibel. Die Vereinbarkeit von "Emergenz" und "Reduzierbarkeit" wird von einigen Vertretern der schwachen Emergenztheorie als ein Vorzug dieser Version gegenüber den stärkeren Emergenztheorien angesehen.

Der synchrone Emergentismus

Zentrale Merkmale der anspruchsvolleren emergentistischen Theorien sind die These der Nichtreduzierbarkeit sowie die These der Unvorhersagbarkeit bestimmter systemischer Eigenschaften. Zwischen beiden besteht ein enger Zusammenhang: Systemische Eigenschaften, die irreduzibel sind, sind eo ipso vor ihrer ersten Exemplifizierung nicht vorhersagbar und zwar im Prinzip nicht. Doch außer den irreduziblen scheint es auch noch Eigenschaften zu geben, die aus anderen Gründen vor ihrem ersten Auftreten nicht vorhergesagt werden können. Insofern ist die Unvorhersagbarkeitsthese komplexer als die These der Nichtreduzierbarkeit systemischer Eigenschaften.

Als geradezu "klassisch" darf inzwischen die von Broad im Rahmen seiner Explikation der emergenztheoretischen Position vorgeschlagene Formulierung der These der Nichtdeduzierbarkeit systemischer Eigenschaften gelten. Danach ist eine systemische Eigenschaft, von der vorausgesetzt wird, dass sie gemäß der These der synchronen Determiniertheit nomologisch von der Mikrostruktur ihres Trägers (System S) abhängt, dann irreduzibel und damit emergent, wenn sie nicht aus der Anordnung, die die Bestandteile in S haben, und den Eigenschaften, die diese isoliert oder in von S verschiedenen Systemen haben, deduziert werden kann. Hinter dieser Formulierung verbergen sich freilich zwei ganz unterschiedliche Typen der Irreduzibilität, die ebenso verschiedene Konsequenzen haben. Das Versäumnis, diese auseinanderzuhalten, hat die neuere Debatte über die Emergenz von Eigenschaften nachhaltig verwirrt:

n Die systemische Eigenschaft E eines Systems S kann deshalb irreduzibel sein, weil sich aus dem Verhalten der Systembestandteile von S nicht ergibt, dass S die Eigenschaft E hat, und zwar deshalb nicht, weil sich die Eigenschaft E gar nicht adäquat behavioral oder funktional analysieren lässt.

n Die systemische Eigenschaft E eines Systems kann aber auch deshalb irreduzibel sein, weil sich aus dem Verhalten, das die Systembestandteile von S isoliert oder in von S verschiedenen Konstellationen zeigen, nicht ergibt, wie sie sich in S verhalten.

Ist eine systemische Eigenschaft irreduzibel, weil das Verhalten der Systemteile, über dem sie superveniert, selbst irreduzibel ist, so scheint dies einen Fall von "abwärts gerichteter Verursachung" anzuzeigen. Denn wenn sich das Verhalten der Komponenten nicht auf deren Anordnung und das von ih-nen in anderen Systemen gezeigte Verhalten zurückführen lässt, dann scheint es einen vom System selbst ausgehenden "abwärts gerichteten" kausalen Einfluss auf das Verhalten seiner Teile zu geben.

Freilich wäre, wenn es denn diese Form der abwärts gerichteten Verursachung geben sollte, damit kein Bruch allgemeiner Annahmen wie z. B. des Prinzips der kausalen Abgeschlossenheit des physischen Bereiches verbunden. Innerhalb des physischen Bereichs wären neben den basalen Wechselwirkungen lediglich weitere Formen der kausalen Einflussnahme zu akzeptieren.

