Wittgensteins Schüler

 Die konzentrischen Kreise des Einflusses von Wittgenstein gingen zunächst von Cambridge, dann von Oxford aus, um sich über die ganze englischsprachige Welt, über die skandinavischen Länder und sehr viel später auch über das übrige Europa zu verbreiten. Wollte man eine Darstellung wagen, die Arbeit würde enzyklopädisches Ausmaß annehmen. Eine Übersicht über Wittgensteins wichtigste Schüler zu geben, unternimmt der Wittgenstein-Forscher P.M.S. Hacker im zweiten Teil seines Buches

 Hacker, P.M.S.: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie. 634 S., Ln., € 50.10, 1997, Suhrkamp, Frankfurt.

 Viele von Wittgensteins Schüler haben an verschiedenen philosophischen Institutionen der ganzen Welt Lehrstühle innegehabt. Sie haben vieles von dem, was sie von Wittgenstein gelernt haben, an die nächste Generation weitergegeben, und zwar nicht nur durch ihre Lehrveranstaltungen und Schriften über die Philosophie Wittgensteins, sondern auch durch ihre eigenständigen Arbeiten, die in verschiedener Hinsicht und in verschiedenem Maße von ihm beeinflusst sind.

 Nachdem Wittgenstein auf seinen Cambridger Lehrstuhl verzichtet hatte, wurde G.H. von Wright sein Nachfolger. Obwohl er diese Professur nur drei Jahre innehatte, um dann nach Finnland zurückzukehren, war sein Beitrag zur Wittgenstein-Forschung und zur Philosophie im Sinne Wittgensteins groß. Er stellte den endgültigen Katalog des Wittgenstein-Nachlasses zusammen, bestimmte die Datierung der verschiedenen Manuskript- Bände, Notizbücher, Typoskripte und Diktate sowie die Beziehungen zwischen diesen Texten. Zusammen mit Heiki Nyman redigierte er die „Frühfassung“ der Untersuchungen, rekonstruierte die „Zwischenfassung“, edierte die Schlussfassung der Maschinenschrift und tat den ersten Schritt auf dem Weg der Zurückführung der verschiedenen Bemerkungen der Untersuchungen und der Zettel auf ihre zahlreichen Manuskriptquellen. Die vielen Essays, die von Wright über Wittgenstein geschrieben hat, werfen ein klares Licht auf Wittgensteins Werk. Und von allen Schülern, von deren Werk man behaupten darf, dass es beträchtlich von ihrem Lehrer angeregt wurde, ist von Wright der eigenständigste. Seine nüchterne und klare Schreibweise ist frei von wittgensteinianischem Jargon. In Cambridge begann auch seine lebenslange Auseinandersetzung mit Fragen der deontischen Logik, die praktisch von ihm erfunden wurde.

 Im Gegensatz zum späten Wittgenstein bedient er sich vielfach der formalen Logik, um die von ihm untersuchten Begriffsstrukturen zu erhellen. Insbesondere gilt das für seine Arbeiten zur Präferenzlogik, Normenlogik und Handlungstheorie. Dennoch hat er im Hinblick auf seine Lehrer ausgesagt, er habe am meisten von Wittgenstein gelernt, dieser habe seine Auffassung von Philosophie geformt und ihn „die begriffliche Vielfalt der Situationen, mit denen sich der Philosoph auseinandersetzen muss“, erkennen lassen.

 Aber erst nachdem er auf eigenem Weg in die Nachbarschaft der Gedanken Wittgensteins gelangt war, wurde er sich, wie er selbst feststellt, klar über den Einfluss Wittgensteins und konnte ihn nutzbar machen. Deutlich wurde dies in den zahlreichen Schriften von Wrights über die Erklärung des menschlichen Handelns, zunächst in Explanation and Understanding (1971). Von Wright erklärt das Handeln und dessen verschiedene Formen durch Bezugnahme auf Absichten, Gründe und Motive und bedient sich dabei eines Verfahrens, das auf Wittgensteins bruchstückhaften Vorarbeiten auf diesem Gebiet beruht. Er verficht die Autonomie der intentionalistischen Erklärung und bestreitet, dass sich die Handlungsabsicht vom Handlungsverhalten trennen lässt. Seine Arbeiten leisten einen bedeutenden Beitrag zur Kritik des für den Wiener Kreis und dessen Erben charakteristischen methodologischen Monismus in der Philosophie der Psychologie und zur Klärung der logischen     Eigenart der spezifischen Erklärungsformen menschlichen Handelns. Außerdem haben sie eine gewisse Annäherung bewirkt zwischen neu-wittgensteinianischen Überlegungen zu diesen Themen und der auf Dilthey zurückgehenden hermeneutischen Tradition.

 1952 trat John Wisdom die Nachfolge von Wrights auf dessen Cambridger Lehrstuhl an. Für Wisdom bezeichnend sind seine bewussten Mehrdeutigkeiten, die nachdrückliche Betonung des Fehlens klar umrissener Antworten auf philosophische Fragen, die These, philosophisches Verstehen bestehe in der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen konkurrierenden Analogien sowie seine wohlwollende Einstellung zu metaphysischen Paradoxien. Diese Gedanken rücken ihn in gedankliche Nähe zu Waismann, der zur selben Zeit in Oxford lehrte. Die Nachfolge Wisdoms trat 1970 Elizabeth Anscombe an. Sie war seit 1946 am Sommerville College in Oxford tätig und hatte dort     einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Gedanken Wittgensteins geleistet. Während ihrer Oxforder Zeit schrieb sie ihr erstes Buch - Intention (1957)  - und belebte damit das Interesse an der Analyse des Begriffs der Absicht und des absichtlichen Handelns. Sie erkannte als erste, dass unter Wittgensteins wenigen und mitunter nicht sonderlich klaren Bemerkungen über den Begriff der Absicht und der Handlungsgründe eine Fülle von Einsichten verborgen liegen, welche die  Müßigkeit aller Versuche nahelegen, mit der Angabe von Gründen operierende Handlungserklärungen auf eine Form der nomologischen Handlungserklärung zurückzuführen. Mit ihrem zweiten Buch, einer Einführung in Wittgensteins Tractatus, trug sie dazu bei, das Interesse an Wittgensteins erstem Meisterwerk wieder zu wecken. Mit Anscombes Emeritierung im Jahr 1986 endete die Wittgenstein-Linie in Cambridge.

 In Swansea leistete Rush Rhees, der schon vor dem Krieg Cambridge verlassen hatte, Erhebliches, um das philosophische Institut der dortigen Universität in ein bekanntes Zentrum der Verbreitung wittgensteinianischer Gedanken umzuwandeln. Dies gilt insbesondere für die Philosophie der Religion sowie für Ethik und Psychoanalyse. 1966 ging er in den Ruhestand, er wohnte fortan in London, wo er eine Zeitlang an gemeinsam mit seinem Schüler Peter Winch veranstalteten Seminaren teilnahm. Die von ihm in Zusammenarbeit mit anderen Angehörigen des Swansea-Instituts herausgegebene Zeitschrift Philosophical Investigations bietet seit über fünfzehn Jahren ein Forum für Untersuchungen zu Wittgenstein.

 In den USA wurde das von Black und Malcolm geleitete philosophische Institut der Cornell University nach dem Krieg zu einem der angesehensten philosophischen Seminare und das führende Zentrum der Wittgenstein-Forschung. Blacks A Companion to Wittgenstein’s Tractatus (1964) leistete einen bedeutenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit diesem Werk. Malcolm war in den USA der führende Vertreter der wittgensteinianischen Philosophie. Seine Schriften stehen wegen ihrer Klarheit und unkomplizierten Sprache in hohem Ansehen und beschäftigen sich vor allem mit Fragen der Erkenntnistheorie und der philosophischen Psychologie. In dem Buch Dreaming zeigt er die Sinnlosigkeit der skeptischen Argumentation Descartes’. Nach Malcolms Überlegungen ist es sinnlos anzunehmen, man könne im Schlaf denken oder urteilen. Dieses Buch löste eine lang anhaltende und heftige Kontroverse über die Kriterien des Träumens aus, bei der es auch um die Beziehung zwischen Kriterien, Verifikation und Bedeutung ging. In seinen späteren Aufsätzen bewährte sich Malcolm als unermüdlicher Kritiker des in der philosophischen Psychologie grassierenden reduktionistischen Materialismus, des „Funktionalismus“ sowie der sog. Kognitionswissenschaftler - letztere waren nach Malcolms Eindruck „ein neuer Stamm philosophischer Wilder“. Zu den Wittgensteinianern in den USA gehörte ferner O.K. Bouwsma, der zwar kein persönlicher Schüler Wittgensteins war, aber mit ihm zahlreiche Gespräche geführt hatte. Seine eigenen Ansichten glichen aber eher den späteren Arbeiten Wisdoms und Waismanns als denen Wittgensteins. Zu Wittgensteins Studenten gehörte hingegen Alice Ambrose, die mit ihrem Mann Morris Lazerowitz, einem Schüler von Bouwsma, am Smith College lehrte. Die von Ambrose redigierten Aufzeichnungen von Wittgensteins Vorlesungen aus den Jahren 1932-35 haben wertvolle Aufschlüsse gegeben über die Entwicklung von Wittgensteins Reflexionen während der frühen und mittleren dreißiger Jahre.

Manche Schüler Wittgenstein schlugen einen wenig an Wittgenstein orientierten Kurs ein, so Geach, dessen Arbeiten zur Philosophie der Logik und Sprachphilosophie eher von Frege denn von Wittgenstein beeinflusst waren. Es gab aber auch Schüler Wittgensteins, die Wittgensteins Gedanken in Bausch und Bogen ablehnten, z.B.  Findlay oder Kreisel.

 Die nächste Phase der analytischen Philosophie ging vor allem von Oxford aus. Dass das Fach hier derart blühte und gedieh, war vor allem Ryle zu verdanken, der 1945 auf den Waynflete-Lehrstuhl berufen worden war. Ryle warf die letzten Überbleibsel der für die dreißiger Jahre charakteristischen logischen Analyse - die Untersuchung der logischen Form der Tatsachen - über Bord und verkündete, Philosophie habe die Aufgabe, „die logischen Kräfte der Ideen kartographisch zu vermessen“. Nach seiner Ansicht werden philosophische Probleme durch Typen-Verwechslungen erzeugt, Verwechslungen, die bewirken, dass gewissen Ideen oder Begriffen fälschlicherweise logische Kräfte zugeschrieben werden, die eigentlich nur     Ideen und Begriffen zukommen, die einem andern Typus oder einer anderen Kategorie angehören. Das Hauptwerkzeug, das bei der Ermittlung solcher Verwechslungen zur Anwendung kommt, ist die Argumentationstechnik der Reductio ad absurdum. Damit wurde der Rahmen geschaffen für die Methodologie des 1949 erschienenen Buches The Concept of Mind - Der Begriff des Geistes. Dieses Buch war ein Meilenstein in der geschichtlichen Entwicklung der philosophischen Psychologie des 20. Jahrhunderts. Seine Zielscheibe ist der „Cartesianische Mythos“, die Auffassung, der Mensch sei die Verbindung einer nichträumlichen, immateriellen Seelensubstanz mit einem physischen Körper, und diese beiden stünden in kausaler Wechselbeziehung zueinander. Das Buch initiierte eine Renaissance der Philosophie des Geistes, die bis heute anhält.

 Enorm war auch der Einfluss von Austin, der 1952 White’s Professor für Moralphilosophie wurde. Seine Veranstaltungen werden oft als Brutstätte der später so bezeichneten „Oxford-Philosophie der normalen Sprache“ gesehen. Allerdings gibt es keine einheitliche Linie, die man damit bezeichnen könnte. Andere Mitglieder der Gruppe - Strawson, Hart und Grice - brachten in ihren Schriften einen eigenen Jargon ins Spiel. Grice meint: „Die einzige Position, die meines Erachtens allgemeine Zustimmung gefunden hätte, dürfte im Grunde die Behauptung gewesen sein, dass eine sorgfältige Untersuchung der Einzelmerkmale der normalen Sprache erforderlich ist, um dem philosophischen Denken eine Grundlage zu geben.“ Nachdem Austin im Alter von nur 48 Jahren 1960 gestorben war, geriet die Oxford-Philosophie unter kritischen Beschuss.

 Ryle und Austin waren zweifellos die einflussreichsten Persönlichkeiten in der Oxforder Philosophie nach dem Krieg. 1940 war auch Waismann nach Oxford gekommen, nachdem er zwei Jahre in Cambridge verbracht hatte und dort unter den gespannten Beziehungen zu Wittgenstein gelitten hatte. Obwohl sich zwischen ihm und Wittgenstein eine tiefe persönliche Kluft aufgetan hatte und er nun seine eigene Philosophie ausarbeitete, war er in Oxford eine der wichtigsten Quellen Wittgensteinscher Ideen. Waismanns Darstellungen waren jedoch nicht immer zuverlässig und gewiss nicht unkritisch.

 Ebenfalls hohes Ansehen genoss Grice. Zusammen mit seinem ehemaligen Schüler Peter Strawson, der 1947 nach Oxford zurückgekehrt war, veranstaltete er seinerzeit berühmte Seminare über philosophische Logik. Gemeinsam schrieben sie auch 1956 den Aufsatz In Defence of a Dogma, mit dem sie auf Quines Attacke auf die Haltbarkeit der Unterscheidung zwischen Analytisch und Synthetisch erwiderten. Strawson setzte sich rasch in Oxford durch und galt dort schon bald als einer der führenden Philosophen. In seinem Hauptwerk Individuals erweckte er eine modifizierte Form von Kants transzendentaler Argumentation zu neuem Leben.

 Für diese außerordentliche Konzentration begabter Philosophen in einer einzigen Universität war jedoch ein hoher Preis zu entrichten. Schon nach kurzer Zeit redeten manche, die nicht dazu gehörten, von der „Oxford-Philosophie“, als würden diese Professoren eine einheitliche Lehrmeinung vertreten. Nur wenig später kam auch der Ausdruck „Oxford-Philosophie der normalen Sprache“ in Mode, woraus im Laufe der Jahre zunehmend ein Schimpfwort wurde. Austin tat sich glänzend hervor, wenn es darum ging, diffizile Unterschiede der Alltagssprache aufzuspüren und diese zum Aufbrechen grober philosophischer Dichotomien zu benutzen, aber diese Verfahren wurden längst nicht von allen angewendet. Dennoch war der Eindruck einer „Schule“ nicht völlig trügerisch. Man hatte durchwegs Vertrauen in klare Formulierungen und durchsichtige Argumente. Es gab eine Abneigung gegen die Einführung unnötiger oder ungenügend definierter Fachausdrücke. Allgemeine Übereinstimmung bestand auch darin, dass die formale Logik keine „Idealsprache“ abgibt, die auf einzigartige Weise die logische Struktur der Welt spiegelt. Überhaupt wurde die Auffassung, wonach die Welt eine „logische Struktur“ aufweist, im großen und ganzen als Irrtum abgelehnt. Allgemeine Zustimmung fand der bescheidene Anspruch, eine sorgfältige Untersuchung der Einzelheiten der normalen Redeweise sei als Grundvoraussetzung des philosophischen Denkens unerlässlich. Hacker bezweifelt, ob einer dieser Philosophen auf die Anschauung festgelegt werden könnte, die normale Sprache sei der Gegenstand der Philosophie, wie oftmals unterstellt wird.

 1953 stand die Oxforder Philosophie, die zwar von Wittgensteins Ideen gefärbt war, aber dennoch ein eigenes Profil besaß, in voller Blüte. Von Wright berichtet über seinen Oxforder Besuch in dieser Zeit: „Wittgensteins Name war in aller Munde. Nicht als Verfasser des Tractatus, wohl aber als Autor des Blauen und des Braunen Buches und durch seine Vorlesungen für einen kleinen Kreis von Zuhörern in Cambridge, die seinen Einfluss nach außen verbreiteten.“ Neben Waismann war Miss Anscombe, die von 1946 bis 1970 in Oxford lehrte, die zweite Quelle, über die man sich an Ort direkt über Wittgenstein informieren konnte.