"Kant ist der Größte."

John McDowell im Gespräch mit Marcus Willaschek

 

In Ihrem Buch "Mind and World" wenden Sie sich mit Nachdruck gegen die verbreitete Gleichsetzung der Natur mit dem Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften. Gegen diese szientistische Auffassung plädieren Sie für eine teilweise "Wiederverzauberung" der Natur. Würden Sie bitte erläutern, was Sie damit meinen und wie weit diese "Wiederverzauberung" gehen sollte?

McDowell: Wiederverzauberung setzt zunächst einmal Entzauberung voraus. Daß die Natur in der Moderne, mit Webers Ausdruck, "entzaubert" ist oder entzaubert zu werden droht, ist eine geläufige und weithin akzeptierte Sichtweise. Die Naturwissenschaften vermitteln uns ein Bild der Natur, das für Bedeutung, Werte und Normativität keinen Platz lässt. Wenn man davon ausgeht, dass Intentionalität und Bedeutung nur vor einem normativen Hintergrund möglich sind, dann heißt das, dass das naturwissenschaftliche Bild der Natur es zu einem Problem werden lässt, überhaupt einen Platz für Intentionalität und das Geistige (mindedness) zu finden. Die gegenwärtige Gestalt der Philosophie des Geistes ist weitgehend durch dieses Problem bestimmt: Entweder man muss darum ringen, das Geistige in eine entzauberte Natur wieder einzufügen, indem man seinen normativen Hintergrund in irgendeiner Weise auf etwas reduziert, das bereits Teil der entzauberten Natur ist. Oder man eliminiert das Geistige – auch das kommt vor. Die Tatsache, dass der eliminative Materialismus in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes als eine ernsthafte Option erscheint, sagt einiges über ihren Zustand aus. Die Idee einer "Wiederverzauberung" soll dazu dienen, einen Naturbegriff wiederherzustellen, der nicht das Problem aufwirft, wie man in der Natur einen Platz für Sinn, Bedeutung und Normativität finden kann.

Wie sollte ein solcher Naturbegriff aussehen? In "Mind and World" verweisen Sie in diesem Zusammenhang wiederholt auf Aristoteles. Halten Sie die Rückkehr zu einem aristotelischen Naturbegriff tatsächlich für sinnvoll und möglich?

McDowell: Bis zu einem gewissen Punkt, ja. Es kommt natürlich darauf an, zu welchem Zweck man sich auf einen bestimmten Naturbegriff beruft. Wenn heute viele Leute glauben, ein aristotelisches Bild der Natur sei unwiederbringlich verloren, dann denken sie wahrscheinlich an solche Dinge wie seine Kosmologie – die ist tatsächlich hoffnungslos überholt. Mit dem Aufruf "Zu-rück zu Aristoteles!" ist offensichtlich das Risiko verbunden, als jemand dazustehen, der zur Preisgabe zahlloser intellektueller Fortschritte auffordert. Was eine gute naturwissenschaftliche Theorie ausmacht, verstehen wir heute besser als Aristoteles. Wenn man den Naturbegriff also zu diesem Zweck verwenden will, wäre eine Rückkehr zu Ari-stoteles einfach albern. Doch das ist nicht die einzige Rolle, die der Naturbegriff spielen kann. Es scheint mir auf der Hand zu liegen, dass die Art und Weise, wie besonders die Philosophie des Geistes einen modernen Naturbegriff benutzt, um ihre Aufgabenstellung zu definieren, auf einer Verwechslung beruht: Sie verwechselt eine richtige Darstellung des angemessenen Selbstverständnisses der modernen Naturwissenschaften mit einer Auffassung, die, falls sie berechtigt wäre, jene ontologisch-metaphysische Aufgabenstellen zur Folge hätte, mit der sich die gegenwärtige Philosophie des Geistes konfrontiert sieht. In dasjenige, was die Naturwissenschaften für ihre Zwecke zu Recht unter Natur verstehen, müssen wir das Geistige nicht einfügen. Die Rede von einer "Wiederverzauberung der Natur" braucht nicht mehr als ein Slogan zu sein, der diesen Gedanken zusammenfasst und uns so erlaubt, das Mentale wieder als Teil der Natur zu begreifen. Es handelt sich einfach um eine schlagwortartige Weise zu sagen: "Man muß das Geistige nicht unbedingt als etwas betrachten, das naturwissenschaftlichen Methoden zugänglich ist. Dass es solchen Methoden nicht zugänglich ist, bedeutet nicht, dass es in irgendeiner Weise dubios oder rätselhaft wäre."

In "Mind and World" zitieren Sie den frühen Marx mit den Worten, das Ganze der Natur sei der unorganische Leib des Menschen. Ist das nicht Ausdruck der romantischen und völlig unrealisierbaren Hoffnung, es könnte auf einer grundlegenden metaphysischen Ebene eine tiefe Harmonie zwischen Mensch und Natur geben?

McDowell: Nun, ob realisierbar oder nicht, hängt vom genauen Inhalt dieser Hoffnung ab. Ich habe darauf keine ausgearbeitete Antwort, aber ganz allgemein gesagt, scheint es mir möglich zu sein, mit einer solchen romantischen Hoffnungsbekundung durchaus einen Sinn zu verbinden, indem wir darunter nicht etwas Unrealisierbares verstehen, sondern etwas Symbolisches. Für mich symbolisiert die Idee der Harmonie zwischen Mensch und Natur eine Position, wonach die Philosophie des Geistes sich nicht mit dem Problem konfrontiert sieht, das Geistige in eine als unwirtlich konzipierte Natur nachträglich wieder hineinzuzwingen. Wir müssen die Natur wieder so begreifen, dass sie nicht mehr als unwirtlich für das Geistige erscheint. Und eine Möglichkeit, das zu tun, besteht in der Verwendung von Bildern wie dem, dass wir schließlich in der natürlichen Welt zu Hause sind. Es klingt vielleicht etwas zu poetisch, aber man könnte viele Tendenzen in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes als eine Reaktion auf das Gefühl beschreiben, dass wir nicht in der Natur zu Hause sind.

Sie kritisieren die Auswirkungen, die ein einseitig an den Naturwissenschaften orientierten Naturbegriffs auf die gegenwärtige Philosophie hat. Philosophen wie Jürgen Habermas oder Hilary Putnam gehen in dieser Hinsicht einen Schritt weiter. Sie sehen in den gegenwärtig szientistischen Strömungen eine Gefahr für unsere gesamte Kultur. Teilen Sie diese Auffassung, oder beschränkt sich Ihre Kritik ganz auf die Philosophie?

McDowell: Ich bin mir nicht sicher, was ich darauf antworten soll, und zwar deshalb, weil ich mir nicht sicher bin, welche Rolle man der Philosophie in unserer Kultur beimessen sollte. In erster Linie handelt es sich um einen philosophischen Punkt und ich glaube, auch Habermas und Putnam würden zustimmen, dass die Kritik an einem naturalistischen Szientismus in erster Linie eine philosophische Angelegenheit ist. Worüber ich unsicher bin, ist die Frage, wie weit die negativen philosophischen Auswirkungen, die Habermas, Putnam und ich in der einen oder anderen Weise dem naturalistischen Szientismus zuschreiben, Verfallserscheinungen zur Folge haben, die nicht auf die Philosophie beschränkt sind. Was diese Frage angeht, schwanke ich: Manchmal habe ich den Eindruck, die humanistisch geprägte Kultur ist insgesamt in Gefahr; manchmal dagegen denke ich, dass die Phi-losophie ein recht begrenzter Bereich ist und die humanistische Kultur schon für sich selbst sorgen wird und nicht durch philosophische Wissenschaftsgläubigkeit gefährdet ist.

Und wie steht es mit den Auswirkungen des Szientismus in anderen Bereichen, etwa im Umgang mit der Natur? Es gibt eine Reihe von Stellen in "Mind and World", an denen der Gedanke an den Schutz und die Erhaltung der Umwelt unmittelbar naheliegt. Von Ihren Überlegungen zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur scheint es mir nur ein kleiner Schritt zu der Frage zu sein, wie Menschen sich als handelnde Wesen zur Natur verhalten und verhalten sollten.

McDowell: Das stimmt vielleicht, auch wenn ich selbst diesen Gedanken bisher nicht näher verfolgt habe. Es ist vielleicht wirklich nur ein kleiner Schritt. Denken Sie an das Bild, wonach wir die Natur als etwas verstehen sollten, worin wir zu Hause sind. Ein solches Verständnis möglich zu machen, ist eine intellektuelle Aufgabe. Wenn wir uns und die Natur so betrachten, dass wir in der Natur zu Hause sind, so scheinen sich daraus tatsächlich auch praktische Fragen auf viel spezifischeren Ebenen zu ergeben. Unser Begriff der Natur schließt es nicht aus, dass wir uns als in der Natur zu Hause betrachten können, aber es könnte dennoch der Fall sein, dass der einzige Anwendungsfall des Naturbegriffs, den wir kennen, es uns aufgrund schädlicher Einwirkungen des Menschen schwer macht, uns als darin zu Hause zu betrachten. Dieser Slogan legt also in der Tat die Schlussfolgerung nahe, dass wir unsere natürliche Umwelt respektvoll behandeln sollten.

Sie verstehen Philosophie im wesentlichen als "therapeutisch" im Sinne des späten Wittgenstein, der gesagt hat, der Philosoph behandle eine Frage, wie man eine Krankheit behandelt. Glauben Sie, dass alle philosophischen Probleme auf Mißverständnissen irgendeiner Art beruhen oder gibt es auch "echte" philosophische Probleme, die nicht nur "aufgelöst", sondern "gelöst" werden müssen?

McDowell: Mein erster Impuls geht dahin, zu sagen, dass es sich nur um Missverständnisse handelt. Doch wenn ich darüber nachdenke, scheint mir die richtige Antwort zu sein: Es kommt ganz darauf an, wie man das Wort "Philosophie" verwendet. Aber es scheint mir dann, wenn man sich als Philosoph betrachtet oder an Philosophie interessiert ist, nicht ratsam zu sein, sich unabhängig von den konkreten philosophischen Betätigungen Gedanken darüber zu machen, welche Betätigungen als philosophisch gelten. Das ist keine Frage, die uns allzu sehr interessieren sollte. Wir sollten einfach das tun, was uns notwendig erscheint. Wenn jemand anderes findet, dass es sich nicht um Philosophie handelt, dann hat er eben Pech gehabt. Fächereinteilungen sind nicht wichtig.

Lassen Sie mich die Frage anders formulieren. Denken Sie, dass es Fragen auf derjenigen Stufe von Allgemeinheit gibt, die für die Philosophie charakteristisch ist, und die nicht durch die Naturwissenschaften beantwortet werden? Zum Beispiel Fragen nach dem guten Leben, nach dem Sinn des Lebens oder nach der gerechten Gesellschaft? Diese Fragen sind offensichtlich philosophischer Natur. Handelt es sich Ihrer Meinung nach um sinnvolle Fragen?

McDowell: Sie sprechen von Fragen einer bestimmten Stufe von Allgemeinheit. Das ist ein möglicher und völlig respektabler Ausgangspunkt, um philosophische von anderen Fragen abzugrenzen. Doch es scheint mir ein ebenso respektabler Ausgangspunkt zu sein, von der Beschreibung bestimmter begrifflicher Unklarheiten auszugehen, um von da aus solche Bilder näher zu bestimmen wie das Wittgensteinsche Bild von der Fliege, die ihren Weg aus dem Fliegenglas nicht findet. Damit nähert man sich einem Verständnis von Philosophie, das ganz wesentlich durch eine bestimmte Art von aporia, um den Aristotelischen Ausdruck zu verwenden, gekennzeichnet ist: "Ich kenne mich nicht aus" ("I don't know my way") – aporia erfaßt das sehr gut. Es ist durchaus richtig, dass es Fragen von großer Allgemeinheit gibt, die zum Beispiel die Gestalt des guten Lebens betreffen oder richtiges und falsches Verhalten – Fragen, die dem Allgemeinheitskriterium zufolge als philosophisch gelten. Diese Fragen sind nicht deshalb schwer zu beantworten, weil sie in eine aporetische Situation führen, sondern deshalb, weil es schwierig ist, die relevanten Überlegungen anzustellen sowie festzustellen, welche Überlegungen überhaupt relevant sind und wie man sie gegeneinander abzuwägen hat. Aporien sind nur eine Art von Schwierigkeiten. Deshalb möchte ich nicht sagen, dass etwas nur dann als Philosophie gilt, wenn es mit einem Gefühl intellektueller Orientierungslosigkeit verbunden ist. Es ist durchaus sinnvoll, die rationale Auseinandersetzung mit den großen Fragen des guten Lebens als Philosophie zu bezeichnen. Aber wir haben es hier mit unterschiedlichen Auffassungen von Philosophie zu tun und es scheint nicht offensichtlich zu sein, dass eine von ihnen recht hat und die andere nicht. Deshalb versuche ich es zu vermeiden, auf die Frage "Könnte es echte philosophische Probleme geben?" eine allgemeine Antwort zu geben außer: "Es kommt darauf an, was man unter Philosophie versteht".

Sie haben Ihre Ausbildung als Philosoph im Rahmen der analytischen Philosophie erhalten. Glauben Sie, dass es so etwas wie "analytische Philosophie" überhaupt noch gibt, und wenn ja, betrachten Sie sich ihr als zugehörig, oder eher einer "post-analytischen" Philosophie?

McDowell: Ich habe keine feste Meinung, wie das Etikett "analytische Philosophie" gebraucht werden sollte. Es gibt verschiedene Verwendungsweisen, die ich nachvollziehen kann. Man kann Philosophie analytisch nennen, wenn sie zu einer bestimmten Tradition gehört. Die Frage ist dann, wie man diese Tradition genau bestimmt. Man könnte mit Frege anfangen, von da zu Moore und Russell übergehen, als sie sich vom Idealismus abwandten, und von da aus wei-ter zur linguistischen Philosophie. Oder man könnte die Logischen Positivisten der dreissiger Jahre als "rein" analytische Philosophen betrachten.

Beide Sichtweisen, die sich nicht ausschliessen, aber unterschiedliche Schwerpunkte setzten, legen eine Verwendung als Etikett für eine bestimmte Parteizugehörigkeit na-he: Man ist analytischer Philosoph, nicht irgend eine andere Art von Philosoph. Vielleicht ist das eine Überzeichnung, aber der einzige Grund, das Etikett in dieser Weise zu gebrauchen, scheint mir darin zu liegen, sich von irgend einem anderen Idiom abzugrenzen: "Ich bin nicht so wie sie, ich bin ein analytischer Philosoph". Und an einem solchen Zug habe ich wenig Interesse.

Vielleicht war es zu verschiedenen Zeiten der Geschichte dessen, was man als analytische Philosophie bezeichnet, durchaus sinnvoll, sich mit anderen gegen einen gemeinsamen Gegner zusammenzutun. Vielleicht war es zu der Zeit, als Russell und Moore sich von Idealismus abwandten, sinnvoll, Idealisten als Gegner zu betrachten. Aber ich glaube, das ist vorbei. Ich betrachte Idealisten jedenfalls nicht als meine Gegner. In gewisser Hinsicht ist es mir daher einfach egal, ob das, was ich mache, analytische Philosophie ist. Andererseits kann man jemanden als analytischen Philosophen be-zeichnen, wenn er sich um Klarheit bemüht, und leider gibt es Philosophen, die das nicht tun. Vielleicht gelingt es mir nicht, klar zu sein, aber ich bemühe mich darum. Es gibt Philosophen, die orakelhaft und tief klingen möchten. Klarheit spielt dann keine Rolle. Man könnte das als Anzeichen dafür betrachten, dass jemand kein analytischer Philosoph ist, und in diesem Sinn möchte ich ein analytischer Philosoph sein. Um zur Frage zurückzukehren: Ich weiß nicht, woran man analytische Philosophie erkennen kann und ob es sich lohnt, weiterhin zu versuchen, analytische Philosophie zu betreiben und Philosophie in erster Linie als analytisch zu betrachten.

Eine Eigenschaft, die Sie zumindest von einer bestimmten Art analytischer Philosophie unterscheidet, ist ihr deutlicher Rückgriff auf die philosophische Tradition, und da besonders auf die deutsche philosophische Tradition. Ihr Kollege in Pittsburgh, Robert Brandom, zählt Sie zu den "Pittsburgh Neo-Hegelians". In "Mind and World" findet sich tatsächlich eine Reihe von Verweisen auf Hegel, aber alles in allem, gerade wenn man auch Ihre neuesten Arbeiten berücksichtigt, scheint es mir angemessener zu sein, Sie als "Neo-Kantian" zu bezeichnen. Könnten Sie vielleicht in wenigen Worten zusammenfassen, wo Sie mit Kant, und wo mit Hegel, übereinstimmen, und wo Sie sich von ihnen distanzieren?

McDowell: Jeder Antwort auf eine solche Frage muss ich eine Beteuerung meines Unwissens vorausschicken. Sie haben die vorige Frage mit den Worten eingeleitet, ich sei als analytischer Philosoph ausgebildet worden, und ich bin versucht zu sagen, dass ich überhaupt nicht ausgebildet worden bin. Als Student hatte ich eine hervorragende philosophische Ausbildung, aber das, was meine Kollegen als eine "philosophische Ausbildung" bezeichnen würden, nämlich als Doktorand, hatte ich nicht, da ich, wie damals in Oxford noch üblich, bereits nach dem ersten akademischen Abschluß Fellow an einem College wurde und zu unterrichten begann.

Was die großen deutschen Philosophen angeht, bin ich immer noch ein Amateur. Als ich Mind and World schrieb, hatte ich mich kaum eingehender mit Kant selbst beschäftigt, was man dem Text anmerkt. Ich habe ausdrücklich darauf hingewiesen, dass "mein" Kant mehr aus Strawsons hervorragendem Buch über Kant als unmittelbar von Kant selbst stammt. Soweit meine einleitende Beteuerung. Ich wünschte, ich hätte besser verstanden, wie die Dinge bei Kant laufen. Für das, worum es mir in Mind and World gegangen ist, würde es aber fast nichts ausmachen, wenn Kant nichts anderes gesagt hatte als jenes epigrammatische Schlagwort, von dem ich ausgehe: Gedanken ohne Inhalt würden leer sein, Anschauungen ohne Begriff wären blind.

Man muss das vielleicht ein wenig in der Landschaft verorten, damit man zumindest ein allgemeines Verständnis der verwendeten Worte hat. Aber dann scheint mir klar zu sein, dass Kants Satz darauf abzielt, deutlich zu machen, warum die Möglichkeit empirischen Wissens so schwer zu verstehen ist. Genau darum ging es mir ebenfalls. Und je weiter ich mich seither von meinem Ausgangspunkt durch Kants Text hindurch arbeite, desto mehr muß ich anerkennen, was am Ende vermutlich jeder denkt, der sich lange genug mit Kant beschäftigt: Er ist der Größte. Er ist einfach unglaublich scharfsichtig und tiefschürfend.

Auf Hegel habe ich bisher sozusagen nur einen ersten Blick geworfen. Ich schrieb jene begeisterten Verweise auf Hegel aus der Begeisterung heraus, als ich zum erstenmal den Eindruck hatte, einige kleine Stükke der Phänomenologie des Geistes verstanden zu haben und ich den Eindruck hatte, dass da jemand nicht nur verstanden hat, was Kant zu erreichen versuchte, sondern auch, wo Kants grundstürzender Versuch, es zu erreichen, in die Irre geht, und so zumindest in die richtige Richtung wies, worin ein erfolgreicher Versuch bestehen würde. Aber ich bin noch nicht in der Lage, diese Begeisterung weiter zu untermauern. Hegel hat sich da eine sehr sonderbare Ausdrucksweise ausgedacht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass diese Sonderbarkeit darauf zurückzuführen ist, dass Hegel versucht, eine Form von Philosophie zu entwickeln, die wesentlich therapeutisch ist. Ich sage das nicht, ohne rot zu werden, denn es ist mir klar, dass viele Leute das vollkommen pervers finden werden. Was sollte Hegel sein, wenn nicht ein konstruktiver Philosoph? Ich würde den Anschein, dass Hegel ein System konstruiert, dagegen gerne als seine sonderbare Methode der Therapie verstehen.

"Mind and World" ist ein schwieriges Buch, und das nicht nur aufgrund der Schwierigkeit der darin behandelten Fragen, sondern auch aufgrund eines sprachlichen Stils, der sich von dem der meisten anderen Autoren, vor allem in der englischsprachigen Philosophie, deutlich abhebt. Manche Leser ha-ben diesen Stil als dunkel kritisiert. Glauben Sie, dass es so etwas wie universelle stilistische Tugenden in der Philosophie gibt, oder muss jeder Autor in der Philosophie seine eigene Sprache finden?

McDowell: Zwischen diesen Möglichkeiten möchte ich mich eigentlich gar nicht entscheiden müssen. Das hängt mit einer gewissen Enttäuschung über den Punkt zusammen, von dem Ihre Frage ausging: Mind and World sollte kein schwieriges Buch werden. Es ist aus Vorlesungen hervorgegangen, an denen ich lange gearbeitet habe, und zwar gerade mit dem Gedanken: Hierbei wird es sich um Vorlesungen handeln. Ich werde vor einem Publikum stehen und diese Dinge mündlich vortragen. Das Publikum wird hören, aber nicht mit den Augen einem Text folgen. Wie kann ich das, was ich sagen möchte, vollkommen klar sagen?" Es sollte vollkommen klar sein! Und es ist eine große Enttäuschung für mich, dass so viele Leute, deren Urteil ich respektiere, es nicht vollkommen klar finden. Das leitet über zu der Frage nach universellen philosophische Tugenden: Ich glaube, dass Klarheit eine solche Tugend ist. Wenn etwas Wert ist, gesagt zu werden, dann muss es möglich sein, es klar zu sagen. Unklarheit in philosophischen Texten ist niemals vollständig entschuldbar, etwa indem man sagt: "Das ist schon in Ordnung, das ist eben der besondere Ton dieser Person". Wenn der eigene Ton auf Unklarheiten angewiesen ist, sollte man sich bemühen, mehr wie die anderen zu klingen. Klarheit ist möglich. Sofern meine etwas unübliche Ausdrucksweise zur Folge hat, dass die Leser nicht wissen, was ich eigentlich sagen will, bin ich gescheitert.

Klarheit und einige andere Mittel wie zum Beispiel das Definieren der verwendeten Ausdrücke sind also notwendig für eine gute philosophische Prosa. Aber sie sind sicherlich nicht hinreichend. Sollten Philosophen ihrer Meinung nach auch einen eigenen Stil, einen eigenen Ton haben?

McDowell: Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich kurz auf eine implizite Voraussetzung eingehen, die Sie gemacht haben. Ich hatte nur von Klarheit gesprochen, nicht davon, dass man wichtige Ausdrücke definieren sollte. Es handelt sich dabei angeblich um einen Vorzug einer bestimmten Art philosophischer Texte, und manche Leute haben gegen meinen Stil tatsächlich eingewandt, dass ich meine Ausdrücke nicht definiere. Aber das bedaure ich nicht. Wenn der Vorwurf der Unklarheit berechtigt sein sollte, würde ich das sehr bedauern. Aber seine Ausdrücke zu definieren scheint mir nur dann eine gute Sache zu sein, wenn die Ausdrücke eine bestimmte Rolle spielen sollen. Es scheint mir vollkommen zulässig zu sein, philosophische Fachausdrücke un-definiert zu verwenden – besonders solche mit einer großen philosophischen Geschichte, deren Echo man in den Köpfen philosophisch gebildeter Leser zum Klingen bringen kann, indem man die Ausdrücke verwendet, aber auch solche, bei denen der Leser mit der Zeit einfach mitbekommt, wie man sie verwendet. Ich glaube, dass ich typischerweise beide Vorgehensweisen miteinander verbinde, etwa indem ich Ausdrücke wie "Rezeptivität", "Spontaneität", "Sinnlichkeit" oder "Verstand" verwende und sage "Seht doch, sie stehen schon bei Kant". Ich trete an keiner Stelle einen Schritt zurück und definiere sie ausdrücklich. Dahinter steht zum Teil die Idee, dass diese Ausdrücke, weil sie bei Kant stehen und obwohl sie bei Kant auch nicht klarer sind als hier, dem philosophisch gebildeten Leser ein erstes Verständnis erlauben. Und wo das nicht ausreicht, muss ein weitergehendes Verständnis sich daraus ergeben, was die Ausdrücke im Laufe des Textes lei-sten. Ich bin also nicht der Meinung, dass die Definition von Ausdrücken eine universelle philosophische Tugend ist.

Was den eigenen Ton angeht, so weiß ich nicht recht, was ich sagen soll. Meine Erfahrung ist die, dass viele Leute den Stoff, um dessen klare Darstellung ich mich wirklich bemüht habe, nicht klar finden, und der Grund hängt häufig damit zusammen, dass einiges an meiner Ausdrucksweise idiosynkratisch ist. Aufgrund dieser Erfahrung bin ich mit der Vorstellung nicht mehr ganz so glücklich wie früher, dass Philosophen einen eigenen Ton haben sollten. Einerseits neige ich zu der Auffassung, dass Philosophen nicht einem stilistischen Schönheitsideal hinterherlaufen sollten, wenn das auf Kosten der Klarheit geht. Andererseits ist die Philosophie ein Teil dessen, was man auf englisch humanities nennt, und damit in einem weiten Sinn auch eine literarische Disziplin, ein Teil der letters. Es ist furchtbar, wenn Philosophen so zu schreiben versuchen, dass sie auf den Seiten ihres eigenen Textes nicht anwesend sind. Naturwissenschaftler müssen auf eine unpersönliche Weise schreiben, die erste Person Singular vermeiden usw. Für das Schreiben philosophischer Texte scheint mir das ein groteskes Vorbild zu sein. Also ein Mittelweg: kein künstliches Bemühen um Originalität, aber man sollte anwesend sein in dem, was man schreibt.

 

Die Gesprächspartner

John McDowell ist Professor für Philosophie an der University of Pittsburgh. Wichtigste Veröffentlichungen: Plato: Theaetetus (1973), Mind and World (1994; dt. 1996); seine zahlreichen Aufsätze zur Aristotelischen Ethik, zum moralischen Realismus, zu Wittgenstein, zur Philosophie des Geistes und zur Sprachphilosophie sind gesammelt in den Bänden Meaning, Knowledge, and Reality und Mind, Value, and Reality (beide 1998).

Marcus Willaschek ist Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster. Habilitation 1999 mit der Arbeit Über den mentalen Zugang zur Welt. Realismus, Skeptizismus und Intentionalität.

Das Interview entstand im Zusammenhang der 3. Münsteraner Vorlesungen zur Philosophie (5.–7. Mai 1999), in deren Rahmen John McDowell an einem zweitägigen Kolloquium zu seinem Werk teilgenommen hat. Ein Vortrag McDowells und die Kolloquiumsbeiträge (mit McDowells Erwiderungen) erscheinen unter dem Titel John McDowell: Reason and Nature, herausgegeben von Marcus Willaschek, im LIT-Verlag Münster.