Hans Lenk

Hans Lenks (geboren am 23. März 1932) philosophische Heimat ist nicht exakt zu kartographieren; sein Weg führte vom kritischen Rationalismus, den er von Anfang an mit den Augen eines rationalen Kritizisten sah, zum "unbegründeten" Realismus im Sinne einer unverfügbaren Unterstellung von Wirklichkeit, die von lebenspraktischen Notwendigkeiten "aufgezwungen" wird. Lenk war ein Schüler Kurt Hübners, er hörte bei Wolfgang Stegmüller und Paul Lorenzen, als seinen eigentlichen Lehrer sieht er jedoch Karl Adam, den Leistungspädagogen und Rudertrainer. Dieser machte ihn mit der Philosophie bekannt und lenkte entscheidend das Denken Lenks in Richtung auf eine praxisnahe Philosophie: eine Philosophie der Leistung, insbesondere der Eigenleistung. Und dieses zentrale Moment des Leistungshandelns bzw. Leistungsverhaltens des Menschen als Individuum und als Gattung kann - neben anderem - die Abkehr Lenks vom "klassischen" kritischen Rationalismus und dessen ontologischen und erkenntnistheoretischen Annahmen, seinem Wahrheitsbegriff und seinem methodisch-methodologischem Zugang erklären.

Die Philosophie der Interpretationskonstrukte

In den siebziger Jahren entwickelte Lenk seine Methode der Interpretationskonstrukte. Danach handelt es sich zum Beispiel weder bei der Vernunft noch bei der Handlung um ontologisch identifizierbare Entitäten, sondern um Konstruktionen, um Deutungen. Dieses interpretationskonstruktionistische Modell wurde von ihm in den letzten Jahren insbesondere in Auseinandersetzung mit dem an der TU Berlin lehrenden Günther Abel von einem relativ anspruchslosen methodologischen zu einem umfassenden, allgemeinen erkenntnistheoretischen Modell ausgebaut, d.h. um eine transzendentalphilosophische Perspektive erweitert.

Lenks Ansatzes lässt sich vielleicht am besten in Kontrast zu Abels Interpretationsidealismus explizieren: Abels Satz, "Alles was 'ist', ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was 'ist'", setzt Lenk "alles, was ist (Welt, Wirklichkeit, Sinn), ist nur als Interpretation erfassbar", entgegen. Während Abel mit Nietzsche davon ausgeht, dass alles Seiende interpretiere, schränkt Lenk das Interpretieren auf das erkennende Subjekt und dessen erkenntnisermöglichende Ausstattung - Sinnesorgane, Gehirn - ein. Zugleich verweist er aber immer wieder darauf, dass der Begriff des "erkennenden Subjekts" selbst ein Interpretationskonstrukt ist. Dass die Welt ein Interpretationsvorgang an sich und in sich sei, lehnt Lenk aus lebenspraktischen Gründen ab. Zeichen sind für ihn artifiziell, Bedeutungen sind Wandlungen unterworfen und - auch wenn aus Sprechakten "Tatsachen" hervorgehen können - die Sprache schafft nicht die Welt. Andererseits aber ist es genau der sprachliche bzw. jede Art von zeichenvermitteltem Zugriff, der aufweist, dass die Vorstellung von der Welt als einer oder vielen Interpretationen auch nur unsere Interpretation ist. Was Lenk anbietet, ist eine Art "interpretationsinterner Realismus", angelehnt an Putnams früheren internen Realismus.

Das Stufenmodell der Interpretation

Hans Lenk unterscheidet sechs Stufen der Interpretation bzw. Ebenen der Interpretationsprozesse: Die erste Stufe (IS1) bilden die praktisch unveränderlichen produktiven Urinterpretationen: Dabei handelt es sich um die primäre Konstitution bzw. Schemabildung. Schemata sind kontrastprofilierende und strukturgebende prozessuale Verfestigungen, die auf dieser Stufe u.a. in der Organisation der neuronalen Reizzustände besteht. So ist z.B. für normalsichtige Menschen die Unterscheidung von Hell und Dunkel eine primäre Interpretation. Auf der zweiten Stufe (IS2) finden sich gewohnheits- und gleichförmigkeitsbildende Musterinterpretationen, hier ist gewissermaßen die vorsprachliche Begriffsbildung verortet. Die Stufe drei der sozialetablierten, kulturell tradierten, also konventionellen Begriffsbildung ist unterteilt: Der Bereich IS3a umfasst die sozial und kulturell normierten Begriffsbildungen, die dennoch als vorsprachlich - besser vielleicht: außersprachlich - aufzufassen sind, weil es sich um Normierungen und Standards handelt, die sich nicht primär in explizitem Wissen niederschlagen, sondern das implizite Repertoire einer Lebensform darstellen. Die repräsentierende, sprachlich normierte Begriffsbildung ist Inhalt der Ebene IS3b. Auf Stufe vier (IS4) sind die bewusst geformten Einordnungsinterpretationen wie zum Beispiel Klassifikation, Subsumierung, Beschreibung, Artenbildung verortet, während Stufe fünf (IS5) die erklärenden "verstehenden", rechtfertigenden, theoretisch begründenden Interpretationen enthält. Die Stufe IS6 schließlich repräsentiert die methodologische bzw. erkenntnistheoretische Metainterpretation, d.h. aufgrund dieses "Rahmens" wird die Methode des interpretationistischen Ansatzes selbst als modellintern und revidierbar ausgezeichnet in dem Sinne, dass zum einen jede schichtenspezifische Interpretation bzw. jedes schichtenspezifisch generierte Interpretationskonstrukt zum Objekt einer höherstufigen Betrachtung gemacht werden kann und dass zum anderen die Methode der Interpretationskonstrukte eben auch "nur" ein Interpretationskonstrukt ist. Das heißt, einerseits wird kein Absolutheitsanspruch erhoben: Erkenntnis muss nicht genau so und nicht anders gedacht oder verstanden werden. Andererseits soll gezeigt werden, dass Ansätze, die die prinzipielle Interpretationsabhängigkeit der Welterfassung und der Modelle, die diese Welterfassung beschreiben, leugnen, unplausibel sind.