Das Vorkommen nicht-analysierbarer Eigenschaften impliziert dagegen keine Form der "downward causation". Weder müssen Systeme, von deren Mikrostruktur nicht-analysierbare Eigenschaften nomologisch abhängen, derart beschaffen sein, dass das Verhalten ihrer Bestandteile irreduzibel ist - eine vom System selbst ausgehende abwärts gerichtete Verursachung wird demnach nicht impliziert -, noch ist anzunehmen, dass von den nichtanalysierbaren systemischen Eigenschaften selbst ein "abwärts gerichteter" kausaler Einfluss auf die Teile des Systems ausgeht. Eher ist zu fragen, inwiefern die nicht-analysierbaren Eigenschaften überhaupt eine kausale Rolle spielen können. Da sie funktional nicht analysierbar sind, also weder einem "Mechanismus" zu entsprechen noch aus einem solchen zu resultieren scheinen, ist auch nicht zu sehen, mittels welcher "Mechanismen" sie selbst wirksam sein könnten. Wenn aber nicht zu sehen ist, wie den nicht-analysierbaren systemischen Eigenschaften eine kau-sale Rolle zukommen könnte, dann scheint es, als bliebe ihnen nur der Status eines Epiphänomens.

Der diachrone Emergentismus

In einer systematischen Untersuchung, die von den charakteristischen Eigenschaften der in unserer Welt befindlichen Systeme ausgeht - also z. B. von deren chemischen, vitalen oder kognitiven Eigenschaften -, steht eindeutig die Frage nach der Reduzierbarkeit dieser Eigenschaften im Zentrum des Interesses, während die Frage nach de-ren Vorhersagbarkeit gleichsam ohne Belang ist.

Dagegen scheint sich im Rahmen evolutionärer Emergenztheorien das Verhältnis zwi-schen den beiden Fragestellungen umzukehren: Während die Frage nach der Reduzierbarkeit der neu entstehenden Eigenschaften hier weniger bedeutsam erscheint, steht nun die Frage im Vordergrund, was in einem früheren Stadium der Entwicklung des Uni-versums wenigstens im Prinzip über die in seinen späteren Phasen zu erwartenden Sy-steme sowie deren Eigenschaften prognostiziert werden kann. Ebenso scheint auch bei der Entwicklung neuer Artefakte die Vorhersagbarkeit der zu erwartenden Eigen-schaften eine wichtige Rolle zu spielen. Da-bei geht es jedoch weniger um Fragen der prinzipiellen Vorhersagbarkeit, als vielmehr um handfeste pragmatische Interessen - für Automobilkonzerne wäre es einfach besser, schon vor einem "Elchtest" zu wissen, ob ein neu konstruiertes Auto diesem standhalten wird oder nicht. Unvorhergesehene Er-eignisse dieses Typs haben allerdings wenig mit Emergenz in einem theoretisch interessanten Sinne zu tun.

Allen diachronen Emergenztheorien liegt die These vom Auftreten neuartiger Entitäten zugrunde, derzufolge es im Universum wiederholt zur Exemplifizierung von genuin Neuartigem kommt: Im Laufe der Evolution ergeben sich zwischen den jeweils vorhandenen Bausteinen neue Konstellationen; es bilden sich neue Strukturen aus, die neue Entitäten mit neuen Eigenschaften und Verhaltensweisen konstituieren. Mit dieser These werden zugleich alle präformationistischen Positionen ausgeschlossen.

Das bloße Hinzufügen der Neuartigkeits-these macht jedoch aus einer schwachen noch keine starke Emergenztheorie, da der reduktive Physikalismus auch mit dieser Spielart des Emergentismus kompatibel bleibt. Erst die weitere These der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit der neuartigen Eigenschaften führt zu stärkeren diachronen Emergenztheorien. Auch die Unvorhersagbarkeit systemischer Eigenschaften kann aus unterschiedlichen Gründen vorliegen.

n Eine systemische Eigenschaft kann unvorhersagbar sein, weil bereits die Mikrostruktur des Systems, das sie erstmals instantiieren wird, unvorhersagbar ist.

n Eine systemische Eigenschaft kann unvorhersagbar sein, obwohl die Mikrostruktur des Systems, das sie erstmals instantiieren wird, vorhersagbar ist, und zwar deshalb, weil sie irreduzibel ist. Denn irreduzible Eigenschaften sind eo ipso vor ihrem erstmaligen Auftreten unvorhersagbar.

Die erste Variante der Unvorhersagbarkeit, die Strukturunvorhersagbarkeit, hat in der "klassischen" emergenztheoretischen Literatur kaum Beachtung gefunden. Sie gewinnt jedoch angesichts des starken Interesses an dynamischen Systemen und chaotisch ablaufenden Vorgängen zunehmend an Bedeutung. Die Struktur eines neu entstehenden Systems kann selbst wiederum aus verschiedenen Gründen unvorhersagbar sein. So im-pliziert die Annahme eines indeterministischen Universums unmittelbar die Unvorhersagbarkeit neuer Strukturbildungen. Aus emergenztheoretischer Perspektive wäre es jedoch eher uninteressant, wenn die Bildung einer neuen Struktur nur deshalb als unvorhersagbar gelten müsste, weil ihr Entstehen indeterminiert wäre. Davon abgesehen gehen die meisten Emergentisten ohnehin davon aus, dass auch die Bildung neuer Strukturen nach deterministischen Gesetzen erfolgt. Aber auch determiniert ablaufende Strukturbildungen können prinzipiell unvorhersagbar sein, und zwar dann, wenn sie nach Gesetzen verlaufen, die dem deterministischen Chaos zuzurechnen sind. Ein wesentliches Ergebnis der Chaostheorie ist nämlich, dass es - sogar sehr einfache - mathematische Funktionen gibt, deren eigenes Verhalten nicht vorhergesagt werden kann. Erst das Aufkommen der experimentellen Computer-Mathematik hat z. B. die Eigenschaften von verschiedenen logistischen Funktionen preisgegeben. Deren Un-vorhersagbarkeit hängt mit ihrem aperiodischen Verhalten zusammen, bei dem mini-mal verschiedene Startwerte zu radikal verschiedenen Funktionsverläufen führen können.

So sieht es ganz so aus, als habe uns ausgerechnet die exakteste aller Wissenschaften zu einem der Ausgangspunkte des Emergentismus zurückgeführt. Während wir heute - nach den bahnbrechenden Erfolgen der Che-mie und Physik - die Eigenschaften und Dispositionen chemischer Verbindungen nicht mehr zu den synchron emergenten Phänomenen rechnen, legt die Erforschung des deterministischen Chaos die Existenz von Systemen nahe, die prinzipiell unvorhersagbare Strukturen entwickeln und damit strukturemergentes Verhalten zeigen können.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Eine systemische Eigenschaft ist vor ihrem erstmaligen Auftreten prinzipiell unvorhersagbar, (i) wenn sie irreduzibel ist oder (ii) wenn die Struktur, über der sie superveniert, vor ihrem ersten Entstehen prinzipiell unvorhersagbar ist. Obwohl die Unvorhersagbarkeit einer Struktur folglich stets auch die Unvorhersagbarkeit der von ihr instantiierten Eigenschaften impliziert, impliziert sie damit nicht deren Irreduzibilität. Insofern ist mit der prinzipiellen Unvorhersagbarkeit einer systemischen Eigenschaft durchaus de-ren Reduzierbarkeit auf das Verhalten der Bestandteile des Systems, das sie hat, verträglich.

Die obenstehende Abbildung stellt die logischen Beziehungen dar, die zwischen den einzelnen Spielarten des Emergentismus bestehen: Der schwache diachrone Emergentismus entsteht aus dem schwachen Emergentismus durch Hinzufügen der zeitlichen Dimension in Form der Neuartigkeitsthese. Beide Versionen sind mit dem reduktiven Physikalismus kompatibel. Schwache Emergenztheorien finden derzeit vor allem in konnektionistischen Netzen sowie in Theorien der Selbstorganisation Verwendung. Der synchrone Emergentismus, der aus dem schwachen Emergentismus durch Hinzufügen der Irreduzibilitäts these hervorgeht, feiert in der zeitgenössischen Qualia-Debatte eine Renaissance. Diese Theorie ist nicht mehr mit dem reduktiven Physikalismus verträglich. Der starke diachrone Emergentismus unterscheidet sich nur unwesentlich durch die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension in Form der Neuartigkeitsthese vom synchronen Emergentismus. Dagegen ist der Strukturemergentismus völlig unabhängig vom synchronen Emergentismus und entsteht aus dem schwachen diachronen Emergentismus durch Hinzufügen der These der Strukturunvorhersagbarkeit. Obwohl er die prinzipiellen Prognosegrenzen physikalistischer Ansätze betont, ist er mit dem reduktiven Physikalismus vereinbar und insofern schwächer als der synchrone Emergentismus. Die Theorie des determinierten Chaos kann als eine moderne Form des Strukturemergentismus aufgefasst werden. Ebenso ist seine Perspektive für die Evolutionsforschung von Bedeutung. Theoretisch interessant sind vor allem der schwache Emergentismus, der synchrone Emergentismus sowie der diachrone Strukturemergentismus.

Qualia-Debatte, der Synergetik und dem Konnektionismus

In der neueren Qualia-Debatte haben u.a. Jackson, Levine und Chalmers gegen die Reduzierbarkeit phänomenaler Qualitäten argumentiert. Sind ihre Argumente erfolg- reich, so scheinen sie emergenztheoretische Positionen zu implizieren.

Nach Levine haben Eigenschaftserklärungen, die reduktiv sind, in zwei Schritten zu erfolgen: In einem ersten, quasi-apriorischen Schritt muss die zu reduzierende systemische Eigenschaft adäquat "präpariert" werden. Dazu ist es erforderlich, die für sie charakteristische kausale oder funktionale Rolle zu identifizieren, für die man dann in einem zweiten, empirischen Schritt auf der Ebene der Systemkomponenten diejenigen Mechanismen ausfindig machen muss, die jene Rolle ausfüllen.

Die zentrale Frage ist daher, ob Qualia in der für reduktive Erklärungen angemessenen Weise funktionalisiert werden können, oder ob sie sich solchen Funktionalisierungen widersetzen. Levine und neuerdings auch Kim sind eher skeptisch. Denn Qualia scheinen einfach nicht zu den Entitäten zu gehören, die erfolgreich für reduktive Erklä- rungen präpariert werden können. Offenbar können sie nicht vollständig über kausale Rollen individuiert werden. Wenn sie sich aber nicht adäquat behavioral oder funktional analysieren lassen, dann sind sie aufgrund ihrer Unanalysierbarkeit irreduzibel und emergent. Es läge dann diejenige Form des synchronen Emergentismus vor, die - ungeachtet einer weit verbreiteten Annahme - zwar keine abwärts gerichtete Verursachung impliziert, phänomenale Qualitäten aber womöglich als Epiphänomene betrachten müsste.

Die Synergetik - die "Lehre vom Zusammenwirken" - thematisiert ein originär emergentistisches Problem: die Entstehung neuartiger Systemeigenschaften. Dabei ist sie insbesondere mit den qualitativen Veränderungen im Verhalten von Systemen befasst, die durch Veränderungen spezifischer Kontrollparameter instabil geworden sind. Ihren Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass es sowohl in der unbelebten als auch in der belebten Natur zahlreiche Systeme gibt, die spontan und von allein - also selbstorganisierend - neue Strukturen ausbilden. Als geradezu klassische Beispiele gelten z. B. das Auftreten des gegenüber dem Lampenlicht völlig neuartigen Laserlichts oder die Strukturbildung beim Schleimpilz. Diesen und anderen Beispielen ist gemeinsam, dass - angeregt durch zum Teil nur kleine externe Veränderungen der jeweiligen Kontrollparameter - instabile Zustände entstehen, aus denen sich in Selbstorganisationsprozessen neue Strukturen ausbilden, die häufig über qualitativ neue Eigenschaften verfügen - ein Thema, das von Beginn an im Zentrum emergenz-theoretischer Überlegungen stand.

Die Synergetik hat sich nun die Aufgabe gestellt, diejenigen Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, die der Selbstorganisation solch verschiedener Systeme zugrunde lie-gen, die herkömmlicherweise von ganz un-terschiedlichen Wissenschaften wie der Physik, der Chemie oder der Biologie unter- sucht werden. Wie die Emergenztheorien ist die Synergetik dabei von einer naturalisti- schen Grundhaltung geprägt: Sie geht davon aus, dass die Prozesse, die zu neuen Strukturen führen, durch das komplexe Zusammenwirken der Systembestandteile und nicht durch externe Ordner oder "über-natürliche" Entitäten ausgelöst werden. Im Unterschied zu den Emergenztheorien be-hauptet die Synergetik jedoch, die Entstehung der neuen Strukturen und die damit einhergehenden Eigenschaften aus dem Zu-sammenwirken der Teile erklären und auch prognostizieren zu können. Insofern sind aus ihrer Sicht weder die neu entstehenden Strukturen als strukturemergent noch die von diesen instantiierten Eigenschaften als synchron emergent aufzufassen.

Im letzten Jahrzehnt ist der konnektionistische Ansatz in den Kognitionswissenschaften in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Dessen Kernidee ist die Annahme eines Netzwerkes elementarer Einheiten, die einen gewissen Aktivitätsgrad haben. Die Einheiten sind untereinander vernetzt, aktive Einheiten, d. h. solche, deren Aktivitätsgrad über einem bestimmten Wert liegt, können andere Einheiten aktivieren oder hemmen. Das Netzwerk wird in der Regel als ein dynamisches System aufgefasst, in dem die durch Inputs angeregten Einheiten entsprechend ihrer (gewichteten) Verbindungen auf andere Einheiten hemmend oder verstärkend wirken.

Jedes konnektionistische Netz wird durch drei Komponenten wesentlich bestimmt: (a) durch die Anzahl der Einheiten und die zwischen diesen bestehenden gerichteten Verbindungen; (b) durch die Funktion, nach der die Aktivität einer Einheit berechnet und bestimmt wird; und (c) durch die Re-gel, nach der sich das Gewicht der Ver-bindungen verändert. Die jeweils fest gewählten Einheiten und die zwischen diesen festgelegten Verbindungen bilden gewissermaßen das "Skelett" eines Netzwerks; dieses ist statisch: Weder verändert sich die Anzahl der Einheiten, noch verändert sich die Struktur ihrer Verbindungen. Die eigentliche Dynamik eines Netzes ergibt sich aus dessen Möglichkeit, die Gewichte der zwischen den Einheiten bestehenden Verbindungen zu modifizieren.

Durch diesen fortwährenden Anpassungsprozess findet das statt, was aus makro- skopischer Perspektive als ein Lernvorgang bezeichnet werden kann. Ein konnektionistisches Netz "lernt" daher durch die (lokal determinierten) Veränderungen der Gewichte der zwischen seinen Einheiten bestehenden Verbindungen und nicht etwa dadurch, dass einige Propositionen zu seiner Datenbasis hinzugefügt werden. Eine große Herausforderung für die konnektionistische Forschung besteht darin, Netze zu konstruieren, die durch geeignete Optimierungsverfahren die Gewichte ihrer internen Verbindungen in einer "Trainingsphase" von selbst so ändern können, dass sie vorgegebene Outputs liefern. Nach dieser Phase werden nur noch die Inputvektoren eingegeben und das Netzwerk berechnet (bei meist stabilen Gewichten) die Outputs: seine "Antworten". Die größten Leistungen erbringen konnektionistische Netze in der Mustererkennung und der Generalisierung (dem Erwerb von Regeln und dem Aufbau von Schemata).

Die Eigenschaften und das Verhalten konnektionistischer Netze geben auf mehrfache Weise zu emergenztheoretischen Überlegungen Anlass. Drei Aspekte sind besonders zu unterscheiden: Erstens haben konnektionistische Netze offenbar systemische Eigenschaften, also Eigenschaften, die ihre Bestandteile nicht haben. Da diese aber nicht irreduzibel sind, sondern vollständig aus den Eigenschaften der Einheiten, den Eigenschaften der Verbindungen und der Struktur des Netzes abgeleitet werden können, sind die systemischen Eigenschaften eines Netzes nur in einem schwachen Sinne emergent; sie sind nicht synchron emergent.

Zweitens erwerben konnektionistische Systeme während der Lernphase - in einem gleichsam "mini-evolutionären" Prozess - ihre "weichen" Strukturen: darunter verstehe ich die spezifische Verteilung der Gewichte der Verbindungen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen echten Fall von Strukturemergenz: Die Gewichtsverteilung folgt nicht nur deterministischen Prinzipien, die Veränderungen der Gewichte lassen sich sogar genau berechnen, wenn die Lernregel, die Aktivitätsformel, die Aktivitätswerte der Einheiten, die zufällig gewählten Anfangs- gewichte sowie die Inputs bekannt sind.

Drittens sind konnektionistische Architekturen im Unterschied zu vielen anderen Systemen ausgesprochen plastisch. Viele systemische Netzeigenschaften entwickeln sich bei geeigneten Stimuli der Netze von selbst oder treten erst während des Verar- beitungsprozesses vorübergehend in Erscheinung. Solche Sachverhalte werden - wie eingangs erwähnt - im Englischen ebenfalls zutreffend als "emergent" bezeichnet - allerdings im alltagssprachlichen Sinne. Eine spezifische Theorie der Emergenz ist damit nicht verbunden.

Fazit

Für die derzeitige Debatte wichtig sind der schwache, der synchrone sowie der diachrone Emergentismus. Unter Naturwissenschaftlern stößt jedoch vor allem die Position des synchronen Emergentismus auf unverhohlene Skepsis. Oft wird verlangt, diese "Theorie" durch die Angabe einschlä- giger Beispiele zu rechtfertigen. Ein Verweis auf Qualia oder phänomenale Bewusst- seinserlebnisse wird aber selten akzeptiert, da sich gerade diese Phänomene einer rein naturwissenschaftlich ausgerichteten For- schung entzögen. Nun ist aber höchst bestreitbar, dass nur solche Phänomene als emergente Entitäten in Frage kommen könnten, die der naturwissenschaftlichen Forschung zugänglich sind. Denn für Philosophen stellt die Frage nach dem Status der phänomenalen Qualitäten auch dann noch ein seriöses Problem dar, wenn diese als solche einer naturwissenschaftlichen Betrachtung unzugänglich bleiben sollten. Darüber hinaus spielt der synchrone Emer- gentismus innerhalb der Philosophie des Geistes eine wichtige konzeptuelle Rolle bei der Unterscheidung verschieden starker nicht-reduktiv physikalistischer Positionen bzw. bei deren Abgrenzung von eigenschaftsdualistischen Theorien. Daher spricht nichts für einen vorschnellen Verzicht auch schon der exakten Formulierung der starken Position. Viel eher mag man sich fragen, weshalb der Begriff der Emergenz in seiner schwachen Form ein derart großes Interesse hervorgerufen hat. Wie die Diskussion des Emergenzbegriffes im Konnektionismus und in der Synergetik zeigt, sind alle der in diesen beiden Bereichen als emergent charakterisierten Eigenschaften zumindest im Prinzip auf die Eigenschaften der Bestand- teile und die Mikrostruktur ihres jeweili- gen Trägers zurückführbar und insofern nur schwach emergent. Der Sache nach angemessener und weniger konnotativ belastet wäre es deshalb, hier nicht von emergenten, sondern - etwas schlichter - nur von systemischen oder kollektiven Eigenschaften zu sprechen.

 

Autor

Achim Stephan: Gastprofessor für Philosophie am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm (Stand: 1/2000). Von ihm ist erschienen: Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation (Dresden University Press).