Essay

Eine föderale Weltrepublik?

Über Demokratie in Zeiten der Globalisierung

Eine im emphatischen Sinn politische Philosophie stellt sich den Herausforderungen der Epoche, heute der Globalisierung. Der Ausdruck ist allerdings durch inflationären Gebrauch so konturarm geworden, daß er eines neuen Profils bedarf. Dafür schlage ich drei Gesichtspunkte, drei Reprofilierungen vor.

Globalisierung im Plural

Erstens spricht man gewöhnlich von der Globalisierung im Singular und meint wirtschaftliche Veränderungen. Träfe die darin enthaltene Einschätzung zu, so wäre vornehmlich die Ökonomie zuständig, hilfsweise auch das Völkerrecht, die Theorie internationaler Politik und die Soziologie. Mindestens zwei Gründe rufen aber auch die Philosophie auf den Plan: Zum einen befaßt sie sich generell mit einer Bedingung, die die Globalisierung allererst möglich macht: mit der allen Menschen gemeinsamen Sprach- und Vernunftfähigkeit. Und weil sich die Philosophie letztlich auf nichts anderes beruft, gelingt ihr zum anderen sehr früh und rasch die Globalisierung: Ausgehend von Kleinasien, später Athen, breitet sie sich zunächst über den Mittelmeerraum, dann nach und nach über den gesamten Globus aus. Infolgedessen werden die Klassiker der Philosophie, werden Platon und Aristoteles, Hobbes und Descartes, Kant und Hegel schon zu einer Zeit weltweit studiert, als an eine Globalisierung der Wirtschafts- und Finanzmärkte nicht ein- mal gedacht war. Und lange vor den Computern stehen in den gebildeten Häusern der Welt die Werke von Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein.

Der Globalisierung im Singular liegt jene ökonomische Verkürzung zugrunde, die zwei sonst so erbitterte Gegner vereint: orthodoxe Marxisten und orthodoxe Liberale. Denn beide sehen in der Welt vornehmlich Wirtschaftskräfte am Werk. In Wahrheit haben nicht einmal die wirtschaftlichen Veränderungen nur wirtschaftliche Ursachen, ihnen liegen sowohl politische Entscheidungen zugrunde - wir erinnern uns an Bretton Woods, GATT und OECD - als auch technische Neuerungen, teils militärischer, teils nichtmilitärischer Art. Außerdem besteht die Globalisierung nicht bloß in einer globalen Wirtschafts- und Arbeitswelt, ergänzt um ihr Gegenstück, die globale Freizeitwelt, einschließlich des globalen Tourismus. Hinzu kommt vielmehr eine Fülle von wenig oder gar nicht ökonomischen Phänomenen. Ihre Gesamtheit, einschließlich der wirtschaftlichen Globalisierung, läßt sich in drei Themenfelder bündeln.

Die erste Dimension besteht in einer facettenreichen "Gewaltgemeinschaft": Im Krieg, der durch die neuen Waffen globale Ausmaße anzunehmen droht, in der internatio-nalen Großkriminalität (Rauschgifthandel, Menschenhandel, Terrorismus), auch in den grenzüberschreitenden Umweltschäden. Die Gewaltgemeinschaft hat aber auch eine ana-mnetische Seite. Ein "kritisches Weltgedächtnis" behält die großen Gewalttaten in Erinnerung. Und wenn ein gerechtes Weltgedächtnis die Untaten nicht nur selektiv bewahrt, so hilft es, künftigen Gewalttaten vorzubeugen.

Glücklicherweise ergänzt sich die reiche "Gewaltgemeinschaft" um eine noch reichere "Kooperationsgemeinschaft". Selbst in ihr spielen Wirtschaft und Finanzen, der Arbeitsmarkt und das Transport- und Kommunikationswesen eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Es globalisieren sich auch die Philosophie und die Wissenschaften, und hier nicht nur die Naturwissenschaften, Medizin und Technik, sondern auch die Geisteswissenschaften, ferner große Bereiche der Kultur, nicht zuletzt das Schul- und Hochschulwesen. Auch die liberale Demokratie gehört in die zweite Dimension, da von ihr ein Globalisierungsdruck ausgeht: Menschenrechtsverletzungen werden zwar noch nicht weltweit geahndet, sie stoßen aber zumindest auf weltweiten Protest. Hier wächst eine gemeinsame Öffentlichkeit, eine Weltöffentlichkeit heran, die sich an das kritische Weltgedächtnis anschließen kann. Verstärkt wird die Weltöffentlichkeit durch den Ausbau des internationalen Rechts und die wachsende Zahl global zuständiger Re-gierungs- und Nichtregierungsorganisa-tionen. Über deren Neulinge, beispielsweise die Weltbank oder Amnesty International, sind freilich die älteren Organisationen nicht zu vergessen: internationale Sportverbände und vor allem die weit älteren Kirchen.

Auch die globale Kooperationsgemeinschaft darf man nicht mit "eitel Liebe und Freundschaft" verwechseln. Im Gegenteil herrscht in all diesen Bereichen der Wettbewerb vor. Dieser stachelt nicht bloß jene Kräfte an, von denen wir einen kollektiven Reichtum erwarten: Anstrengung, Wagnis und Kreativität. Der Wettbewerb hat auch Folgelasten. Mit ihnen, den teils wirtschaftsinternen Folgen wie etwa der Arbeitslosigkeit, teils wirtschaftsexternen Folgen wie der Umweltbelastung, betreten wir die dritte Dimension der Globalisierung, die Schicksalsgemeinschaft im engeren Sinn: die Gemeinschaft von Not und Leid. Hierzu zählen die großen Flüchtlings- und Wanderbewegungen mit ihrem bald religiösen, bald politischen, bald wirtschaftlichem Hintergrund. Dazu gehören Bürgerkriege, die vielerorts (Spät-)Folgen der Kolonialisierung und Entkolonialisierung sind, aber auch die eruptive Antwort auf Korruption und Mißwirtschaft. Dazu ge-hören Naturkatastrophen, Hunger, Armut und wirtschaftliche, aber auch kulturelle und politische Unterdrückung.

Alle drei Dimensionen - so der erste Gesichtspunkt - melden einen globalen Handlungsbedarf an. Und dieser relativiert das von Platon und Aristoteles bis Hobbes und Hegel vorherrschende Paradigma der politischen Philosophie: den Einzelstaat.

Zwei Relativierungen

Auch in der erweiterten Diagnose eignet sich die Globalisierung nicht zum einzigen Signum unserer Epoche. Es gibt nämlich ebenso den Kontrapunkt: das Selbstbewußtsein gewisser Regionen und die Bildung von Gebietskörperschaften, die Fragmentierung mancher Mega-Stadt in gesonderte eth-nische und kulturelle Gruppen, und in jungen Demokratien die Stärkung des Nationalgefühls. Ohnehin gibt es die Vielfalt der Sprachen, Sitten und Religionen. Auch wenn sich die Menschheit zu einer globalen Schicksalsgemeinschaft entwickelt, spielt sich das Schicksal in vieler Hinsicht regional, kommunal und ganz individuell ab. Und schon deshalb ist die Rede von dem einen Weltdorf simplifizierend, aber auch die vielgeschworene Gefahr einer unvermeidbaren Standardisierung unseres Lebens überwindbar.

Eine genauere Diagnose erkennt eine zweite, nach der sachlichen eine geschichtliche Relativierung an: Weit vor der Neuzeit ent-wickeln sich internationale Handelswege wie die Seidenstraße. In hellenistischer Zeit entsteht - in Annäherung - ein Welthandels-gebiet mit Weltmarktpreisen und sogar Welthandelszentren wie Alexandria und dem mesopotamischen Seleukia. Außerdem breiten sich gewisse Religionen aus, die deshalb - etwa Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam - Weltreligionen heißen. Und innerhalb von ihnen entstehen zu den heiligen Stätten internationale Pilgerwege, so nach Jerusalem, Mekka und Santiago de Compostella. Neben den religiösen Pilgerwegen gibt es auch "epische Pilgerwege": Die Fabeln und Schwänke, die wir in Boccaccios Decamerone lesen, sind internationales Treibgut aus Orient und Okzident. Manches läßt sich über Persien bis nach Indien zurückverfolgen; und vieles taucht später in der Novellenkunst fast aller europäischen Länder wieder auf. Und vor allem "globalisieren sich" die Gestalten der natürlichen Vernunft: Philosophie, Wissenschaft, Medizin und Technik.

Einem zweiten Globalisierungsschub, dem der frühen und "mittleren" Neuzeit, dem Zeitalter der Entdeckungen und des anschließenden Kolonialismus sowie der Epoche der Aufklärung, gehen Erfindungen vor-aus, etwa des Kompasses und des Fernrohrs, des Schießpulvers und in anderer Weise der Buchdruckerkunst.

Für die dritte, heutige Globalisierung gilt ähnliches. Eine Rolle spielen sowohl friedliche Erfindungen (Funktechnik, elektronische Medien...) als auch militärische (erst der Langstreckenbomber, dann die Interkontinentalrakete). Hinzu kommen politische Entscheidungen sowohl über die Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte als auch über internationale Organisationen wie etwa die Vereinten Nationen oder die Weltbank. In der doppelten, sowohl sachlichen als auch geschichtlichen Relativierung liegt unser zweites Profil der Globalisierung; und damit treten wir einmal mehr ihrer Überbewertung entgegen.

Zwei Prisen Skepsis

Die erste Prise besteht in der Einsicht, daß die heutige Globalisierung gar nicht so "heutig" ist. Das Moment, das als besonders eindrucksvoll gilt, die Internationalisierung der Finanz- und Devisenmärkte, erscheint nämlich dem Historiker als eine Reprise.

Die Moderne frönt zwar gern der Illusion, jede Generation überflügele die vorangehenden. In der Zeit der klassischen Goldwährung, also in den Jahren von 1887 bis 1914, bewegt sich aber zwischen den entwickelten Ländern der globale Handel in etwa auf dem heutigen Niveau. Insofern kehren wir heute nur zum Status quo jener Epoche zu-rück, die durch den Ersten Weltkrieg, die Krisen der dreißiger Jahre und den Zweiten Weltkrieg unterbrochen war. Ob die Informationen über Tiefseekabel oder elektronisch übermittelt werden, ist zwar nicht belanglos, der Unterschied für den globalen Handel aber auch nicht so gewaltig. Und für die Friedenspolitik kann man ihn - fast - vergessen. Nehmen wir als Beispiel den Friedensschluß, der vor 350 Jahren einen der größten Schrecken für Deutschland, den Dreißigjährigen Krieg, beendete: Weil die damalige Post nach Madrid einen Monat brauchte, mußte man zwar auf die neuen Instruktionen Spaniens insgesamt etwa ein Vierteljahr warten, was dazu beitrug, daß der Friede erst nach vierjährigen Verhandlungen zustande kam. Aber weder Flugzeuge noch die elektronische Nachrichtenübermittlung haben die Friedensaufgaben im Vorderen Orient oder im ehemaligen Jugoslawien beschleunigen können.

Die zweite Prise Skepsis folgt aus der Einsicht, daß selbst heute die wirtschaftliche Globalisierung nur im abgeschwächten Sinn stattfindet. Quantitativ gesehen spielt sich der globale Handel vor allem zwischen der Europäischen Gemeinschaft, Japan und den USA ab. Und bei diesen drei Einheiten ent-fällt auf den Export kein übermäßig hoher Anteil. Vermutlich ist in anderen Bereichen der Austausch größer; einmal mehr sind die Globalisierungen von Wissenschaft und Kultur denen der Wirtschaft mindestens ebenbürtig.

Zwei Visionen

Wie antwortet die Menschheit auf die Herausforderung der Globalisierung am besten? Für ihr Zusammenleben kennt sie generell zwei Grundmuster. Beide enthalten eine visionäre Kraft; wer will, spricht von einer Utopie. Auf der einen Seite lösen gemeinsame Regeln und öffentliche Gewalten die private Willkür und private Gewalt ab. Daß statt der Gewalt Recht und Gerechtigkeit herrsche, und zwar stets und überall, daß zu diesem Zweck öffentliche Gewalten eingerichtet und diese demokratisch organisiert werden, halten wir sogar für moralisch ge-boten. Nennen wir es das universale Rechts- und Staatsgebot und das ebenso universale Demokratiegebot.

Namentlich die liberale Demokratie gibt dem freien Spiel der Kräfte Raum und erwartet von diesem Spiel, in Wahrheit einem harten Wettbewerb, den großen Reichtum: an Gütern und Dienstleistungen, darüber hinaus an Wissenschaft, Medizin und Technik, an Musik, Literatur und Kunst. Zur Vision von Frieden und Gerechtigkeit tritt also die Vision eines vieldimensionalen Wohlstands hinzu, auf daß sich ein uralter Traum der Menschheit verwirkliche. In Übereinstimmung mit dem Prophetenwort "Ihre Schwerter schmieden sie zu Pflugscharen um und ihre Speere zu Winzermessern" (Jesaja 2,4) soll die physische Gewalt in ökonomische und kulturelle Kraft umgewandelt werden, und wo Friede herrscht, soll zusätzlich ein nicht bloß materieller Wohlstand einkehren.

Unsere Frage: Soll, was innerhalb eines Gemeinwesens gilt, nicht auch im globalen Maßstab zutreffen? Soll es nicht erstens eine Friedens- und Rechtsordnung geben, in der zweitens, mittels wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Wettbe-werbs, die Gesellschaften und vor allem die Individuen aufblühen? Denn keine Gesellschaft ist ein Selbstzweck; letztlich zählt nur der einzelne, freilich nicht der vereinzelte Mensch.

Eine Rechts- und Staatsphilosophie erkennt die zweite Vision durchaus an, tritt aber ihrer Verabsolutierung entgegen, einer zweiten Art von Ökonomismus: der Verdrängung der Politik durch den Markt. Gelegentlich hört man zwar die Ansicht, die Politik werde gar nicht verdrängt, sondern "nur" andernorts gemacht: nicht mehr von demokratisch gewählten Amtsinhabern, sondern von den weltweit tätigen Unternehmen bzw. Unternehmern. Mancherorts herrscht sogar ein "ökonomischer Fatalismus" vor, der da sagt: Die Wirtschaft entscheide über beide, Mittel und Ziele. Mit ihren Mitteln setze sie nämlich Ziele, auf die die Politik nur noch reagieren könne, so daß die Politik, statt noch zu gestalten, auf Anpassung verpflichtet sei. In Wahrheit liegt kein anonymes Schicksal vor; die Globalisierung hat Namen, etwa die genannten Abkommen über die Liberalisierung des Weltmarktes. Und wie der innerstaatliche Markt Rahmenbedin-gungen unterworfen wurde, so schließt einen analogen Rahmen der globale Markt nicht a priori aus. Es ist die Politik selbst, freilich kaum eine nationale, wohl aber die internationale Politik, die sich den Kräften des Marktes unterwirft oder aber sie, etwa durch eine Wettbewerbsordnung und durch soziale und ökologische Mindestkriterien, in einen fairen Rahmen zwingt.

Vieles darf und muß die Weltgesellschaft sich selbst überlassen: der Kreativität von Individuen und Gruppen, dem freien Wettbewerb und der zufälligen Evolution. Für manches ist aber ihre Gestaltungsmacht gefragt. Daher die Frage: Wenn zwischen Individuen und Gruppen statt der Gewalt das Recht und die Gerechtigkeit herrschen und beide demokratisch "organisiert" werden sollen, muß dann nicht dasselbe staatenübergreifend und zwischen den Staaten gel-ten? Braucht es nicht eine auf Recht und Gerechtigkeit verpflichtete Weltrechtsordnung und für sie eine demokratische Organisation? Besteht also die Antwort der Politik auf das Zeitalter der Globalisierung in einer Erweiterung der Einzeldemokratie zur Weltdemokratie, man kann auch sagen: zur Weltrepublik? Gemäß den drei Globalisierungsbündeln dürfte sie sogar für drei Dimensionen gefragt sein: (1) gegen die globale Gewaltgemeinschaft, (2) für den Rahmen der globalen Kooperationsgemeinschaft und vielleicht (3) für die Gemeinschaft von Not und Leid.

Fünf Einwände

Diese Antwort auf das Zeitalter der Globalisierung erscheint uns jedenfalls als zwingend. Für die politische Wirklichkeit bringt sie freilich einen so radikalen Bruch, daß sich Einwände aufdrängen. Wir heben fünf heraus. Den Einspruch Nr. 1 erhebt niemand geringerer als Kant. Eine Weltrepublik - sagt er - ist ein Ungetüm, das sich wegen seiner Größe und Unübersichtlichkeit gar nicht regieren läßt. Kann dieser Einwand überzeugen?

Für Liechtensteiner - 28'500 Einwohner - ist die Schweiz mit sechseinhalb Millionen riesig und die USA mit 250 Millionen ein Ungetüm, zu schweigen von Indien - 850 Millionen - und China: 1,1 Milliarden. Wenn ein Gemeinwesen wie die Vereinigten Staaten, fast zehntausendmal so groß wie Liechtenstein und immer noch fast vierzigmal so groß wie die Schweiz, sich gleichwohl regieren läßt, kann der erste Einspruch ein gewisses Recht haben. Ein schlagendes Gegenargument, eines, das dem Gedanken der Weltrepublik den Todesstoß versetzt, ist es aber nicht. Statt eines absoluten Vetos finden wir nur ein relatives und zugleich konstruktives Veto: Die Weltrepublik bleibt erlaubt, sogar geboten - vorausgesetzt, sie verhindert sowohl die Unregierbarkeit als auch deren Überkompensation, eine zu hohe Bürokratisierung oder gar einen Überwachungsstaat.

Begnügen wir uns hier mit einem konstruktiven Gesichtspunkt: Eine Weltrepublik muß nicht dem Muster der Vereinten Nationen folgen und Großstaaten wie Indien und China direkt mit Zwergstaaten wie Liechtenstein zusammenführen. Warum sollen sich nicht erst politische Einheiten von kontinentaler oder subkontinentaler Größe dazwischenschieben? Nach dem Muster der Europäischen Union könnten sie die meisten Probleme im "eigenen Haus" behandeln und nur wenige Restprobleme der globalen Ord-nung überlassen. Nennen wir es den Grundsatz: großregionale Zwischeneinheiten.

Nach Einspruch Nr. 2 setzt eine Weltrepublik die große zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit, die Menschenrechte und die Bürgerrechte, aufs Spiel. Denn bisher sei es nur dem Einzelstaat gelungen, diese Rechte zu gewährleisten. An diesem Einspruch ist nicht bloß die normative Voraussetzung, die Verpflichtung auf die Men-schen- und Bürgerrechte, sondern auch die empirische Aussage richtig, aber nur zu einem Drittel wahr. Zweifellos werden im Westen die Menschen- und Bürgerrechte vornehmlich von den Staaten geschützt. (In Europa kommt allerdings die Europäische Menschenrechtskonvention hinzu.) Und alle Bürgerschaften, die diesen Schutz nur von internationalen Organisationen erhalten, ergeht es beschämend schlecht. Das zweite Drittel der Wahrheit besagt aber, daß die westlichen Staaten die Rechte zunächst ein-mal gefährden: Frankreich verfolgt die Hu-genotten, die USA werden mangels briti-scher Religionstoleranz gegründet; und der-selbe Staat erlaubt die Sklaverei weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das letzte Drittel der Wahrheit: Wo die Menschen- und Bürgerrechte schon geschützt werden, teils innerstaatlich, teils durch großregionale Menschenrechtskonventionen nach dem europäischen Vorbild, dort kann sich eine Weltrepublik zurückhalten. Bei massiven Menschenrechtsverletzungen kann dies aber nur dann geboten sein, wenn das Eingreifen, die sogenannte humanitäre Intervention, noch mehr Unheil stiftet; grundsätzlich berechtigt ist die Zurückhaltung aber nicht.

Prinzip Subsidiarität

Dem zweiten Einspruch ergeht es also nicht anders als dem ersten. Er hat nicht die Kraft eines absoluten, wohl aber eines konstrukti-ven Vetos: Für die primäre Rechtssicherung bleiben die Einzelstaaten verantwortlich. Allein sie haben den Rang von Primärstaaten, während die Weltrepublik nur ein Sekundärstaat, im Fall großregionaler Zwischenstufen sogar lediglich ein Tertiärstaat ist. Nennen wir es den Grundsatz der weltstaatlichen Subsidiarität; er hat zwei Seiten. Zum einen ist die Weltrepublik nicht von oben zu dekretieren, sondern demokratisch: von den Bürgern und den Einzelstaaten her aufzubauen. Sie ist kein Weltzentralstaat, sondern ein Weltbundesstaat: eine föderale Weltrepublik. Zum anderen verbleiben ihr nur Restaufgaben. Die föderale ist zugleich eine komplementäre, die Einzelstaaten nicht ablösende, sondern sie ergänzende Weltrepublik. Die Fragen des Zivil- und des Strafrechts, die des Arbeits- und des Sozialrechts, das Recht der Sprachen, der Religionen und der Kultur - diese und weitere Staatsaufgaben verbleiben in der Zuständigkeit der Primärstaaten. Wir müssen freilich einschränken: zunächst. Denn wegen der vielfältigen Globalisierung müssen die Primärstaaten mit ihresgleichen zusammenarbeiten. Und manche Zuständigkeit geben sie besser nach oben ab, etwa die Koordination der grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung und die Festlegung von Rahmenbedingungen des Weltmarktes.

Nicht bloß subsidiär, sondern originär zuständig ist die Weltrepublik dagegen für den zwischenstaatlichen Frieden und als dessen Vorbedingung: für Abrüstung, und als deren Anfang: für die Nichtverbreitung von ABCWaffen.

Zum Prinzip Subsidiarität kommt die Aufforderung zu Vorsicht und Umsicht hinzu: Das Maß an liberaler Demokratie, das einzelne Staaten und Großregionen schon er-reicht haben, dürfen sie nicht aufs Spiel setzen. Außer Subsidiarität ist daher ein schrittweises Vorgehen geboten, auf daß man neue Möglichkeiten erproben, Erfahrungen sammeln und vor allem auch eine so wichtige Vorbedingung wie eine globale po-litische Öffentlichkeit entwickeln kann. Bekanntlich tut sich schon Europa mit dieser Institution schwer, und noch mehr Schwierigkeiten wirft sie bei einem Weltstaat auf. Für eine funktionierende Weltöffentlichkeit reicht es nicht aus, daß wir uns über ferne Rechtsverletzungen empören. Wir müssen auch, was schon bei der europäischen Gesetzgebung zu wenig geschieht, jene innerstaatlich üblichen Debatten führen, die die parlamentarischen Debatten und Entscheidungen teils vorbereiten, teils begleiten, teils nachträglich kommentieren und gegebenenfalls Novellierungen in Gang bringen. Hier besteht sogar ein Junktim: Solange es keine einigermaßen funktionierende Weltöffentlichkeit gibt, ist die Errichtung selbst einer komplementären und föderalen Weltrepublik unvernünftig. Im Handstreich oder gar blind darf eine globale Rechtsordnung nicht entstehen.

Für die Übergangszeit, eine provisorische Weltrechtsordnung, sind außer dem Völkerrecht die internationalen Organisationen gefragt. In ihnen erhält nämlich die internationale Kooperation Struktur und Dauer, was eine Weltordnung mit rudimentären Ansätzen von Staatlichkeit schafft.

Die realistische Denkschule der Politikwissenschaft sieht in internationalen Institutionen nur Instrumente staatlicher Diplomatie: Einzelstaaten kämpfen mit- und gegeneinander um Einfluß und Ressourcen. In Wahrheit sind sie aber nicht bloß eine Arena des Machtkampfes, sondern auch ein Forum für zwischenstaatliche Politik. Darüber hinaus haben internationale Organisationen eine Thematisierungsmacht und können manchen Staat auch gegen Widerstreben zur Teilnahme an Verhandlungen bewegen. In glücklichen Fällen werden sie sogar zur Schiedsinstanz: Staaten bedienen sich ihrer, wenn ihnen die "Kosten", Konflikte militärisch zu lösen, als zu hoch erscheinen. In dieselbe Richtung, zu einem Vorgriff auf eine Weltrepublik, weist ihre Bedeutung als überstaatliche Koordinationsstelle: Sie helfen Mitgliedstaaten, ihre Interessen zu arti-kulieren und - in Grenzen - durchzusetzen.

Über die formale Hauptaufgabe öffentlicher Gewalt, über Unparteilichkeit, verfügen internationale Organisationen aber nur in gewissem Maß. Was Großmächte mit ihrer Macht versuchen, versuchen kleinere Staaten mit Hilfe ihrer Überzahl: eine Instrumentalisierung der internationalen Organisa-tionen zugunsten der eigenen Interessen. Schon aus diesem Grund können die internationalen Institutionen: Organisationen und Regelwerke, einer Weltrepublik vorarbeiten, sie aber nicht auf Dauer ersetzen.

Sind Demokratien friedfertig?

Nach dem Einspruch Nr. 3 gibt es für den Schutz der Menschenrechte ein einfacheres Mittel, die Demokratisierung aller Staaten. Gemäß der These "globaler Friede durch globale Demokratisierung" könne sich die Weltfriedenspolitik mit einer Weltdemokratisierungspolitik begnügen, und die Weltrepublik werde überflüssig. In der Tat schützt die liberale Demokratie die Menschenrechte schon innerstaatlich. Und "natürlich" sprechen für die Demokratie weit mehr Gründe. Wie schon die Europäische Menschenrechtskommission den einzelstaatlichen Rechtsschutz prüft, so empfiehlt es sich aber, selbst gegenüber großregionalen Prüfinstanzen noch eine globale Menschenrechtskommission einzurichten. (Die Ver-einigten Staaten beispielsweise kämen mit ihrer Todesstrafe sogar in Friedenszeiten nicht durch.) Vor allem bleiben Staaten selbst zu schützen: in ihrer territorialen Integrität und ihrer politischen Selbstbestimmung.

Zur einschlägigen Gefahr, dem Angriffskrieg, hat die heutige Politikwissenschaft die berühmte These Kants aufgegriffen, zu einem Angriffskrieg böten liberale Demokratien - Kant sagt: Republiken - wenig Neigung. Kant unterstellt den Bürgern nicht

etwa eine genuine Friedfertigkeit, er beruft sich auf ihr aufgeklärtes Selbstinteresse. In der Demokratie sei "die Beistimmung der Staatsbürger ... erfordert". Und diese werden, "da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten, (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben, die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern ...)" kaum "ein so schlimmes" Spiel anfangen.

Trotzdem mahnt uns die Geschichte zur Skepsis: Die junge französische Republik überzieht Europa mit Krieg und verfolgt da-bei durchaus imperiale Interessen. Die noch ältere Republik, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, breiten sich nach Westen mit wenig Rücksicht auf die Ureinwohner aus, überdies annektieren sie Texas und verleiben sich nach einem Krieg mit Mexiko sowohl Arizona, Utah und Nevada als auch Kalifornien und Neu-Mexiko ein. Ebenso läßt sich Großbritannien durch die Entwicklung in Richtung einer Republik an seinen Weltmachtsplänen, an der Ausweitung des Commonwealth, nicht hindern. Politikwissenschaftler haben deshalb die These abschwächen müssen; nicht grundsätzlich seien Demokratien friedensgeneigt, sondern einerseits nur Demokratien, die strenge Zusatzbedingungen erfüllen, und andererseits bestehe die Friedensneigung nur gegen andere Demokratien.

Selbst dagegen tauchen Bedenken auf. Auf der einen Seite fehlen zwar in den frühen Demokratien so wichtige Elemente wie die Gleichstellung der Arbeiterschaft und der Frau und ein höheres Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung, außerdem parlamentarische Beschlüsse über den Kriegseintritt und, vorgreifend, öffentliche Debatten. Der Kriegseintritt erfreute sich aber oft einer derart breiten Unterstützung im Volk, daß "demokratischere Demokratien" sich damals kaum anders entschieden hätten. Auf der anderen Seite muß das aufgeklärte Selbstinteresse gar nicht immer gegen den Krieg sprechen. Bei Kriegen, die in der Ferne stattfinden, spüren die Bürger weniger Drangsale, und noch einmal weniger beim Krieg gegen einen deutlich schwächeren Feind. Ferner können Kriege von innenpolitischen Schwierigkeiten ablenken, außerdem gibt es Massenpsychosen. Weiterhin läßt sich an - fremden - Kriegen gut verdienen. Nicht zuletzt könnte sich die Friedensbereitschaft abschwächen, sobald die meisten Staaten zu Demokratien geworden sind. Bei handelspolitischen und ökologischen Fragen zeichnet sich schon heute ein Konfliktpotential ab, das sich bei gravierenden Wirtschafts- und Sozialproblemen ausweiten dürfte. Im übrigen gibt es eine Fülle von Rechtsproblemen unterhalb der Kriegsschwelle.

Infolgedessen bleibt das universelle Rechts- und Staatsgebot aktuell, erneut als konstruktives Veto: Der Rechts- und Friedensschutz, den schon eine weltweite Demokratisierung zustandebringt, bleibt ihr überlassen. Wie schon die Individuen, so haben aber auch die Staaten einen Anspruch, daß allfällige Konflikte nicht durch Macht entschieden werden, sondern durch Recht, so daß es einer weltweiten Rechtsordnung, und am Ende einer Weltrepublik bedarf.

Gemäß dem vierten Einspruch kann es eine Weltrechtsordnung nur geben, wenn zuvor existiert, was tatsächlich aber fehlt: ein allen Menschen gemeinsames Rechtsempfinden, ein Weltrechtsbewußtsein. Daß es schon im Westen an Gemeinsamkeit mangelt, wissen wir alle. Begnügen wir uns mit einem winzigen Beispiel: Wer von den US-amerikanischen Schadensersatzsummen liest: von vielen Millionen Dollar in Fällen, bei denen deutsche Gerichte bestenfalls einige zehntausend DM zusprechen, der fragt sich, ob wir nicht auf verschiedenen Rechtssternen leben. Schärfere Unterschiede zeigen sich in der Einstellung zur Todesstrafe, ferner in den Leibesstrafen einiger islamischer Staaten oder im Umgang mit Dissidenten in China, Kuba und Nordkorea. Andererseits gibt es wesentliche Gemeinsamkeiten: Die Gebote der Gleichheit und der Unparteilichkeit sind in der Rechtsanwendung ebenso global anerkannt wie Verfahrensregeln von der Art "audiatur et altera pars" (man höre auch die andere Seite) oder die Unschuldsvermutung. Ferner erkennen so gut wie alle Rechtsordnungen dieselben Grund-Rechtsgüter als schützenswert an: Leib und Leben, Eigentum und Ehre. Und die Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen belegen noch weit mehr Gemeinsamkeiten. Es fehlt "nur", aber auch immerhin an der Bereitschaft, sie unparteilich und wirksam durchzusetzen. Das konstruktive Veto fällt deshalb hier einfach, fast banal aus: Das Weltrechtsbewußtsein braucht zwar noch Zeit, um sich zu entfalten; die schon bestehenden Gemeinsamkeiten sind aber bemerkenswert. Immerhin haben sie schon Weltgerichte möglich gemacht: den Internationalen Gerichtshof, das Internationale Seegericht und neuerdings, freilich noch nicht ratifiziert, den Weltstrafgerichtshof.

Recht auf Differenz

Nach unserem fünften und letzten Einspruch droht im Zeitalter der Globalisierung eine Nivellierung, gegen die es einen kräftigen Kontrapunkt braucht: eine Stärkung der Be-sonderheiten, auf daß der soziale und kulturelle Reichtum der Welt und vor allem auch die daran gebundene Identität der einzelnen Menschen gewahrt bleiben. Es sind die neu-erdings so prominenten Kommunitaristen, die für "gute Zäune" plädieren, also für nationale Abschottung statt globaler Einheit. Für Philosophen wie Alasdair MacIntyre und Michael Walzer beispielsweise besteht die höchste soziale Einheit, in der moralisch-politische Begriffe wie Gerechtigkeit und Solidarität noch Sinn und Bedeutung haben, im Einzelstaat. In der Tat leben viele Einzelstaaten aus einer gemeinsamen Geschichte. Sie haben ihre bestimmte Tradition, Kultur und Sprache oder eine wohldefinierte Mehrsprachigkeit; auch folgen sie gemeinsamen Werten, so daß eine Auflösung der Staaten den Reichtum der Menschheit einschränkt. Darüber hinaus wird die Identität derjenigen Instanz gefährdet, auf die es in allem letztlich ankommt: die des einzelnen, aber nicht vereinzelten Menschen. Denn trotz aller Individualität, oft sogar zu genau diesem Zweck gehören Indi-viduen derartigen "Gemeinschaften" an. Ferner stärken diese Gemeinschaften eine der wichtigsten Quellen menschlicher Hilfsbereitschaft, die Solidarität. Und vor allem haben die Gemeinwesen das Recht, ihrer eigenen Vorstellung von Gemeinwohl zu folgen - vorausgesetzt, daß sie sich mit den Bedingungen liberaler Demokratie verträgt.

Für dieses Recht auf einzelstaatliche Besonderheit - nennen wir es das Recht auf Differenz - spricht schon die Unterbestimmtheit von universalistischen Rechtsprinzipien, die die Menschenrechte zunächst nur als Regeln zweiter Stufe ausweisen. Erst deren "Anwendung" auf Sachbereiche und Situationstypen führt zu den gewöhnlichen, das konkrete Handeln leitenden Regeln. Weder die Sachbereiche noch die Situationstypen lassen aber nur eine einzige Deutung zu; hier haben Geschichte, Kultur und Tradition ihr Recht.

Man stelle sich in einem Gedankenexperi-ment einen idealen Gesetzgeber vor, einen idealen Solon oder, was die Diskurstheorien vorziehen, ein ideales Parlament und beauftrage ihn oder es, die für alle Kulturen gleichermaßen gültigen Gesetze aufzustellen. Im Gegensatz zum empirischen Gesetzgeber verfügt der ideale über alle relevanten Kenntnisse; er ist allwissend. Ungetrübt von partikularen Interessen und Leidenschaften orientiert er sich in normativer Hinsicht ausschließlich an Gerechtigkeitsprinzipien, namentlich den Menschenrechten, der ideale Solon ist allgerecht. Ein derartiger "Supergesetzgeber" kann zwar den Rahmen für ge-rechte Gesetze festlegen; eine vom Standpunkt der Gerechtigkeit einzig richtige Lö-sung findet er jedoch kaum. Denn noch weniger, als man aus Kriterien wie Sitzbequemlichkeit und Haltbarkeit einen konkreten Stuhl entwerfen kann, läßt sich aus Gerechtigkeitsprinzipien eine wohlbestimmte Rechtsnorm gewinnen. Zur Fülle der er-forderlichen Zusatzelemente gehören kulturelle Besonderheiten wie die Geschichte und Tradition, einschließlich unterschiedlicher Vorlieben und Akzentsetzungen, sogar blos-ser Konventionen; nicht zuletzt kommt es auf wirtschaftliche und andere Randbedingungen an.

Dank seiner Allwissenheit weiß der ideale Solon um die Besonderheiten, und dank sei-ner Allgerechtigkeit will er den Besonderheiten Gerechtigkeit widerfahren lassen, er erkennt sie also gleichermaßen an. Das Er-gebnis sieht nur auf den ersten Blick paradox aus: daß sich die interkulturell begründbaren Gerechtigkeitsprinzipien einer kulturellen Offenheit und die universalistischen Prinzipien einer partikularen Gestalt erfreuen. Hier, bei einem kulturenoffenen Universalismus, finden beide, sowohl der ideale Solon als auch das ideale Parlament, ihre Grenze - und wegen der Grenze ist eine partizipatorische Demokratie gefragt. In der Mathematik dürfte es anders sein; ein idealer Pythagoras hat die Einschränkungen des idealen Solon nicht. Wenn der demokratische Diskurs mehr sucht als die Rekonstruktion immerwahrer Menschenrechte, wenn er sich der geschichtlichen Konkretion und politischen Entscheidung stellt, dann öffnet er sich einem Recht auf Differenz. Hier besteht sogar ein Junktim: Je mehr Rechte wir der partizipatorischen Demokratie zusprechen wollen, als desto größer müssen wir die Unterbestimmtheit der universalistischen Prinzipien und als desto größer das Recht auf Differenz ansetzen. Andernfalls degeneriert die Demokratie zum Vollzugsorgan eines idealen Gesetzgebers.

Nehmen wir als Beispiel die Religionsfreiheit. Als menschenrechtliches Prinzip gebietet sie eine religiöse Toleranz, die keinem Gemeinwesen erlaubt, die Ausübung einer Religion, auch die der "Freigeisterei" und des Atheismus, oder auch den Austritt aus einer Religionsgemeinschaft zu verbieten. (Eine Religion, die die Apostasie zum Verbrechen, sogar zum Kapitalverbrechen erklärt, verletzt massiv die Menschenrechte.) Über dieses Minimum, das Individualrecht einer negativen Religionsfreiheit, hinaus dürfte noch ein Minimum an positiver und korporationsrechtlicher Religionsfreiheit geboten sein, nämlich das Recht, sich religiös zu entfalten und zu diesem Zweck eine Religionsgemeinschaft zu bilden. Dieses zweiteilige Gebot, als Artikel 18 schon Teil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, läßt aber noch eine Fülle von Feinbestimmungen offen. Die Re-ligionsfreiheit schließt beispielsweise nicht aus, daß sich ein Gemeinwesen als christlich, islamisch, jüdisch oder schintoistisch versteht; eine streng religionslose oder atheistische Ausgestaltung der Rechts- und Verfassungsordnung ist nicht menschenrechtlich geboten. Infolgedessen sind unterschiedliche Gestalten vertretbar, etwa der Laizismus Frankreichs, der die trotz Toleranzedikten aufflammenden HugenottenVerfolgungen durch die strenge Trennung von Kirche und Staat überwindet - und in Elsaß-Lothringen davon abweicht. Als Zufluchtsort verfolgter Religionsgemeinschaften gegründet, pflegt die USA dagegen die Praxis "wohlwollender Neutralität".

Deutschland wiederum erlaubt ähnlich wie Österreich und Teile der Schweiz eine institutionelle Verbindung von Kirche und Staat, aber nachdrücklich nicht im inneren Verfassungsrechtskreis bzw. im politischen Kernbereich. Vom reformatorischen Landeskirchentum bestimmt, haben die skandinavischen Länder und in anderer Weise Großbritannien einen staatskirchlichen Charakter. Israel wiederum gewährleistet den Christen, Drusen und Muslimen volle Religionsfreiheit, überdies für das Personenstands-, Ehe- und Familienrecht eine eigene Gerichtsbarkeit und räumt trotzdem dem Judentum weitgehende Privilegien ein; beispielsweise werden die Kultuskosten zu einem Drittel vom Staat, zu zwei Dritteln von den Kommunen getragen. Und in einem multikulturellen Staat wie Malaysia führen drei grundverschiedene Rechtsformen - ein "autochthones" Gewohnheitsrecht, die islamische Scharia und das britische Common Law - eine komplizierte Koexistenz.

Zusätzlich zur Feinbestimmung tritt die Aufgabe der Rechteabwägung, die erneut, wegen entsprechender Unterbestimmtheit, von den Gemeinwesen unterschiedlich vorgenommen werden dürfen. Aktuell sind bei-spielsweise die Abwägungen der Pressefrei-heit: Darf man in ihrem Namen gravierende Rechtsverletzungen wie etwa schwere Sachbeschädigung, Entführung, vielleicht sogar (Völker-)Mord für das Fernsehen filmen, statt im Rahmen des Möglichen dagegen einzuschreiten? Oder: Darf man bei sogenannten öffentlichen Personen den ansonsten gebotenen Persönlichkeitssschntz mindern, vielleicht sogar verletzen? Eine Güterabwägung braucht es auch bei der Frage, welche Beweismittel bei einem Strafverfahren zulässig sein sollen. Hier ist etwa der menschenrechtlich gebotene Schutz der Privatsphäre gegen die ebenfalls menschenrechtlich gebotene Verbrechensbekämpfung abzuwägen. Und innerhalb der knappheits-bezogenen, positiven Freiheitsrechte ist etwa zu überlegen, wieviel der Ressourcen das Bildungswesen, wieviel das Gesundheitswesen erhalten soll. Und vielleicht ist auch die Sozialstaatlichkeit gegen den Anreiz zu Selbstverantwortung und Eigeninitiative ab-zuwägen.

Offensichtlich haben derartige Unterbestimmtheiten der universalistischen Prinzipien eine große Tragweite. Sie geben nämlich den Staaten das Recht auf Differenz, also eine universalistische Befugnis auf Partikularität, in etwa vergleichbar mit dem Recht auf Individualität, das den Menschen nicht trotz, sondern wegen der universalistischen Moral zukommt. Wegen dieses Rechts auf Differenz darf es keine Weltrepublik geben, die dem Einzelstaat der Kommunitaristen plan entgegengesetzt ist. Nach der Ansicht von staatstheoretischen Globalisten wie Charles Beitz ist die politische Weltordnung in Form einer staatlich homogenen Weltrepublik einzurichten. Eventuelle Untergliederungen erfolgen staatstheoretisch sekundär als Delegation von oben nach un-ten, während die Einzelstaaten selber als Ausdruck von Partikularität ihr Recht verlieren. Dem widerspricht aber das Recht auf Differenz.

Ziehen wir Bilanz: In der subsidiären und föderalen Weltrepublik sind wir Weltbürger, aber nicht im exklusiven, sondern komplementären Verständnis. Der exklusive Begriff entspricht jenem Kosmopolitismus, der sich nach Hegels Philosophie des Rechts (§ 209 Anm.) "dazu fixiert, dem konkreten Staatsleben gegenüberzustehen". Häufig mit einem Gefühl moralischer Überlegenheit sagt er, ich bin nicht Deutscher, Franzose, Schweizer, sondern lediglich Weltbürger. Hier tritt der Weltstaat an die Stelle der Einzelstaaten, und das Weltbürgerrecht ersetzt das "nationale" Bürgerrecht; beim globalistischen Weltstaat ist man Weltbürger statt Staatsbürger. Die föderale Welt- republik entzieht sich dagegen der einfachen Alternative "national oder global" bzw. "einzelstaatlich oder kosmopolitisch". Das Weltbürgerrecht löst das nationale Bürger- recht nicht ab, sondern tritt hinzu. In gewisser Hinsicht liegt eine globale Variante von de Gaulle vor: eine Welt der "Vaterländer" und politischen Großregionen, allerdings mit einer mehrfachen Bürgerschaft. Ob man primär Deutscher, Franzose oder Schweizer ist, und Europabürger erst sekundär, werden die Demokratien Europas in den nächsten Jahren noch entscheiden. Primär ist man jedenfalls eines beiden, Staats- oder Europabürger oder in gestufter Weise beides zusammen, und sekundär ist man Weltbürger: Bürger der föderalen Weltrepublik.