Lenk möchte weder das Referenz- noch das Korrespondenzkonzept aufgeben. Beide Konzepte sind jedoch - wie der gesamte Ansatz - ihres Absolutheitsanspruches entkleidet. So lässt sich Referenz u.a. auffassen als die unterstellte Beziehung zwischen den objektkonstituierenden Interpretationen - zum Beispiel den biologisch unveränderlichen Produkten der Stufe 1 plus den Schemahabitualisierungen der Stufe 2, die wiederum teilweise durch die sozial etablierten und kulturell tradierten Begriffsbildugen der Stufe 3 überformt sind - und den Sprecheräußerungen. Das heißt, gelingende Referenz setzt ihren Gegenstand voraus, aber der Gegenstand ist nicht unabhängig gegeben, sondern immer nur unter einer Interpretation: Er ist entworfen, formiert und strukturiert in Deutungsprozessen, die teils praktisch nicht anders ablaufen können, teils durch die vom einzelnen immer schon vorgefundene Sprachpraxis geprägt sind oder die - insofern es sich um theoretische Konstrukte handelt - ihr "Sein" einzig den höherstufigen Interpretationen, i.e. wissenschaftlichen Theorien, verdanken. Dasselbe gilt cum grano salis für den Lenkschen Wahrheitsbegriff, der zum einen als stufenübergreifende Korrespondenz konzipiert ist, und zum anderen die Wahrheit als eine typische Konstruktion der Ebene IS4 begreift, die der Orientierung und Handlungsleitung dient.

Schemainterpretationen - Aktivitäten ohne Akteure

Wenn alle Erkenntnis von Welt und alles Reden über Welt immer nur in Erfassungsformen möglich ist, die sowohl sprachimprägniert, theorieimprägniert wie auch schemagebunden sind, wenn es also keinen interpretationsfreien Zugang zur Wirklichkeit gibt, diese immer schon interpretierte Wirklichkeit ist, braucht es methodischer Differenzierungen, um den Begriff der Interpretation nicht zu entleeren. Neben dem Stufenmodell bietet die Unterscheidung verschiedenster schematisierender Aktivitäten eine weitere Möglichkeit der Indexikalisierung. Es gibt wahrscheinlich keine einheitliche Charakterisierung des Interpretierens, sondern nur eher so etwas wie Familienähnlichkeit; aber hier gilt erst einmal der Standardsatz: Endgültige Analyse vorbehalten.

Wenngleich der Ausdruck "Interpretation" hermeneutischer Herkunft ist, der Lenksche Interpretationsbegriff enthält die Textinterpretation, enthält das Verstehen im engen Sinn nur als Sonderfall oder - wenn man so will - als die höchste Form, die auf anderen Interpretationsvorgängen aufruht - und im übrigen als einen der wenigen Fälle, in dem der aktiv werdende individuelle Interpret festgestellt werden kann. Die interpretatorisch-schematisierenden Aktivitäten auf den Ebenen IS1 und IS2, also die Schemabildungen und -anwendungen, die als Voraussetzungen für das Diskriminieren, das Unterscheiden und Klassifizieren von "Gestalten" und "Gegenständen" anzusehen sind, aber auch das Einordnen und Unterordnen, das Identifizieren und Reidentifizieren von Schemata ist nicht einem Agenten zuschreibbar. Es gibt hier keine Instanzen, die aktiv werden oder sind, sondern es handelt sich um Prozesse, um ein prozesshaftes Geschehen.

Dem philosophischen Schemabegriff stellt Lenk eine moderne kognitionspsychologische Auffassung von Schemata "als Bausteinen der Erkenntnis" zur Seite, um schließlich anhand von neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen seine allumfassende Aktivitätsthese zu plausibilisieren. So zeigt er, dass das Gehirn als ein komplexes dynamisches System aufzufassen ist, das Bewusstsein ein Kollektivprodukt neuronaler Funktionsareale, ein Integrationswerk - ohne Integrator.

