Plädoyer für einen nüchternen Universalismus

Wo Geltungsansprüche erhoben werden, meldet sich auch der Skeptiker zu Wort. Ihn muss widerlegen, wer die Berechtigung seines Anspruchs nachweisen will. Am systematischen Anfang aller Philosophie steht daher die Skeptikerwiderlegung. Das gilt nicht nur für die praktische Philosophie, das gilt auch für die theoretische Philosophie. Wie sich unsere praktische Welterschließung in Richtigkeitsüberzeugungen gründet, drückt sich unsere theoretische Welterschließung in Wahrheitsüberzeugungen aus. Wir sind überzeugt, dass wir mit unseren Beschreibungen und Erklärungen die Wirklichkeit treffen, dass wir die Beschaffenheit der Dinge ebenso wie die zwischen ihnen herrschenden Beziehungen erkennen. Nicht minder gewiss scheint es uns zu sein, dass zurechenbare Handlungen von nichtzurechenbaren Körperbewegungen unterschieden und erstere auf ihre moralische Zulässigkeit befragt werden können und müssen. Und wir glauben zuversichtlich, dass dieses Bewertungsregime nicht Ausdruck subjektiver Idiosynkrasien ist, sondern intersubjektive Gültigkeit besitzt.

Der Skeptiker ist eine philosophische Kopfgeburt. Er führt eine reine Schreibtischexistenz; darum trifft man ihn auch nicht in der Wirklichkeit. Hier würde er nicht überleben können. Denn der Skeptiker gibt sich ja nicht mit Einzelbestreitungen ab; jemand, der meine Behauptung, dass ich heute vormittag auf dem Frankfurter Flughafen den amerikanischen Präsidenten gesehen habe, bezweifelte, wäre noch lange kein philosophischer Skeptiker. Zu einem philosophie-erheblichen Skeptiker würde er erst dann, wenn er das bezweifelte, was wir gelegentlich ungläubigen Lebensweltbewohner grundsätzlich nicht bezweifeln, nämlich die Gültigkeit der allen Einzelbehauptungen und Einzelbestreitungen durchgängig unterliegenden Annahmen, z.B. der Annahme der Existenz einer bewusstseinsunabhängigen Außenwelt. Es ist evident, dass sowohl der Anspruch, objektive Erfahrungserkenntnis gewinnen zu können, als auch die Unterstellung der intersubjektiven Überprüfbarkeit strittiger empirischer Erkenntnisansprüche von genau dieser Annahme geltungslogisch abhängig sind. Fällt diese Annahme, müssen wir auch unseren Erfahrungsbegriff revidieren. Es ist daher durchaus verständlich, dass Kant meinte, dass es ein Skandal sei, dass die Existenz der Außenwelt immer noch nicht bewiesen worden sei. Auf der anderen Seite ist es aber auch so, dass uns diese Lücke in unserer Beweiskette nicht sonderlich irritiert. Wir reagieren auf den mit seinem Objektivitätszweifel herumfuchtelnden Skeptiker mit lebensweltlichem Achselzucken. Nichts in unseren Erkenntnisverhältnissen deutet darauf hin, dass wir dieses Beweises wirklich bedürften. Unsere unerschütterliche Erfahrungsroutine steht auf Seiten des Hermeneutikers Heidegger, der dem Rationalisten Kant entgegnete, dass der Skandal der Philosophie nicht darin läge, dass ihr noch kein Außenweltbeweis gelungen wäre, sondern dass sie meinte, eines solchen überhaupt bedürftig zu sein.

Drei Varianten des praktischen Skeptizismus

Der spekulative Skeptizismus ist also akademisch und harmlos. Er produziert allenfalls ein nützliches innerphilosophisches Rumoren, das zu begründungstheoretischer Selbstreflexion Anlass gibt und zur Klärung der inneren Architektonik von Überzeugungssystemen führt, dabei dann insbesondere die Elemente auffällig werden lässt, die als kontingente Nichtwegdenkbarkeiten sowohl grundlos als auch alternativenlos sind.

Gilt dasselbe auch für den praktischen Skeptizismus? Ist auch dieser eine ausschließlich akademische, also harmlose, weil die Wirklichkeit des Handelns nicht betreffende Angelegenheit? Ich unterscheide drei Formen des praktischen Skeptizismus. Da ist zuerst der Naturalismus, sodann der Emotivismus, und schließlich der Partikularismus; letzterer wird gelegentlich auch Kontextualismus oder Relativismus genannt.

Als Naturalismus bezeichnet man die ontologische These, dass alles, was ist, ein Ding, also von der Art naturwissenschaftlich vollständig beschreibbarer Gegenständlichkeit sei; der naturwissenschaftliche Erkenntniskosmos definiert die Grenzen der Welt; diese, heideggerianisch gesprochen, vorhandenheitsontologisch kurzgeschlossene Wirklichkeit ist kein Raum mehr für Gründe; in ihr werden die Bedeutungsgrenzen zwischen Bewegung und Handlung aufgehoben. Damit fällt die Voraussetzung für die Zuschreibung normativer Prädikate. Verbindlichkeit fällt dem physikalistischen Exorzismus zum Opfer. Es gibt keine cartesianischen Reservate, in denen die Moral überleben könnte. Freilich führt der Naturalismus selbst ein äußerst unnatürliches Leben; er existiert ausschließlich in Büchern; sein Radikalismus verbleibt in der Retorte. Tritt der Naturalist ins Leben hinaus, verlässt er die Grenzen seines Gedankenlabors, wird er sofort rückfällig, fällt er wieder in die alten lebensweltlichen Gewohnheiten zurück; und zu diesen gehört nun einmal die moralische Bewertung unserer selbst und anderer.

Während der Naturalist die Moralüberzeugung von außen attackiert, begegnet ihr im Emotivismus ein innerer Feind. Behauptet der Naturalist, dass die Wirklichkeit für Verbindlichkeit keinen Platz habe, dass die Welt des Guten und Bösen eine ontologische Fata Morgana sei, so hält der Emotivist der Moralüberzeugung vor, dass sie Moral missverstehe, ihren Prädikaten irrtümlicherweise transsubjektive Gültigkeit zuschreibe. In Wirklichkeit diene die Moralsprache nur dem Zweck, unsere Befindlichkeit, unsere subjektiven Einschätzungen auszudrücken; und die ihr zugeschriebene Objektivität sei nur eine strategische Fiktion, um unseren idiosynkratischen Sichtweisen und Empfindungen mehr Gewicht zu verleihen, um Allianzen der Billigung und Missbilligung zu schmieden und so gesellschaftliche Macht auszuüben. Wir sind also allesamt Machiavellisten, die sich der Moralsprache und ihrer Verbindlichkeitssemantik zur Verbesserung ihrer eigenen Nutzenpositionen bedienen; und da der Erfolg dieses strategischen Spiels davon abhängt, dass niemand seine wahre Natur kennt, haben wir es hinter einem Paravent der Objektivität verborgen. Freilich beeindruckt uns diese emotivistische Aufklärung nicht sonderlich. Dass Moral instrumentalisierbar ist, ist uns nur zu bekannt; dass durch moralische Herabsetzung des Gegners ebenso wie durch eigene anschaulich gemachte moralische Vortrefflichkeit moralpolitische Gewinne erzielt werden können, ist eine verbreitete Erfahrung. Ersichtlich folgt die gesellschaftliche Ökonomie des moralischen Wertes nicht den Gesetzen des kategorischen Imperativs. Aber das sagt nichts gegen die Moral, spricht nicht für ihre machiavellistische Wahrheit; im Gegenteil: was für die Heuchelei gilt, gilt für jede strategische Moralverwendung: sie ist ein umwegiges Kompliment und bezeugt die Authentizität des Normativen. Der Emotivist verallgemeinert Depravationserfahrungen und gerät damit in das Dilemma, das jede Gestalt des subjektivistischen Reduktionismus in theoretischer wie in praktischer Philosophie gleichermaßen quält: er kann nicht mehr erklären, wie innerhalb seines Modells überhaupt Depravationserfahrungen stattfinden können, warum wir also überhaupt in der Lage sind, zwischen authentischen Moralitätssignaturen und Phänomenen strategischer Moralverwendung zu unterscheiden.

Die einzige Skeptizismusversion, die moralischen common sense und Moralphilosophie gleichermaßen herauszufordern vermag, ist der Relativismus, der auch als Kontextualismus oder Partikularismus bezeichnet wird. Der Relativist vertritt die These, dass Moralsysteme nur relative Gültigkeit besitzen, somit keine universelle Gültigkeit, keine zeitüberhobene und kulturinvariante Gültigkeit beanspruchen dürfen. Die Überzeugung insbesondere der moralphilosophischen Standardtheorien der Neuzeit, dass sich eine universalistische Moral begründen lasse, dass sich allgemein verbindliche, allgemein anerkennungswürdige, von jedermann vernünftigerweise gewollte normative Prinzipien im Rahmen ihrerseits allgemein anerkennungswürdiger und allseits gebilligter Rechtfertigungsverfahren formulieren lassen, beruht für den Relativisten auf einer archimedischen Illusion. Der Relativist ist Hegelianer und Hermeneutiker: niemand, das ist seine Überzeugung, kann seine Zeit überspringen, niemand kann den konstitutiven Vorurteilen seiner kulturellen Umwelt entkommen, niemand vermag einen unparteilichen, objektiven Standpunkt einzunehmen. Daher sind alle moralphilosophischen Begründungsszenarien, die mit Verfahren, die den Naturwissenschaften abgelauscht sind, den eigenen vorgegebenen kulturellen Kontext transzendieren wollen, zum Scheitern verurteilt. Moral existiert immer nur in besonderer Gestalt; diejenigen, die Mitglieder einer moralischen Gemeinschaft sind, die ihre individuelle wie kulturelle Identität im Horizont geteilter Wertüberzeugungen ausbilden, betrachten die geltende Moral selbstverständlich als ein objektiv verbindliches, widerstreitende Interessen übertrumpfendes Wertsystem. Aber die Gültigkeitsgrenzen dieser Moral enden an den Grenzen des kulturellen Einflussbereiches, der seine Besonderheit in diesem Moralsystem zum Ausdruck bringt. Der Umstand, dass der moralimmanente Begründungsdiskurs sich nicht auf die Autorität des Herkommens, sondern auf so ungeschichtliche Instanzen wie die Natur oder die Vernunft oder den Willen Gottes stützen mag, bringt den Relativisten natürlich auch nicht in Verlegenheit, glaubt er doch, in dem vorgeblich zeitlosen objektiven Inhalt dieser Begründungskonzepte mühelos die semantischen Ablagerungen ihrer Bedeutungsgeschichte finden zu können. Gott, Natur, Vernunft sind Schlüsselbegriffe jeder kulturellen Selbstverständigung und daher immer durch die Eigenart des vorliegenden kulturellen Kontextes semantisch imprägniert. Der Relativist behauptet also nicht nur, dass jedes moralische Überzeugungssystem sich historisch entwickelt hat und ein kulturelles Schicksal besitzt. Er behauptet auch, dass es prinzipiell unmöglich ist, dass sich innerhalb des geschichtlich gebildeten moralischen Überzeugungssystems ein Regelbereich, ein Normensegment finden ließe, das keine Spuren seiner Entstehungsgeschichte zeigen würde. Selbst die allgemeinsten Prinzipien sind kulturell eingefärbt und daher für ein Regelwerk mit kulturinvariantem Gültigkeitsanspruch ungeeignet. Innerhalb der einzelnen Moralsysteme definieren die obersten Prinzipien die Bedeutung der normativen Leitbegriffe und Orientierungsprädikate; sie legen fest, was innerhalb der einzelnen Moralsysteme als gutes Argument gilt, als Rechtfertigung bestehen kann. Sie organisieren die dem Moralsystem immanente Begründungspraxis. Nur, das ist die Grundüberzeugung des Relativisten, gibt es keine Begründungsargumentation, die die einzelnen Moralsysteme transzendieren und in ihrer Geltung ihrerseits relativieren könnte. Daher rettet auch keine moralische Gemeinsamkeitsheuristik, kein induktives Weltethos, sondern allenfalls die Klugheit die Welt vor dem Huntingtonschen clash of civilizations.

Zur Universalismus-Relativismus-Debatte

Um die Position des ethischen Relativismus noch schärfer zu konturieren, sollen einige naheliegende Missverständnisse ausgeschlossen werden. Der ethische Relativismus ist eine philosophische These über die Gültigkeitsreichweite moralischer Urteile. Er darf daher nicht mit dem Multikulturalismus oder dem unglücklicherweise so genannten kulturellen Relativismus verwechselt werden. Der Multikulturalismus ist eine Tatsache, die allenfalls den ethischen Relativismus veranlassen kann, die ihn jedoch nicht zu begründen vermag. Denn aus der Tatsache koexistierender unterschiedlicher Moralsysteme ist keinesfalls die These ableitbar, dass es keine allgemeingültigen Beurteilungsprinzipien gibt. Genau das aber behauptet der ethische Relativismus. Wenn es keine allgemeingültigen, jedermann unabhängig von seiner Lebenssituation in gleicher Weise verpflichtenden Moralprinzipien gibt, dann lassen sich natürlich auch keine normativen Regeln finden, um das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Kulturbereiche zu organisieren. Jedes normative Pluralismusmanagement ist mit dem ethischen Relativismus unvereinbar. Daher sind auch all die moralischen Friedensangebote, mit denen der bedrängte Universalismus dem Relativismus entgegengekommen ist, von diesem auszuschlagen. Weder kann er ein Prinzip der Toleranz noch ein mit diesem eng verbundenes Menschenrecht auf kulturelle Autonomie akzeptieren. Denn obwohl solche Prinzipien nur noch einen Residualuniversalismus vertreten, universalistische Auffangpositionen angesichts der aufdringlichen Tatsächlichkeit eines real existierenden Multikulturalismus formulieren, erheben sie nichtsdestotrotz einen Anspruch auf uneingeschränkte Gültigkeit. Ist der ethische Relativismus wahr, dann scheidet die Moral als kulturgrenzenübergreifendes Verständigungsmedium aus, dann kann Gewaltfreiheit nicht durch moralische Gewaltächtung, sondern lediglich durch kluge Gewaltvermeidung erreicht werden, dann muss man allein auf die Koordinationskompetenz der vormoralischen Rationalität setzen.

Aber wäre das so schlimm? Ist es schlimm, wenn jenseits der Grenzen unseres uns prägenden Kulturbereichs die Gültigkeit unserer Moral erlischt? Ist es nicht ausreichend, wenn wir mit denen, mit denen wir zumeist zu tun haben, unsere moralischen Überzeugungen teilen, und mit allen übrigen unsere Klugheit? Warum sollen auch andere unserer Meinung sein, sich unseren Wertungen anschließen, unsere Vorstellungen vom Guten, Bösen und ethisch Wichtigen besitzen? Warum überhaupt soll es eine Moral für alle geben? Genügt nicht klugheitsbegründete Toleranz, um eine Koexistenz der unterschiedlichen Kulturen zu ermöglichen? Offenkundig stehen starke universalistische Instinkte dagegen. Nur so ist erklärbar, dass der Relativist so entschieden verteufelt, als metaethischer Gottseibeiuns betrachtet wird; dass der kommunitaristische Partikularismus so viel moralische wie moralphilosophische Empörung bei den liberalen Universalisten ausgelöst hat. Nur so ist auch die Unerbittlichkeit verstehbar, mit der die universalistische Diskursethik den Relativismus verfolgt. Aber, so die Gegenfrage des Relativisten: warum muss denn die Moral den Geltungsuniversalismus der Naturwissenschaften anstreben? Nimmt die Menschheit etwa Schaden, wenn sie in der Pluralität moralischer Anschauungen verharrt und den existierenden Multikulturalismus nicht universalistisch überwölbt? Ist der Relativismus nicht an der Zeit? Schließlich haben wir alle erfolgreich die postmodernistischen Lockerungsübungen hinter uns gebracht und unser Pluralismuspensum gelernt: wir sind alteritätsfähig geworden und akzeptieren Vernunft nur noch im fragmentarisierten Zustand.

Aber hier ist Vorsicht geboten. Mancher meint zu fliegen und hat sich doch nur den Ast abgesägt, auf dem er saß. In der Universalismus-Relativismus-Auseinandersetzung steht einiges auf dem Spiel. Das Selbstverständnis der kulturellen Moderne, der in ihr entwickelte menschenrechtliche Egalitarismus und die Vorbildlichkeit der liberalen Organisationsformen des Marktes, des Rechtsstaats, des Sozialstaats und der Demo-kratie, die uns ja alle darum als moralisch vorzugswürdig gelten, weil sie institutionalisiertes Menschenrecht sind.

Der Menschenrechtsuniversalismus schlägt in sein Gegenteil um

Der ethische Relativismus ist ein Reaktionsphänomen. Er ist abhängig von der Existenz moraluniversalistischer Positionen, denen er Geltungsanmaßung vorwerfen, die er in ihre Schranken verweisen kann. Da er sich ausschließlich durch Kritik ernährt, benötigt er ein universalismusgesättigtes Biotop, um gedeihen zu können. Wäre die Aufklärung nicht so erfolgreich gewesen, hätte niemand auf einen Genfer Neurotiker namens Rousseau gehört; hätte es nicht eine Renaissance des philosophischen Liberalismus gegeben, wäre uns der Kommunitarismus erspart geblieben; hätte Fukuyama unsere Gegenwart nicht als liberales happy end der Weltgeschichte entdeckt, hätte Huntington nicht so medienwirksam vor der Wiederkehr der Religionskriege warnen können. In der Tat: Menschenrechte haben seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Durch die diversen Prozesse der Globalisierung, die ihrerseits ja nur eine konsequente Fortsetzung der Modernisierung sind, wird das liberale Drama des normativen Individualismus über die ganze Welt verbreitet. Die Welt rückt zusammen; noch nie war so viel Nähe unter den Menschen. Da entsteht ein Bedürfnis nach einer unbegrenzt kompatiblen, allseits kommensurablen normativen Währung; denn diese neue Nähe und diese neue Einheit muss organisiert werden. Eine gemeinsame normative Sprache wird nötig, die einer allseits annehmbaren Rechtfertigungspraxis zugrundegelegt werden kann und eine alle gleichermaßen bindende Legitimationskette zu knüpfen weiß. Menschenrechtsnormen sollen der neuen Weltordnung, die der amerikanische Präsident Bush nach dem Golfkrieg ausgerufen hat, moralische Orientierung bieten. Sie sollen als Richtlinien der neuen Weltinnenpolitik, als Grundprinzipien des entstehenden Weltrechts dienen, von denen Politologen und Völkerrechtler seit einigen Jahren sprechen. Und die Gesellschaftswelt, die nach der Meinung mancher Friedensforscher schon längst die Staatenwelt der Tradition abgelöst hat, erblickt in ihnen ihre Verfassung. Auch die Vereinten Nationen geben den Menschenrechten seit einigen Jahren zunehmende und weit über die Üblichkeiten des Deklamatorischen hinausreichende Bedeutung. Immer energischer wird der Wille bekundet, den traditionellen Aufgabenbereich der Sicherung und Wiederherstellung des internationalen Friedens um die Ziele des Schutzes und der Durchsetzung der Menschenrechte zu erweitern und das Gewaltvermeidungsgebot entsprechend einzuschränken. Die Umrisse eines neuen Interventionismus zeichnen sich ab. Und auch die Bemühungen um eine Konzeption der internationalen Verteilungsgerechtigkeit kommen ohne den Begriff des Menschenrechtes und die ihm innewohnende staatenübergreifende Verpflichtungswirkung nicht aus.

Freilich ist der Menschenrechtsgedanke nicht unumstritten. Das Menschenrecht hat veritable philosophische Gegner: Bentham, Begründer des Utilitarismus und damit einer universalistischen Moralkonzeption, hat die Menschenrechtsthese schlicht für "nonsense upon stilts", für gestelzten Unsinn gehalten; Marx, darin mit seinem Antipoden Burke einer Meinung, hat das Menschenrecht abgelehnt, weil in ihm die der Rechtsform eigentümliche verhängnisvolle Abstraktion am weitesten getrieben würde; und MacIntyre hat kürzlich den Glauben an Menschenrechte dem an Einhörner und Hexen gleichgesetzt. Das Menschenrecht hat aber auch viele Gegner in der Welt des politischen Handelns und der publizistischen Meinungsbildung, und diese Gegner sind für den Menschenrechtsgedanken viel gefährlicher als der ethische Relativismus oder die Kritik der Utilitaristen, Marxisten und Kommunitaristen. Da sind zum einen die zerknirschten und bußfertigen Söhne und Töchter des Westens, die sich in der Rolle des schlechten Gewissens des Liberalismus gefallen und in einer Geste des nachgeholten Widerstandes den Menschenrechtsuniversalismus als Moralkolonialismus, als die Fortsetzung des Kolonialismus mit moralischen Mitteln brandmarken. So entschieden ist ihr Engagement für das Andere, Nicht-Identische und Fremde, dass sie nicht bemerken, dass sie zu nützlichen Idioten der Diktatoren dieser Welt werden, die unter dem Vorwand kultureller Selbstverteidigung ihre autokratischen Regime gegen eindringende Demokratie- und Rechtsstaatlichkeitsforderungen abdichten. Man denke nur an das identitätspolitische Programm der asian values, eine Erfindung der herrschenden politischen Klasse, die durch eine Verbindung von Erziehungs- und Entwicklungsdiktatur eine erfolgreiche ökonomische Modernisierung erreichte, dann aber vor den sozialen und politischen Modernisierungseffekten zurückschreckte und durch identitäts-, religions- und ethnopolitische Inszenierungen Intellektuelle, Bürger und Arbeiter von ihren Forderungen nach gesellschaftlichem Pluralismus und politischer Demokratisierung abbringen wollte.

Da sind zum anderen die konservativen Skeptiker, die der Moral politisch zutiefst misstrauen und der Politik die Autonomie zurückgeben möchten. Sie betrachten mit großem Argwohn den rhetorisch-deklamatorischen Menschenrechtsauftrieb. Der moralische Universalismus, so ihre Überzeugung, verderbe die Politik. Gleichgültig, ob Bergpredigt oder Menschenrecht, beides verursache gravierende Rationalitätsmängel, führe zu einer Hypermoralisierung der Politik, nähre, so Enzensberger in seinem Essay Aussichten auf den Bürgerkrieg, "moralische Allmachtsphantasien" und führe notwendigerweise zu einer "psychischen und kognitiven Überforderung" der Menschen. Denn da der moralische Schwung sich an der sperrigen Wirklichkeit brechen muss, öffnet sich die Schere zwischen Rhetorik und Handeln immer weiter. Politik und Kirchentage sehen sich genötigt, diesen Hiatus durch Heuchelei und naiven Postulatismus zu überbrücken, und arbeiten damit ahnungslos dem Zynismus in die Hände. Der sich moralisch überhebende Menschenrechtsuniversalismus schlägt in sein Gegenteil um. Nichts ist so fatal für die moralische Verantwortung wie ihre Ausdehnung ins Globale oder gar Planetarische. Auch für die Moral gilt: bleib im Lande und nähre dich redlich. Daher mündet die Universalismuskritik des Europa- und Weltbürgers Enzensberger in ein Loblied des Parochialismus: Bei allem menschenrechtlichen Lippenbekenntnis wisse doch "insgeheim ein jeder, dass er sich zuallererst um seine Kinder, um seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muss. Selbst das Christentum hat immer vom Nächsten und nicht vom Fernsten gesprochen".

Diese Kritik ist schon darum beherzigenswert, weil sie sich auf unbestreitbare Befunde stützt. Es ist ein sensationsökonomisches Grundgesetz, dass rhetorische Übersättigung, nicht anders als physiologische, Ablehnung und Widerwillen erzeugt. Es ist ein psychologisches Grundgesetz, dass strukturelle Überforderung lähmt, jedoch keine Kräfte freisetzt. Und es ist ein moralphilosophisches Grundgesetz, dass eine Moralkonzeption, die sich über menschliches Maß hinweg setzt, nichts taugt. In der Tat befindet sich der Menschenrechtsgedanke in keiner guten Verfassung. Die Überschwemmung der öffentlichen Diskussion mit immer neuen Menschenrechten ist unerträglich. Die Menschenrechtslandschaft ist verwildert und unübersichtlich; die semantischen Wucherungen lassen keine Konturen, keine Ordnung mehr erkennen. Das Menschenrecht erweist sich damit als begründungstheoretisch untauglich und wird daher auch schwerlich in der Lage sein, das ihm von den Globalisierungsbegeisterten auferlegte weltpolitische Orientierungspensum zu leisten.

Rettung des Menschenrechtsgedankens

Aus diesem folgt mancherlei, nur nicht der schroffe Antiuniversalismus Enzensbergers. Der von ihm favorisierte Parochialismus der gestaffelten Nächstenliebe und gestuften ethischen Asymmetrien ist schon darum nicht die angemessene Antwort auf die aufgezeigten Schwierigkeiten, weil Universalismus und Partikularismus keinesfalls in einem ausschließlichen Verhältnis zueinander stehen. Anders als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verlangt der Utilitarismus nicht, den eigenen Sohn um des Fernsten willen zu opfern oder auch nur das Interesse der uns Nahestehenden dem aller anderen Menschen gleichzusetzen. Der angemessene Ausweg aus dem Hypertrophie-Dilemma besteht nicht darin, den Universalismus zu opfern, sondern ihn vor autodestruktiven Tendenzen zu retten. Der Ausweg besteht in einem ernüchterten Universalismus, in einem strikten menschenrechtlichen Minimalismus. Wir müssen den Menschenrechtsgedanken vor seiner deklamatorischen Abnutzung retten, ihn einer semantischen Entschlackungskur unterwerfen und ihm seine Form zurückgeben. Durch diese Minimalisierung wird der Menschenrechtsbegriff Relativismus- wie Partikularismusresistenz gewinnen und auch die Befürchtung eines gewaltbereiten hypermoralischen Menschenrechts- und Demokratiemissionarismus des Westens zerstreuen. Die politische Philosophie der internationalen Beziehungen, insbesondere die Interventionsethik, benötigt einen solchen begründungstheoretisch tauglich gemachten Menschenrechtsbegriff dringend.

Wie ein Blick in die Geschichte der neuzeitlichen politischen und Rechtsphilosophie zeigt, ist die formale Semantik des Menschenrechtsbegriffs ohne sonderliche Schwierigkeiten zu umreißen. Man muss sich nur daran erinnern, dass der gegenwärtig wegen der angeblichen Uniformierungswirkung seines Universalismus häufig diskreditierte Liberalismus seine ordnungspolitische Karriere als alteritätssensible Konzeption begonnen hat und sich insbesondere durch sein gewaltfreies Pluralismusmanagement in der politischen Moderne durchsetzen konnte. Am Anfang stand der rationale Staat Hobbes’. Der Staat ist der Ort, wo die Menschen voreinander sicher sein können; er ist die Zähmung der bedrohlichen Andersheit des Anderen, nicht deren Minderung oder gar Aufhebung. Der Hobbessche Staat ist eine Koexistenzordnung für einander Fremde; und er vermag diese Koexistenz zu garantieren, weil er unüberbietbar differenztolerant ist, vorausgesetzt, diese Differenz organisiert sich nicht politisch, sondern verbleibt im Privaten. Um dieses politische Meisterstück liberal-individualistischer Ordnungskunst normativ zu besiegeln, ist der menschenrechtliche Egalitarismus hervorragend geeignet. Er kehrt das Naturzustandsmotto um: die Misstrauensordnung des Jeder ist der Andere wird überformt durch die Respektordnung des Der Andere ist ein Jeder. Er gibt der Ordnung einander Fremder eine allgemeine rechtliche Form, die von aller positiven Gesetzgebung unabhängig jedem Menschen qua talis gleiche unverlierbare und unveräußerliche Rechte zuschreibt. Damit bekommt der Begriff des Menschen einen normativen Sinn, ich bin mit jedem anderen auf der Grundlage einer gleichen menschenrechtlichen Ausstattung verbunden; in die leviathanische Ordnung des repressiven Sicherheitsfriedens wird eine Ordnung der normativen Wechselseitigkeit eingelassen, die das Einander-Andere-Sein aller freilich noch bekräftigt. Staat und Recht erzeugen einen machtbegründeten Respekt; einen Respekt vor der Freiheit anderer, der vor allem auch eine Respektierung der Privatheit anderer ist; innerhalb der zu respektierenden Zone individueller Privatheit darf Differenz aufblühen, dürfen wir nach Herzenslust Andere sein. Und um diesen Respekt aufzubringen, müssen wir keine übermäßigen moralischen und emotionalen Investitionen tätigen. Ordnungsherstellung durch rechtsförmige Grenzziehung verlangt wenig mehr als wechselseitigen, distanzwahrenden Respekt: dass rechtsgestütztes Vertrauen ausreicht und es keiner sonderlichen kollektiv-kulturellen Vertrautheit bedarf, gehört zu dem integrationspolitischen Credo liberaler Ordnungskunst. Und diese These muss sich die internationale Ethik zu eigen machen, da sie auf die Kohärenzwirkung kultureller Homogeneität und Intimität verzichten muss und sich daher ausschließlich auf Rechtsbegriffe zu stützen hat.

Wie aber sieht die inhaltliche Semantik des Menschenrechtsbegriffs aus? Ein begründungstheoretisch tauglicher Menschenrechtsbegriff ist, so habe ich oben behauptet, ein partikularismus- und relativismusresistenter Menschenrechtsbegriff. Und dann ist der Menschenrechtsbegriff partikularismus- und relativismusresistent, wenn er in einer multikulturalistischen Situation grenzübergreifende Anerkennungschancen besitzt. Wir müssen also eine Argumentation entwickeln, die dem Menschenrechtsbegriff eine Bedeutung zuweist, die von jeder kulturellen Einfärbung unabhängig ist und keiner kulturellen Hermeneutik bedarf. Deswegen können wir auch nicht von der einerseits trivialen, andererseits logisch unsinnigen These ausgehen, dass "von Anfang an Menschenrechtsforderungen eine Antwort auf konkrete Unrechtserfahrungen darstellen" (H. Bielefeldt). Trivial ist diese These, weil es in der Tat vernünftig ist, einen entsprechenden Mangelzustand vorauszusetzen, um empirisch das Auftreten von Rechtsforderungen zu erklären. Bedenklicher ist es schon, dass hier kein menschenrechtsspezifischer Zusammenhang erwähnt wird, wo doch alles darauf ankommt, die eigentümliche Semantik des Menschenrechtsbegriffs zu bestimmen. Logisch unsinnig ist die These, da offenkundig der Rechtsbegriff die logische Voraussetzung für den Begriff des Unrechts ist. Um diese petitio principii zu vermeiden, muss der Begriff der Unrechtserfahrungen reformuliert werden; er muss eine deskriptive, von jeder normativen Bestimmung unabhängige Fassung erhalten.

Menscheninteresse und Menschenrecht

Da uns das Menschenrecht interessiert - nicht das Recht der Anwälte, in Deutschland ihre Dienste nach Maßgabe einer anwaltlichen Gebührenordnung in Rechnung zu stellen, oder das Recht der Bezirksschornsteinfeger, jährlich unsere Feuerstellen entgeltlich inspizieren zu dürfen -, ist anzunehmen, dass der Begriff des Menschen nicht unwesentlich ist für eine angemessene Fassung dieses Rechtes, kommt es doch nach einer formalen Definition dem Menschen als solchem zu. Wer aber ist dieser Mensch des Menschenrechts? Zugegeben, der Mensch des Menschenrechts ist schwer zu finden, und nicht erst Huntington und die Kommunitaristen haben aufgegeben, ihn zu suchen. Schon Rousseau war sich sicher, dass der Mensch des modernen Kontraktualismus nur der moderne Mensch sei; und auch Hegel gab in seinem Naturrechtsaufsatz von 1802 zu bedenken, dass das Maß des Apriorischen allemal das Aposteriorische sei. De Maistre und - ihm wie immer folgend - Carl Schmitt haben diese ideologiekritischen Befunde dann kurzerhand verallgemeinert: Wer Menschheit sagt, der lügt. Abstraktionen sind immer trojanische Pferde des Besonderen. Die Anthropologie scheint also begründungstheoretisch vergiftet zu sein. Für die Antiuniversalisten gibt es nur partikulare Wertwelten, die Fremden verschlossen bleiben. Daher, so der Kommunitarist Michael Walzer, bleibt Außenstehenden nur, sich aller Urteile über die inneren Angelegenheiten anderer Gemeinwesen zu enthalten und aus ethischem Takt Legitimität zu unterstellen. Aber der Kult des Besonderen wird entschieden zu weit getrieben, wenn man sich aus Angst vor einer Hypermoralisierung der Politik mit dem Positivismus verbündet und die Gegebenheiten aller Kritik entzieht. Vertrautheit mit Kultur und Geschichte, mit dem Wurzelwerk der Konflikte und der Entstehung der sozialen Linien der Loyalität und des Hasses, ist sicherlich notwendig, um den gegenwärtigen Zustand eines Landes zu verstehen. Aber ich muss nicht in eine Kultur eintauchen, um Genozid, Verfolgung von Minderheiten, Entrechtung von ganzen Bevölkerungsgruppen als Menschenrechtsverletzungen zu erkennen. Vertreibungen und Massengräber haben keine kulturelle Grammatik, die nach einer diffizilen Hermeneutik rufen würde. Das, was sie bedeuten, zeigen sie selbst.

Ich bin nicht der Meinung, dass die Anthropologie begründungstheoretisch vergiftet ist. Im Gegenteil, nur mit Hilfe anthropologischer Argumente kann eine Menschenrechtsbegründung gelingen. Der im folgenden zu entfaltende Grundgedanke einer moralisch signifikanten präkulturellen menschlichen Gemeinsamkeit ist vertraut. Jeder von Ihnen kennt die berühmte Auftrittsrede Shylocks aus Shakespeares Merchant of Venice, 3.Akt, 1.Szene: "And what's his reason? I am a Jew! Hath not a Jew eyes? Hath not a Jew hands, organs, dimensions, senses, affections, passions? Fed with the same food, hurt with the same weapons, subject to the same deseases, healed by the same means, warmed and cooled by the same winter and summer as a Christian? If you prick us, do we not bleed? If you tickle us, do we not laugh? If you poison us, do we not die? And if you wrong us, shall we not revenge? If we are like you in the rest, we will resemble you in that" (Merchant of Venice Act III; 1 Scene; Auftritt Shylock).

Es gibt offensichtlich nur dann eine Lösung des Menschenrechtsproblems, wenn der Mensch des Menschenrechts im vorkulturellen Bereich gesucht wird. Der Mensch als solcher bildet die Zuschreibungsformel des Menschenrechts; sie verlegt jeder kulturellen Qualifizierung der Zuschreibungsbedingung den Weg. Der Mensch als solcher, das ist der natürliche Mensch, der nackte Mensch, der Mensch der biologischen Klassifikationslehre, der homo sapiens. Dieser steht auf der einen Seite, und die Menschenrechtssubjektivität steht auf der anderen Seite; und niemandem ist es erlaubt, dazwischenzutreten und durch kulturell kolorierte Bilder eigentlichen oder höheren Menschseins die Rechtszuschreibung zu reglementieren. Gerade darin zeigt sich der unüberbietbar revolutionäre Charakter des Menschenrechtskonzepts: dass es eine allen staatlichen Rechtsordnungen, allen geschichtlichen Kulturkreisen und allen moralischen, religiösen oder metaphysischen Deutungen menschlichen Seins und menschlicher Lebensführung vorangestellte normative Ordnung purer Zwischenmenschlichkeit errichtet, die für alle geschichtlichen Sozialformationen und kulturellen Selbstdeutungen unbedingte Verbindlichkeit besitzt. Nur über die strikte Naturalisierung des Menschen gelangt man also zum Kern des Menschenrechtsbegriffs. In der aller ideologischen Differenzierung und kulturellen Selbstinterpretation vorausliegenden biologischen Klassifikationsgleichheit ist das Gegenstück des normativen Egalitarismus des Menschenrechts zu finden. Der begründungstheoretisch einzig relevante menschenrechtliche Mensch ist ein endliches, sterbliches, verwundbares und leidensfähiges Wesen; der menschenrechtliche Schutz gründet sich auf die schlichte Evidenz menschlicher Verletzlichkeit und die nicht minder evidente Vorzugswürdigkeit eines Zustandes der Abwesenheit von Mord und Totschlag, Schmerz und Gewalt, Folter, Not und Hunger, Unterdrückung und Ausbeutung. Und dieser Schutz kann nur in einem Staat gewährt werden. Menschenrechte sind daher wesentlich staatsadressierte Institutionalisierungsaufträge.

Mit dem Begriff der menschlichen Natur begegnen die grundlegenden Bedürfnisse, deren Erfüllung dauerhaft gesichert zu sehen Menschen ein fundamentales Interesse haben. Hinter den Rechten tauchen also die Interessen auf, die den Rechten Grund und Inhalt geben, die wir für so wichtig erachten, dass wir zu ihrem Schutz Rechte zuschreiben. Wie die folgende Überlegung zeigt, hat diese basale Rechtsausstattung auch eine subsistenzrechtliche Bedeutungsschicht. Das Menschenrecht dient dem fundamentalen Lebens-, Erhaltungs- und Entwicklungsinteresse der Menschen. Und dieses Interesse ist unteilbar; da sowohl Bedrohungshandlungen als auch Situationen dramatischer Unterversorgung es gravierend verletzen, muss das Menschenrecht auf beide Gefährdungsweisen gleichermaßen reagieren. Es ist inkonsistent, das fundamentale Selbsterhaltungsinteresse nur dort mit Menschenrechtsschutz auszustatten, wo es durch aktive Bedrohung von Leib, Leben und Freiheit gefährdet ist, es hingegen ohne rechtliche Unterstützung zu lassen, wenn es in Situationen gerät, in denen es zum Überleben auf Fremdversorgung angewiesen ist. Die Konvergenz von Menschenrecht und Menscheninteresse ist also keinesfalls auf den sei es normativ, sei es präferentiell ausgezeichneten Bereich der negativen Freiheit eingeschränkt. Der Begriff der Menschennatur ist menschenrechtstheoretisch weitaus belastbarer und vermag selbst für die Begründung internationaler distributiver Schuldigkeiten herangezogen zu werden.

Um die Schnittmenge von Menschenrecht und Menscheninteresse zu kennzeichnen, habe ich auf die Interessen verwiesen, von denen vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie allen Menschen grundsätzlich eigen sind, dass sie zur menschlichen Natur gehören und anthropologischen Status besitzen. Die Eigentümlichkeit dieser Interessen liegt in ihrem Voraussetzungscharakter. Sie sind unüberbietbar fundamental. Sie müssen befriedigt werden, damit Menschen überhaupt in ihren kulturellen Lebenskontexten unterschiedliche Interessen ausbilden und verfolgen können. Ihre Befriedigung muss gesichert sein, damit Menschen die existentielle Dramatik des Daseinskampfes und der biologischen Kontinuitätssicherung hinter sich lassen und in institutionell gefestigten kulturellen Kontexten ein Leben führen können. Das Interesse an der Selbsterhaltung, an körperlicher Unversehrtheit und an Lebensführung ist also vordringlich ein Interesse an den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen individuelle Lebensprojekte entwerfen und verwirklichen können. Es sind also glückstranszendentale Interessen. Sie verdienen daher vorzüglichen rechtlichen Schutz, eben menschenrechtlichen Schutz. Freilich ist das Interesse an den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können, nicht immer schon dann hinreichend erfüllt, wenn durch effektive Rechtsstaatlichkeit jeder Übergriff der Menschen wie auch des Staates auf Leib, Leben und Freiheit anderer unterbunden wird. Da die Voraussetzungen menschlicher Lebensführung nicht nur durch Tod, Gewalt, Verletzung und Versklavung zerstört werden können, sondern auch durch materielle Not und einschneidende Versorgungsmängel gefährdet sein können, muss der sich der fundamentalen Bedingungen selbstbestimmter menschlicher Lebensführung überhaupt annehmende Menschenrechtsschutz auf das Versorgungsinteresse ausgedehnt werden und nicht nur negative, schädigungsfreie, den anderen einfach lassende Mitmenschlichkeit garantieren, sondern auch auf eine hinreichende, subsistenzermöglichende Güterausstattung ausgedehnt werden.

Fundamentale Voraussetzungen für ein erträgliches Leben

Bislang habe ich zur begründungstheoretischen Verschränkung von Menschenrecht und Anthropologie zwei anthropologische Tatsachen bemüht: zum einen die Verwundbarkeit des Menschen durch Menschen; zum anderen die Abhängigkeit von Lebensmitteln. Welcher kultureller Kontext auch immer im einzelnen die Lebensführungsethik der Menschen und die für sie verbindliche kollektive Sinnproduktion bestimmen mag, unabhängig davon gilt, dass fundamentale Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Menschen innerhalb solcher Kontexte ein für sie erträgliches, ihnen sinnvoll erscheinendes Leben führen können. Einmal muss die Kontinuität ihrer basalen biologischen Funktionsfähigkeit gesichert werden; daher ist jedes individuelle wie institutionelle Handeln, das den fundamentalen Existenzinteressen der Menschen widerstreitet, das ihnen das Leben nimmt, ihnen gezielt Schmerzen zufügt oder sie gewaltsam gefangen hält oder deportiert, menschenrechtlich geächtet. Zum anderen muss die Subsistenz gesichert werden, daher bestehen grundlegende distributive Schuldigkeiten, die diejenigen, die genug haben, verpflichten, denjenigen zu geben, die ohne ihre Hilfe verhungern, verdursten oder verelenden würden. D.h. in Situationen, in denen Menschen durch welche Umstände auch immer in subsistenzgefährdende Notlagen geraten sind, haben die Staaten, deren Bürger mehr als genug haben und vieles ohne merkliche Einbuße ihrer eigenen Lebensqualität entbehren können, die Verpflichtung, in rechtlicher Stellvertretung ihrer Bürger und zur Sicherung einer effizienten Durchsetzung des menschenrechtlichen Versorgungsanspruchs, den Notleidenden zu helfen. Man rede hier nicht von der Nicht-Verallgemeinerbarkeit des Glücksbegriffs, von der kulturellen Semantik der Bedürftigkeit und der von ihr begehrten Güter. Natürlich hat Kant darin völlig recht, dass sich auf einen inhaltlich gehaltvollen Glücksbegriff keine allgemeinverpflichtende Gesetzgebung stützen lässt. Natürlich hängt der Begriff der Not von dem Niveau der gesellschaftsüblichen Lebensstandards ab; je höher diese sind, desto früher werden Notlagen geltend gemacht, wird ein Recht auf Abhilfe in Anspruch genommen. Aber es ist unbestreitbar, dass es hier eine unverhandelbare Kernzone gibt, dass ein interpretationsentzogener Bereich fundamentaler natürlicher Bedürftigkeit mühelos und ohne hermeneutische Anstrengungen identifiziert werden kann. Es gibt Samariter-Situationen, in denen die Wahrnehmung der unverhüllten Not allein das moralische Handeln zuverlässig regieren kann, in denen die Not so beredt wird, dass es keines kulturkundigen Interpreten bedarf. Von solchen Situationen rede ich hier, von Situationen, in denen der subsistenzriskante, erst Unterversorgung, dann Krankheit, dann Lebensbedrohung bewirkende Mangel den Blick auf eine basale und kulturell ungefilterte anthropologische Interessenlage freigibt. Daher treffen alle Einwände, die gegen ein Menschenrecht auf Glück vorgebracht werden können, auf das anthropologisch begründete Subsistenzrecht nicht zu.

Es gibt noch eine dritte anthropologische Tatsache; auch sie lässt sich formal, unabhängig von jedem kulturellen Kontext beschreiben. Auch ihr kann ein transzendentaler Charakter gegeben werden, auch sie bezeichnet einen anthropologischen Wunsch, der zwar immer nur in einem bestimmten kulturellen Kontext eingelöst werden kann, der aber auch durch spezifische Mängel und politisch verursachte Weigerungen missachtet werden kann. Es handelt sich zum einen um die Tatsache, dass Menschen Wesen sind, die sich entwickeln und reifen können, die Fähigkeiten und Talente haben, die durch geeignete Ausbildung verbessert werden können; und es handelt sich zum anderen um die Tatsache, dass jedermann ein Leben sinnvoller und wertvoller erscheint, das ihm gestattet, seine Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, sich zu optimieren; sinnvoller und wertvoller erscheint es uns, weil unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten ja keine identitätsexternen Kontingenzen sind, sondern uns wesentlich ausmachen und wir uns daher in ihrer Ausübung und Anwendung, in der Anspannung unserer Kräfte erweitern und uns in dieser Selbsterweiterung genießen. Daher ist die existenzrechtliche und subsistenzrechtliche Bedeutungsebene meines anthropologischen Menschenrechtskonzepts um eine entwicklungsrechtliche Bedeutungsschicht zu erweitern. Es ist evident, dass sich damit das Menschenrechtskonzept internen Dringlichkeitsabstufungen öffnet; und nicht minder, dass die existenz- und subsistenzrechtlichen Bedürfnisse grundsätzlich einen Nötigkeitsvorsprung vor den Entwicklungsbedürfnissen besitzen.

Das materiale Widerlager eines nüchternen Universalismus

Die von mir vorgestellte Argumentation steht und fällt mit der These von der Konvergenz von Menscheninteresse und Menschenrecht. Wenn sich herausstellen sollte, dass sich in den Interessen, die Menschen haben, in ihren Präferenzen und Bedürfnissen nicht diese kulturinvariante Schicht abheben lässt, wenn menschliches Glücksstreben nicht diese anthropologische Syntax besitzt, dann bricht das Argument in sich zusammen. Wenn sich herausstellen sollte, dass das durch transzendentale Analyse freigelegte Wollen, das jedes bestimmte, subjektiv gravitierte und kulturell imprägnierte Wollen als dessen Voraussetzung begleiten muss, den Bereich kultureller Bedeutungsstiftung nicht durchstößt, dann scheitert das Argument. Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Gehen wir doch einmal auf die Suche nach den Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit wir überhaupt ein sinnvolles Leben - in welchem kulturellen Kontext auch immer - führen können; schauen wir doch einmal nach den formalen Kriterien, mit denen wir ein Leben völlig unabhängig von aller kulturellen Einbettung als befriedigender ansehen als ein anderes, dann werden wir sicherlich auf diese von mir so genannten anthropologischen Tatsachen stoßen: auf das Existenzinteresse, auf das Subsistenzinteresse und auf das Entwicklungsinteresse. Und genau diese Interessentrias bildet das materiale Widerlager eines nüchternen Universalismus, der diese Interessen mit menschenrechtlichem Schutz versieht und Menschen, Institutionen und die Institution aller Institutionen, den Staat verpflichtet, durch geeignetes Unterlassen, durch geeignete Verteilungsleistungen und durch die Etablierung von geeigneten Ausbildungssystemen diesen basalen menschlichen Interessen entgegenzukommen.

Nüchtern ist dieser Universalismus aus drei Gründen: zum einen beschränkt er sich auf den Bereich des Rechts; zum anderen verzichtet er auf problematische Begründungskonzepte, die sich um Wert und Würde des Menschen gruppieren. Ich weiß nicht, was diese auratischen Selbstbeschreibungen unabhängig von bestimmten und fraglos nicht allgemeingültigen metaphysischen, personenphilosophischen und theologischen Kon-texten meinen könnten. Als Begründungskonzepte halte ich sie darum für unbrauchbar, da ihre eigene Explikationsbedürftigkeit die des durch sie begründungstheoretisch zu sichernden Konzepts bei weitem übersteigt. Wenn wir hier überhaupt eine Explikation erhalten können, dann nur, wenn wir die Explikationsrichtung drehen und nicht das Menschenrecht durch Wert und Würde begründen, sondern Wert und Würde des Menschen mittels der menschenrechtlich geschützten anthropologischen Interessentrias deuten. Der dritte Grund für den nüchternen, unemphatischen Charakter des hier skizzierten Universalismus ist seine qualifizierte Kompatibilität mit dem sittlichen Partikularismus. Weder der normative Orientierungsbedarf staatlichen Handelns noch der Sittlichkeitsbedarf kultureller Sinnstiftung noch der Moral- und Wertbedarf individueller Lebensführung lässt sich mit den Unterscheidungsleistungen der oben beschriebenen drei Normgruppen des menschenrechtlichen Universalismus bestreiten. Die Orientierungsfähigkeit des anthropologisch Allgemeinen und normativ Transzendentalen muss immer in sittlich-kulturelle, moralisch-individuelle und rechtlich-politische Konkretheit eingebettet werden. Das Allgemeine und Transzendentale ist als solches unwirtlich und bedarf vielfältiger Kontextualisierung und Partikularisierung, um Wirksamkeit entfalten zu können. Es bietet aber auch die anthropologische Syntax, über deren Formierungsgebote sich der nach Sinn und Bedeutung strebende individuelle und kollektive menschliche Lebensausdruck nicht hinwegsetzen darf.

 

Autor

Wolfgang Kersting ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel.