Paul Feyerabend - ein postmoderner Philosoph?

 

Paul Feyerabend wurde 1924 in Wien geboren und wuchs dort in wenig begüterten Verhältnissen auf. Nach dem Abitur im Frühjahr 1942 wurde er zunächst in den Arbeitsdienst und Ende 1942 in die Armee eingezogen. Nach verschiedenen Fronteinsätzen wurde er im Januar 1945 von einer Maschinengewehrkugel in der Wirbelsäule getroffen und war seitdem unterhalb der Hüfte gelähmt. Ab 1946 studierte er in Wien, zunächst Geschichte und Soziologie, dann Physik, Mathematik und Astronomie. 1948 lernte er Karl Popper kennen, mit dem ihn zunächst eine Freundschaft verband, von dem er sich aber in späteren Jahren mit immer polemischeren Tönen abwandte. Nach dem Diplom in Astronomie promovierte Feyerabend 1951 zum Doktor der Philosophie. 1952 verliess Feyerabend Wien, um bei Popper in London zu studieren, kehrte aber 1953 wieder nach Wien zurück, nachdem er Poppers Angebot auf eine Assistentenstelle abgelehnt hatte. 1955 erhielt er eine Stelle in Bristol. 1958 nahm Feyerabend eine Einladung als Gastprofessor an die University of California in Berkeley an; 1959 erhielt er hier eine permanente Stelle. In den 60er und 70er Jahren wurde Feyerabend in der philosophischen Zunft sehr bekannt, was sich in einer großen Zahl von Rufen niederschlug: nach Atlanta, Auckland, Berlin, Brighton, Freiburg, Hamburg, Kassel, London, Oxford und Yale. Zeitweise unterrichtete Feyerabend je ein Semester in Berkeley und je eines in London, und von London aus pendelte er zusätzlich einmal wöchentlich per Flugzeug nach Berlin, um dort zu lehren. 1975 erschien Feyerabends Against Method: Outline of an anarchistic theory of knowledge, das ihn weit über die Grenzen der Wissenschaftsphilosophie hinaus berühmt mach-te. Von 1980 bis 1990 unterrichtete Feyerabend im Herbstsemester jeweils in Berkeley und im Sommersemester an der ETH Zürich. Er starb 1994, kurz nach seinem 70. Geburtstag, an einem Hirntumor.

Es ist immer wieder behauptet worden, Paul Feyerabend sei ein postmoderner Philosoph gewesen. Damit kann dreierlei gemeint sein: Feyerabend sei ein postmoderner Philosoph im Sinne seiner Rollenausfüllung als Philosoph gewesen, oder im Sinne seiner Wirkung oder - falls damit eine Differenz besteht - im Sinne seiner Lehre. Der bis vor kurzem in Konstanz lehrende Schweizer Soziologe Kurt Lüscher hat empfohlen, Postmoderne als eine "allgemeine heuristische Hypothese" aufzufassen". "Postmoderne" ist demnach primär eine Sonde, mit der man soziale Tatsachen darauf abtasten kann, ob sie "im Kern auf gesellschaftliche Verwerfungen hinweisen, welche die Möglichkeit akuter Umbrüche beinhalten". Auf derartige Verwerfungen deuten insbesondere die Erfahrung und Erkenntnis inhärenter Widersprüche hin, die von der Modernisierung selbst produziert werden und die daher "die künftige gesellschaftliche Entwicklung im Sinne einer kontinuierlichen Entfaltung ihrer traditionellen, institutionellen Grundlagen" in Frage stellen. Ich untersuche nun hinsichtlich der oben genannten drei Bedeutungen, ob Paul Feyerabend ein postmoderner Philosoph gewesen ist.

Feyerabends (postmoderne?) Rolle als Philosoph

Feyerabend war in vielerlei Beziehung ziem-lich unkonventionell, und hiermit beginne ich mich seinem Rollenverständnis als Philosoph zuzuwenden. Insbesondere akademische Üblichkeiten missachtete er vielfach, teilweise in bewusster Provokation. Das lag daran, dass sich seine persönliche Wertehierarchie in etlichen Hinsichten von typischen Wertehierarchien von Akademikern unterschied: Er war immer wieder bereit, typisch akademische Werte seinen persönlichen Präferenzen unterzuordnen. So widerrief er z.B. seine Annahme einer Stelle am Minnesota Center for the Philosophy of Science, das er sehr schätzte, mit der Begründung, er könne auf seine Gesangslehrerin in San Francisco nicht verzichten. Durchaus potentiell interessante und anregende Diskussionen konnte er ausschlagen, wenn im Fernsehen ein Krimi kam, den er sehen wollte. Ein Treffen mit Heidegger, das ein gemeinsamer Bekannter arrangieren wollte, lehnte er ab – einfach so. Seine Probevorlesung an der ETH Zürich beendete er damit, dass er seinen Schal wie ein Lasso über dem Kopf schwang und verkündete, er sei jetzt müde und hungrig und gehe nach Hause. Bei Einladungen zu Vorträgen, die er angenommen hatte, mussten die Veranstalter bis ganz kurz vor seinem Auftritt damit rechnen, dass sie noch eine Absage bekamen (die ihren Grund allerdings nicht nur in einer Laune, sondern auch in großen Schmerzen haben konnte, die von seiner Kriegsverletzung herrührten). Etwa ein Drittel seiner Vorlesungen in Berkeley hat er ausfallen lassen. Das Benotungsrecht ist ihm temporär entzogen worden, weil er fast nur Sechser vergab. Attraktive Studentinnen erhielten immer eine Vorzugsbehandlung, in vielerlei Hinsicht. Als unstet und unzuverlässig, eben auch persönlich als einen Anarchisten, konnte man ihn sehen. Einmal begründete Feyerabend eine äusserst kurzfristige Vortragsabsage damit, dass ihn eine kritische Rationalistin ins Bett argumentiert habe und es ihm daher unmöglich sei zu kommen. Während seiner Zeit an der ETH Zürich hatte er weder ein Büro, noch eine Sekretärin noch feste Assistentenstellen. In Berlin dagegen hatte er seiner eigenen Schilderung nach zwei Sekretärinnen und 14 Assistenten, wobei er immer sofort hinzufügte, dass zwei davon wegen ihres revolutionären Engagements von der Polizei gesucht waren. Auch seine Schriften sind, allein was die Form der Darstellung angeht, voller Elemente, die man sonst nicht in akademischen Traktaten findet, und mit denen der Autor signalisiert, dass er sich in einer gewissen Distanz zu der Tradition befindet, in der er sich doch bewegt; je nach eigenem Standpunkt wirken diese Abweichungen und Ausfälle erheiternd oder deplaziert.

Aufgrund seiner Exzentrizität ist Feyerabend von Legenden umgeben. So steht beispielsweise in zwei seriösen amerikanischen biographischen Nachschlagewerken, dass Feyerabend 11 Kinder gehabt hätte - er hatte überhaupt keine und konnte auch keine haben. Ich weiß nicht, wie diese Angabe entstanden ist, denkbar ist jedenfalls, dass Feyerabend sie in einer Laune selbst plaziert hat (vielleicht um anzudeuten, dass solche höchst abstrakten Angaben nicht sonderlich informativ, geschweige denn relevant sind). Im Buch Bluff Your Way in Philosophy von Jim Hankinson ist zu lesen, dass Feyerabend seine Vorlesungen an der London School of Economics damit beendet habe, dass er aus dem Fenster sprang (glücklicherweise Parterre), sich auf ein schweres Motorrad schwang und davonbrauste – keine schlechte Leistung für jemanden, dessen Beine gelähmt waren.

Von seinen Schriften her konnte und kann man leicht den Eindruck bekommen, dass Feyerabend arrogant und bisweilen jenseits des guten Geschmacks aggressiv war, ja, dass er Allüren einer Primadonna hatte. Tatsächlich deckte sich der Eindruck, den man von Feyerabend aufgrund seiner Schriften bekommen kann, für viele überhaupt nicht mit dem Eindruck, den sie von ihm aufgrund persönlicher Begegnungen hatten. Feyerabend war für viele eine ausserordentlich faszinierende Persönlichkeit. Er konnte sich hervorragend auf seine Gesprächspartner einstellen, insbesondere, wenn es sich um Freunde handelte. Das geht so weit, dass man bei der Lektüre seiner Briefwechsel mit verschiedenen Partnern fast den Eindruck bekommen kann, man habe es bei den Briefschreibern mit dem Namen Feyerabend mit unterschiedlichen Personen zu tun. Feyerabend hat sich selbst als einen lange Zeit relativ ungefestigten Charakter gesehen, der daher ziemlich leicht beeinflussbar war. Der Philosoph Imre Lakatos soll diesen Zug seines Freundes Feyerabend so kommentiert haben: "Paul, everybody loves you, you have no character." Feyerabend war ironisch und humorvoll, und immer bereit, freundschaftlich zu provozieren oder auf Wienerisch: zu ,pflanzen‘. Die persönlichen Lebensumstände seiner Gesprächspartner interessierten ihn meist mehr als ihre intellektuellen Leistungen. Er konnte ausserordentlich hilfsbereit sein, sowohl im institutionellen als auch im persönlichen Bereich, und dies trug mit zu seiner sehr warmen Ausstrahlung bei. Jungen Leuten oder wissenschaftlichen Aussenseitern, die mit Bitten an ihn gelangten, versuchte er nach Maßgabe seiner Möglichkeiten zu helfen. Seine persönliche Unabhängigkeit bedeutete ihm ausserordentlich viel; sie ist eine der Wurzeln seiner Unkonventionalität. Feyerabend war per Telephon unerreichbar, weil er es normalerweise nicht abnahm; nur seine engsten Freunde kannten den Klingelcode, auf den er reagierte. Dagegen führte er eine umfangreiche Korrespondenz; er beantwortete praktisch jeden Brief, vielfach auf handgeschriebenen Postkarten. Briefe, die er gelesen und beantwortet hatte, warf er in der Regel weg, ungeachtet des Absenders, auch wenn es ein Nobelpreisträger war.

Feyerabend ging jegliche Einbildung ab. Er, ein Theater- und Opernliebhaber und eigentlich auch selbst ein Schauspieler, trumpfte niemals mit etwas auf, weder seinem enormen Lesepensum, seinem Wissen, seinem internationalen Erfolg oder seiner Intelligenz; er schien durch solche Dinge unkorrumpierbar zu sein; Feyerabend kreidete dagegen Popper sehr an, dass dieser sich durch seinen Erfolg stark verändert habe. Akademische Angeberei war Feyerabend ein Greuel. Den Anspruch auf Originalität seiner Arbeiten hat er ohne Koketterie zurückgewiesen. Besonders die letztgenannten Eigenschaften zeigen einen markanten Kontrast zur durchschnittlichen Rollenausfüllung bzw. Rollenzelebrierung deutschsprachiger Professoren – nicht nur der Philosophie.

Die an den Universitäten unruhige zweite Hälfte der 60er Jahre erlebte Feyerabend vor allem in Berkeley und Berlin; die Erfahrungen, die er dort machte, trugen zu einer deutlichen und reflektierten Distanzierung von seiner Berufsrolle bei. Als mehr und mehr Angehörige von Minoritäten als Resultat der Bildungspolitik an die Universität kamen, sah Feyerabend die ihm zugedachte Rolle als Universitätslehrer als die eines intellektuellen Imperialisten, der ungeachtet des kulturellen Hintergrunds seiner Studierenden Inhalte vermitteln sollte, die keineswegs einen berechtigten Anspruch auf Universalität hatten. Vielmehr handelte es sich in Feyerabends Sicht um etwas, was eine ganz bestimmte Kultur, nämlich die des weißen Mannes, als (wissenschaftliche) Rationalität ansah: Verfahren, die insbesondere durch ihre Abstraktheit charakterisiert sind, wie sie vor allem in der Verwendung abstrakter Begriffe zum Ausdruck kommt. Entsprechend sah Feyerabend in der Erleichterung des Hochschulzugangs für Angehörige von Minoritäten keineswegs einen Akt, der die Chancengleichheit realisierte. Vielmehr zementierte diese Bildungspolitik die Vorherrschaft einer ganz bestimmten Kultur, insbesondere ihres Wissenschafts-, Technik-, Politik-, Gesellschafts-, Medizin- und Naturverständnisses. Eine wirklich umfassende Überprüfung der unterstellten Überlegenheit dieser Kultur aber habe nicht stattgefunden. Feyerabend zog zwei Konsequenzen aus dieser Einschätzung. Einmal organisierte er seine Lehre so, dass in ihr die Erfahrungen anderer Kulturen und die von Subkulturen der eigenen Kultur möglichst authentisch zu Sprache kommen sollten. Zum anderen begann er sich intensiv mit dem ,Aufstieg des Rationalismus‘, wie er es nannte, zu beschäftigen: mit der Entstehung und Verbreitung von abstrakten Verfahren und Begriffen, wie sie im alten Griechenland begann.

Auch in vielen inhaltlichen Aspekten kommt Feyerabends unkonventionelle Auffassung seiner Berufsrolle zum Ausdruck. So hat er es weit von sich gewiesen, ein Philosoph zu sein. In Against Method – ich komme noch ausführlicher darauf zu sprechen – sagt Feyerabend:

"Man habe stets vor Augen, dass meine Demonstrationen und meine Rhetorik keinerlei ‘tiefe Überzeugung’ ausdrücken. Sie zeigen lediglich, wie leicht es ist, die Menschen im Namen der Vernunft an der Nase herumzuführen. Ein Anarchist [das ist die Rolle Feyerabends in seinem Buch], ein Anarchist ähnelt einem Geheimagenten, der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben."

Qualifiziert nun all das Gesagte Feyerabend hinsichtlich der Ausfüllung seiner Berufsrolle als einen postmodernen Philosophen? Dafür sprechen einmal die augenfälligen Parallelen zur Berufsrollenausfüllung postmoderner Künstler, wie sie Kurt Lüscher am Beispiel Cindy Shermans prägnant dargestellt hat. Während Lüscher aber die inhaltlichen Aspekte des künstlerischen Werks selbst in den Vordergrund rückt, möchte ich den Akzent auf das Verhältnis der Künstlerin zu ihrem Werk legen; darin kommt der postmoderne Charakter dieser Werke vielleicht noch stärker zum Ausdruck als in ihrem Inhalt allein. Ich meine damit die auf den ersten Blick bestehende Einebnung der Differenz von Berufsrolle und dem konkreten Individuum, das diese Rolle ausfüllt. Auf den zweiten Blick sieht man natürlich, dass dieses Einbringen Bestandteil einer inszenierten Darstellung ist und damit womöglich als ein gewandeltes Rollenverständnis beschrieben werden kann. Auf ähnliche Weise verschwindet bei Feyerabend der Autor nicht hinter dem philosophischen Traktat, sondern er zeigt sich im Text, wenn auch in vielfältigen Aspekten und Brechungen; die Differenz zwischen der Rolle des philosophischen Autors und der Person Feyerabend ist tendenziell eingeebnet. Auch Feyerabends Autobiographie ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. Schon der Titel Killing Time bzw. Zeitverschwendung lässt nicht an die Autobiographie eines ausserordentlich einflussreichen Wissenschaftsphilosophen (der an der ETH gelehrt hat!) denken. Ebenfalls erwartet man nicht unbedingt ausführlichste Schilderungen von Opernbesuchen, von diversen Liebschaften, der Tatsache, dass seine Kriegsverletzung ihn impotent gemacht hat und als Bildunterschrift eines Bildes, das ihn beim Geschirrspülen zeigt: "Der Philosoph bei der Arbeit". Schon früher posierte er gern vor dem riesigen King-Kong-Poster, das in seinem Haus in Berkeley aufgehängt war, und statt seiner Photographie erhielten einmal die Herausgeber eines Sammelbandes sein Horoskop.

Ist man skeptisch bezüglich der heuristischen Leistung einer Diagnose Postmoderne, so wird man geltend machen, dass Feyerabend lediglich ein Exzentriker war, ein spleeniger Typ – eben ein enfant terrible der Wissenschaftstheorie, wie er genannt wurde. Die traditionellen, modernen Rollenvorstellungen seien nach wie vor in Geltung, aber es sei in diese Vorstellungen miteingebaut, dass Leute von aussergewöhnlicher Kreativität es mit diesen Rollen nicht so genau nehmen müssten. So habe auch Einstein Photographen die Zunge herausgestreckt und sei zu offiziellen Anlässen ohne Strümpfe erschienen, ohne damit aber die Postmoderne für das Rollenverständnis von Physikern eingeläutet zu haben.

Diese Alternative zwischen moderner Unkonventionalität und Postmoderne lässt sich nicht einfach entscheiden. Für eine solche Entscheidung würde man eine Abgrenzung des modernen von einem postmodernen Rollenverständnis benötigen. Ich weiß nicht, ob diese Abgrenzung mit der nötigen Trennschärfe entwickelt worden ist. Ich verlasse daher diese mögliche Lesart der Postmodernität eines Philosophen und wende mich der nächsten zu, der Frage, ob Feyerabend durch seine Wirkung zum Phänomen der Postmoderne beigetragen hat.

Feyerabends Wirkung auf die Postmoderne

Ich beginne mit dem inhaltlichen Aspekt. Feyerabend hat in seiner sogenannten anarchistischen Wissenschaftstheorie (ich komme auf diesen Terminus zurück) den Slogan aufgestellt: "Anything goes!" oder in der deutschen Übersetzung: "Mach, was Du willst!". "Anything goes" ist übrigens der Refrain eines Cole Porter-Songs und der Titel eines Theaterstücks, woher Feyerabend den Ausdruck auch hat. Dieser Satz ist, einer verbreiteten Meinung gemäß, für die Postmoderne sehr bedeutsam. Warum ist das so? Gemäß dem üblichen Verständnis dieses Satzes wird mit ihm die vollkommene Beliebigkeit der Forschung propagiert. Wenn man eine gewisse eingleisig-eindeutige Ausrichtung als ein Kennzeichen der Moderne ansieht, hier die strenge Reglementierung der Forschung durch die wissenschaftlichen Methode, dann ist die Aufforderung zur Beliebigkeit in der Wissenschaft sicher postmodern. Denn wenn schon in den Wissenschaften Pluralität und Beliebigkeit angesagt und eine monokulturelle Ausrichtung von Übel ist, dann wohl mit umso größerem Recht auch in anderen Bereichen der Kultur. Die große Bedeutung Feyerabends für die Postmoderne bestünde also darin, dass er anscheinend einen für die Postmoderne vielleicht als uneinnehmbar geltenden Bereich der Kultur, nämlich die Naturwissen-schaften, als in ihrem Kern postmodern dargestellt hat, und zwar sowohl bezogen auf ihre Vergangenheit und Gegenwart als auch auf ihre wünschbare Zukunft.

Nun zu den Darstellungsaspekten, also zu der Art und Weise, wie Feyerabend seine Inhalte dargestellt hat. Ich entnehme die Charakteristika der postmodernen Darstellungsweise wieder Lüschers Arbeit. Einmal gibt es da eine Vielfalt des unvermittelten Nebeneinander: "Pastiche", "juxtaposition"; dem korrespondiert bei Feyerabend, dass er über Against Method sagt: "Es ist kein Buch, sondern eine Collage". Zu diesem Collage-Charakter passt auch der in der Postmoderne deklarierte Abschied von den großen Erzählungen. Allerdings muss man hier gleich hinzufügen, dass Feyerabend Derrida nicht besonders mochte, weil dieser trotz aller seiner guten Intentionen nicht einmal eine Story erzählen könne. Postmodern gibt es bei Cindy Sherman ein Verwirrspiel mit ihren Selbstbildern, mit dem sie ihre Reputation als Künstlerin begründet. Wie schon früher gesagt, ist Feyerabend in seinem Buch ein Anarchist, und der ähnelt einem Geheimagenten, der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben. Für die Postmoderne gilt, dass ihre Themen oft mit großer Militanz behandelt werden. Für Feyerabend gilt Ähnliches, wenn er beispielsweise Kollegen als Analphabeten oder Nagetiere bezeichnet, denen er professionalisierte Inkompetenz vorwirft oder wenn er sagt, Popper sei kein Philosoph, sondern ein Pedant – deshalb liebten ihn die Deutschen so. All dies ist im Druck erschienen und liesse sich problemlos vermehren. Und als Letztes gilt bei Lüscher als Kennzeichen der Postmoderne, dass Zeichen für Zeichen stehen, die auf Zeichen verweisen, die wiederum auf Zeichen verweisen usw. Hier ist das Titelblatt der ersten Auflage von Wider den Methodenzwang einschlägig, wo bereits der Untertitel des Buchs eine Fußnote enthält, in der auf weitere Fußnoten im Text des Buchs verwiesen wird.

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Feyerabend durch seine Wirkung auf zweierlei Weise zum Phänomen der Postmoderne beigetragen hat. Allem Anschein nach hat er erstens einen scheinbar postmodern-immunen Kulturbereich als im Kern postmodern dekuvriert, was vermutlich eine nicht unbeträchtliche Ermutigungswirkung für postmodernes Denken auch in anderen Bereichen hatte. Zweitens ist auch die Darstellungsweise Feyerabends unzweifelhaft von postmodernen Stilelementen durchsetzt.

Feyerabends Lehre - postmodern?

Nun wäre dieser Artikel an dieser Stelle eigentlich zu Ende, wenn die diskutierte Wirkung Feyerabends seiner Lehre entsprechen würde, wenn also das gängige Verständnis von "Anything goes" wirklich das wäre, was Feyerabend gemeint und begründet hat. Dies aber, so meine Behauptung, ist nicht der Fall. Was aber bedeutet dann dieses "Any-thing goes" bei Feyerabend? Dazu muss ich etwas mehr über Feyerabends berühmtestes Buch sagen, über Against Method: Outline of an anarchistic theory of knowledge, erschienen 1975.

In diesem Buch reitet Feyerabend eine scharfe Attacke gegen das geläufige Verständnis der modernen Naturwissenschaft, und zwar sowohl in theoretischer Hinsicht, nämlich in Bezug auf den Wissenscharakter der neuzeitlichen Wissenschaft, als auch in praktischer Hinsicht, nämlich ihre politische Rolle in der modernen Gesellschaft. In theoretischer Hinsicht ist das Ziel von Feyerabends Attacke das dominante Fremd- und Selbstverständnis von Wissenschaft, das die besondere Qualität des wissenschaftlichen Wissens auf die strikte Verwendung bestimmter Regeln der Wissenschaftsausübung zurückführt. Dieses Verständnis von Wissenschaft hatte die neuzeitlichen Naturwissenschaften von Anbeginn begleitet, und es geht im Grundsätzlichen bis in die griechische Antike zurück. (Strikte) Regeln zur Erreichung eines bestimmten Zieles werden "Methoden" genannt, die Regeln der Wissenschaftsausübung entsprechend "wissenschaftliche Methoden" oder summarisch "die wissenschaftliche Methode". Die Existenz solcher bindender wissenschaftlicher Methoden war es, die Feyerabend in seinem Buch bezweifelte; daher dessen Titel Against Method und sein Untertitel, der den Begriff des "Anarchismus" enthält: Anarchismus als Gegenthese zur unbedingten Herrschaft einer oder mehrerer Methoden.

Das Buch hat eigentlich zwei Teile: einen längeren, theoretischen und wissenschaftshistorischen, in dem die Hauptthese des Buches erläutert und begründet wird, und einen wesentlich kürzeren praktischen, in dem die politischen Konsequenzen der Hauptthese gezogen werden. Die Hauptthese von Against Method besagt, dass Wissenschaft weder ein Unternehmen ist, dessen Spezifik durch das Befolgen bindender methodischer Anweisungen zustandekommt, noch dass sie ein solches Unternehmen sein kann und demgemäß also auch nicht sein soll. Mit dieser These wird keineswegs behauptet, dass Wissenschaft ein Unternehmen ist, ist dem man ganz nach Lust und Laune beliebig vorgehen kann, wie es einem gerade passt. Vielmehr wird nur gesagt, dass es kein Unternehmen ist, dass sich durch das Befolgen absolut bindender Regeln charakterisieren lässt, wie das beispielsweise Descartes in seinem Discours de la Méthode verlangt. Die Existenz von methodischen Anweisungen in der Wissenschaft und auch ihr (begrenzter) Erfolg wird damit keineswegs geleugnet. Behauptet wird nur, dass man solchen Anweisungen in der Wissenschaft de facto nicht sklavisch folgt und auch nicht folgen soll. Es gibt immer wieder Situationen, in denen man eine bislang fruchtbare methodische Regel übertreten muss, will man den Erkenntnisfortschritt nicht hemmen. Ganz nüchtern formuliert behauptet Feyerabend also lediglich die beschränkte Gültigkeit methodologischer Regeln.

Aber wie verträgt sich diese ziemlich moderate Ansicht mit dem anscheinend viel radikaleren "Anything goes" bzw. "Mach, was du willst" das Feyerabend für die Wissenschaft auch reklamiert? Hier muss man zu allererst die rhetorische, genauer die ironische Komponente dieses Slogans berücksichtigen. "Anything goes" bzw. "Mach, was du willst" kann eine ironische Antwort an jemanden sein, der insistiert, dass es absolut bindende Regeln der Wissenschaftsausübung geben müsse. Ja, wenn Du insistierst, sagt Feyerabend, dann will ich Dir eine solche Regel angeben, nämlich "Anything goes" bzw. "Mach, was du willst". Damit gibt Feyerabend keinesfalls eine falsche Auskunft, denn diese Regel kann man in der Tat als eine absolut bindende Regel der Wissenschaftsausübung (oder jeglicher sonstiger Praxis) aufstellen, denn sie kann nicht übertreten werden, weil sie leer ist. Die strikte Gültigkeit einer Regel, unabhängig von den konkreten Umständen, unter denen sie angewendet werden soll, wird also mit ihrer absoluten Leere erkauft.

Wie begründet Feyerabend nun die begrenzte Gültigkeit aller methodischer Vorschriften in den Wissenschaften? Eher beiläufig findet man eine abstrakte Begründung. Diese Begründung macht darauf aufmerksam, dass jede methodische Regel zur Erkenntnisgewinnung (oder Erkenntnisüber-prüfung oder -bestätigung) nur relativ zu bestimmten inhaltlichen Annahmen über die Wirklichkeit und ihre Wechselwirkung mit den Erkenntnissubjekten sinnvoll ist, d.h. tatsächlich die von ihr erwarteten kognitiven Leistungen erbringt. Diese Annahmen stehen aber keineswegs unverrückbar fest, sondern sie können sich im Verlauf der Forschung verändern und sie haben sich auch oft genug tatsächlich verändert. Das strikte Festhalten an methodischen Regeln impliziert daher eine Dogmatisierung der ihnen zugrundeliegenden inhaltlichen Annahmen, was die Forschung natürlich behindern und im Extremfall zum Stillstand bringen kann.

Feyerabend legt viel mehr Wert auf eine Begründung seiner Hauptthese, die sich auf historisches Material stützt (insbesondere auf eine sich über viele Kapitel erstreckende Analyse des Vorgehens von Galilei). Die Argumentationsidee dabei ist, für jede vorgeschlagene methodische Regel eine Episode der Wissenschaftsgeschichte zu finden, für die allgemein ein wesentlicher wissenschaftlicher Fortschritt konstatiert wird, in der dieser Fortschritt aber nur durch Verletzung der jeweiligen Regel möglich war. Feyerabend spielt verschiedene solcher Regeln durch, die auf den ersten Blick sehr vernünftig erscheinen, z.B. dass man keine ad hoc-Hypothesen einführen darf, dass neue Hypothesen nicht im Widerspruch zu anerkannten Daten oder anderen anerkannten Theorien stehen dürfen, dass neue Hypothesen im Vergleich zu denen, die sie ablösen sollen, keinen geringeren Gehalt aufweisen dürfen etc. Immer präsentiert er historische Beispiele, bei denen die Verletzung der jeweiligen methodischen Regel die Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt war. Daraus ergibt sich, wie Feyerabend im Anschluss an Einstein feststellt, dass Wissenschaftler in der Perspektive eines an strikten Regeln interessierten Wissenschaftstheore-tikers als "bedenkenlose Opportunisten" erscheinen müssen, die – je nach Situation – etablierten methodologischen Regeln folgen oder sie verletzen.

Im Kern ist Feyerabends Against Method ein Plädoyer gegen die Abstraktheit, insbesondere in der Wissenschaftstheorie. Die Abstraktionen, die er im Auge hat, führen seiner Meinung nicht wirklich zu einem Allgemeinen, unter das die konkreten Fälle tatsächlich subsumiert sind und das in Bezug auf sie auch informativ ist, sondern zu einer irreführenden Verdünnung und Verstümmelung der Fülle des Konkreten. Infolgedessen ist Wissenschaftstheorie als eine akademische Disziplin eigentlich gar nicht möglich. In typisch provokativer Manier lautete Feyerabends rhetorische Titelfrage auf dem 10. Deutschen Kongress für Philosophie in Kiel 1972: "Die Wissenschaftstheorie – eine bisher unerforschte Form des Irrsinns?" Dies deshalb, weil sich die Wissenschaftstheorie auf kognitiv ungesunde Weise weit von der Realität der Wissenschaften entfernt habe, analog dem Realitätsverlust bei manchen Geisteskrankheiten.

Das Ergebnis ist demnach: Feyerabend’s wirkliches "Anything goes" hat mit der Postmoderne im Sinne ihrer Betonung des Beliebigen herzlich wenig zu tun. Ist demnach die Vereinnahmung Feyerabends durch die Postmoderne ein reines Missverständnis, hervorgerufen durch freie Assoziationen zum Slogan "Anything goes"? Tatsächlich ist das nicht der Fall, denn es findet sich bei Feyerabend ein Lehrstück von unzweifelhaft postmodernem Charakter, das aber etwas diffizil und mit keinem Slogan verbunden ist, und vielleicht darum bislang nicht die gebührende Aufmerksamkeit der Philosophen und des Feuilletons gefunden hat. Ich kann dieses Lehrstück hier nur sehr knapp andeuten. Es handelt sich um Feyerabends Vorstellung vom wissenschaftlichen Fortschritt.

Die im 20. Jahrhundert verbreitetste Vorstellung vom wissenschaftlichen Fortschritt besagt, dass dieser Fortschritt in einer additiven Anhäufung neuen Wissens besteht. Zu dem jeweils akzeptierten Wissen werden immer neue Wissensstücke hinzugefügt, ohne dass dabei das bisher akzeptierte Wissen in seiner Geltung angetastet wird, von unwesentlichen Fehlerkorrekturen abgesehen. Diese Fortschrittskonzeption wird "kumula-tiver Wissensfortschritt" genannt. Feyerabend greift diese kumulativen Fortschrittskonzeption frontal an, wenn sie auf fundamentale Theorie angewendet wird. Er bestreitet vehement, dass man von den späteren fundamentalen Theorien generell sagen könne, sie seien besser als ihre Vorgänger. Aber es gibt dennoch wissenschaftlichen Fortschritt, und der besteht darin, dass die Menge der alternativen Theorien zu einem bestimmten Gegenstandsgebiet zunimmt; Feyerabend ist hier ein radikaler Pluralist. Dabei sind diese alternativen Theorien inkommensurabel zueinander, was grob gesagt bedeutet, dass sie fundamental verschiedene Grundannahmen machen. Wissenschaftlicher Fortschritt ist nach Feyerabend die Zunahme der Menge alternativer, aber inkommensurabler Theorien. Diese Vorstellung hat nun definitiv einen postmodernen Charakter, denn der wissenschaftliche Fortschritt besteht dann in der Zunahme von nebeneinanderstehenden und untereinander unvermittelbaren Alternativen, gewissermaßen in erhöhter Differenzierung eines Fleckenteppichs. Es ist das von Lüscher genannte Motiv der juxtaposition, der Vielfalt des unvermittelten Nebeneinander, das bei Feyerabend zum zentralen Element des wissenschaftlichen Fortschritts wird. Insofern kann man durchaus sagen, dass Feyerabends Bild der Wissenschaft wesenlich postmoderne Züge aufweist. Doch zwei Worte der Warnung. Erstens hat dieser radikale Pluralismus nichts mit "Anything goes" in Feyerabends Sinn zu tun, und zweitens geht in diesen Pluralismus der Begriff der Inkommensurabilität ein, der ein notorisch schwieriger Begriff ist; zudem hat sich Feyerabend gegen Ende seines Lebens von diesem Begriff etwas distanziert. - Die Titelfrage, ob Feyerabend ein postmoderner Philosoph ist, lässt sich demnach insgesamt nur postmodern beantworten: Ja und Nein.

Autor

Paul Hoyningen-Huene ist Professor für Philosophie an der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik an der Universität Hannover. Er hat während Feyerabends Zeit an der ETH Zürich ebenfalls in Zürich gelebt und z.T. neben Paul Feyerabend an der ETH gelehrt.