Verantwortung

Unter den vielen Kennzeichnungen des Menschen, die Lenk alle für mehr oder weniger unzureichend hält, gibt es eine, die nach wie vor und auch künftighin einzig dem Menschen zukommt: Er ist das zur Verantwortung und zur Verantwortungsübernahme fähige Wesen. Wohl eher zufällig sind es auch genau sechs Punkte, die Hans Lenk in der Verantwortungsdebatte berücksichtigt haben möchte:

  1. Die interne Verantwortlichkeit ist von der externen Verantwortlichkeit abzugrenzen, d.h. Ethos und Ethik sind - zumindest analytisch - zu trennen;
  2. es gibt verschiedenartige Verantwortungstypen auf verschiedenen Ebenen: Die Handlungs(ergebnis)verantwortung ist von der Aufgaben- und Rollenverantwortung ebenso zu unterscheiden wie beide von der (universal)moralischen Verantwortung und der rechtlichen Verantwortung; das Verteilungsproblem für Mitverantwortung;
  3. Verantwortung von bzw. für Institutionen und Korporationen;
  4. die Notwendigkeit der Formulierung von Prioritätsprinzipien;
  5. die Notwendigkeit der Formulierung von Prioritätsprinzipien;
  6. Ethik der Wissenschaft und Technik als Sonderfall der Berufsethik.

Mit all diesen Punkten hat Lenk sich intensiv auseinandergesetzt und Thesen sowie detaillierte Vorschlagskataloge entwickelt. Zentrale Anliegen sind u.a. die Abkoppelung der moralischen Pflichten von den moralischen Rechten, die Bindung der moralischen und der rechtlichen Verantwortlichkeit an die Handlungsmächtigkeiten der Agenten, und last, aber überhaupt nicht least den Primat der konkreten Humanität - vor allen Normierungen und Regelungen.

Der Lenksche Realismus

Der schemainterpretatorische-konstruktionistische Ansatz Lenks bietet ein erkenntnistheoretisches Modell, das erlaubt, allgemeine und spezielle Probleme der theoretischen und der praktischen Philosophie unter neuen Perspektiven und unter verschiedenen Aspekten anzugehen: Seien es Fragen der mentalen Repräsentation, der Symbolisierung allgemein, des Regelfolgens, der Verantwortung, der Motivation, sei es das Wahrheits-, das Realitätsproblem oder das des Verhältnisses Gehirn-Bewusstsein. Nicht zuletzt handelt es sich auch um einen Versuch, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zweifach zu überbrücken: Praktisch, indem Ergebnisse moderner Naturwissenschaften - von der Medizin bis zur Quantenphysik - eingebracht werden, und theoretisch durch den Nachweis, dass Erklären und Verstehen in Natur- und Geisteswissenschaften, dass Erläutern und Begreifen im Alltag durch dasselbe methodische Prinzip beschreibbar sind: Instantiieren und Anwenden von Schemata.

Bei seinem Realismus geht es Lenk weder um die Rechtfertigung der Annahme einer realen Welt noch um die Rechtfertigung unseres Glaubens an die Realität. Rechtfertigung setzt er mit rationaler Letztbegründung gleich. Eine solche ist für ihn weder zu haben noch nötig. Wie der späte Wittgenstein, den er intensiv rezipiert hat, legt Lenk den Primat auf den Handlungsaspekt der Erkenntnistätigkeit und erhebt er nur pragmatisch einzulösende Ansprüche. Anders als Wittgenstein bestreitet er hingegen die Unhintergehbarkeit der Lebensformen. Diese mögen zwar "das letzte Wort" sein, insofern es um plausible Erklärungen des je individuellen Sprachverwendens geht, aber Lebensformen sind keine absoluten Fundamente, sondern lassen sich selbst hinterfragen.

Wenngleich es eine enge Verflechtung von Sprache und Handeln gibt und alles Erkennen handlungsbasiert ist, so ist doch die Handlung selbst kein Ding an sich, sondern wird durch eine kontext-, situations- und rezipienten- bzw. adressatenbezogene Interpretation konstituiert. "Ding an sich" und "Interpretation" verweisen auf zwei weitere Philosophen, Kant und Nietzsche, die das Denken Lenks stark präg(t)en bzw. befördern; und - fast gar nicht überspitzt formuliert - Lenk aktiviert den Kantischen Aktivismus und relativiert den Perspektivismus Nietzsches.

 

Wichtige Bücher von Hans Lenk

Lenk, H., Zwischen Wissenschaft und Ethik. 280 S., kt., DM 24.--, stw 980, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Lenk, H., Philosophie und Interpretation. Vorlesungen zur Entwicklung konstruktionistischer Interpretationsansätze. 1993, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Lenk, H., Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft. 620 S., Ln., DM 98.--, 1993, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Lenk, H., Von Deutungen zu Wertungen. Eine Einführung in aktuelles Philosophie-ren. 260 S., kt., DM 22.80, stw 1089, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Lenk, H., Schemaspiele. Über Schemainterpretationen und Interpretationskonstrukte. 280 S., Ln., DM 40.--, 1995, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Autorin

Renate Dürr ist promovierte Philosophin und arbeitet am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe.