Ernesto Laclau: Zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus

Von André Brodocz

Ernesto Laclau und Chantal Mouffe haben 1985 mit Hegemony & Socialist Strategy: Towards a radical democratic politics dem Marxismus buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. So beschränken sie sich nicht etwa darauf, dem Fundament der Ökonomie andere aufweichende Strukturen wie Kultur oder Politik beizumischen oder es durch ein anderes Fundament wie den rational handelnden Akteur zu ersetzen. Vielmehr wenden sie sich radikal von jeder Möglichkeit ab, Gesellschaft und Politik überhaupt auf ein letztes, determinierendes Fundament, eine Essenz, zu stellen. Unter der Zuhilfenahme verschiedener philosophischer Überlegungen - vor allem jene von Jacques Derrida, Michel Foucault und Jacques Lacan - haben Laclau und Mouffe eine anti-essentialistische Hegemonietheorie vorgelegt, die die Konstruktion sozialer Identitäten als politischen Kampf diskursanalytisch zu er-klären beansprucht. Während Chantal Mouffe in der Folge insbesondere den politischen Konsequenzen dieses Unternehmens nachgegangen ist, haben sich die Arbeiten von Ernesto Laclau der politik-philosophischen Weiterführung verschrieben. Im Zuge dieser Fortentwicklung ist das Konzept des leeren Signifikanten inzwischen ins Zentrum der Theorie gerückt. Mit ihm ist Laclau zufolge eine Antwort auf die Frage gefunden, wie ein Diskurs seine Einheit selbst bezeichnen kann. Diese Frage wiederum wird aufgeworfen, wenn sich, wie Laclau annimmt, eine soziale Identität nicht mehr aus einer ihr zugrunde liegenden Instanz ableiten läßt, sondern erst in einem doppelten Sinne diskursiv - nämlich als und im Diskurs - hergestellt wird. Die diskursive Konstruktion "ostdeutscher" Identität soll im folgenden als ein Beispiel dienen, Laclaus Thesen zu veranschaulichen.

Das Konzept des leeren Signifikanten

"Solidarität", "Beleidigt-Sein", "Abkassieren", "PDS", "blühende Landschaften", "De-Industrialisierung", "Arbeitslosigkeit", "Hoffen auf die Zukunft", "Reisefreiheit", "noch-nicht-Erreichtes", "Das-haben-wir-nicht-ge-wollt", "Selbsthilfe", "Stasi" waren die Antworten meiner Studierenden auf die Frage, was sie unter "Osten", "Ostdeutschland" bzw. "Ossis" verstehen. Ganz im Sinne von de Saussure ist dabei auch mit Laclau zu-nächst davon auszugehen, dass jeder dieser Begriffe bzw. Signifikanten - von Solidarität bis Stasi - seine Bedeutung bzw. sein Signifikat daraus gewinnt, dass er sich gegen an-dere Begriffe abgrenzt. Jeder Signifikant erhält ein Signifikat also nicht aus einer Identität mit dem von ihm bezeichneten Gegenstand, sondern aus der Differenz, die er gegenüber anderen Signifikanten zieht. Die Bedeutungsbestimmung eines Signifikanten ist darum immer davon abhängig, auf welche Weise er unterschieden wird: "Solidarität" bedeutet danach nicht "Abkassieren"; "Abkassieren" bedeutet wiederum nicht "Stasi", "Stasi" bedeutet nicht "Selbsthilfe" usw.

Aus diesem permanenten, nicht beendbaren Aufschieben von Bedeutungen in der Form des Verweisens auf andere Signifikanten schließt Laclau zweierlei: Erstens repräsentieren die Bedeutungen kein diskursives Außen, weshalb sie auch durch dieses nicht fixiert sind und im Diskurs stets aufgeschoben werden, so dass der Diskurs selbst nicht abschließbar ist. Zweitens ist das Außen eines Diskurses für diesen konstitutiv, weil erst die Unerreichbarkeit des Außen die diskursive Konstruktion von Bedeutung nötig macht. Ein Diskurs steht damit vor dem paradoxen Unterfangen, jenem Aufschub von Bedeutungsverweisen, der ihn erst möglich macht, Einhalt zu gebieten, um zumindest vorübergehend Bedeutungen zu sichern. Dies führt zu einer auch von Derrida immer wieder hervorgehobenen Konsequenz, dass die Möglichkeitsbedingung eines Diskurses - seine Unabschließbarkeit - zugleich die Bedingung der Unmöglichkeit ist, sich als end-gültig abgeschlossener Diskurs zu verewigen. Ein Diskurs kann sich also nicht schließen, muss aber immer so tun, als ob er abgeschlossen wäre, weshalb Laclau auch von einer "positiven Unmöglichkeit" spricht.

Abgeschlossen wäre ein Diskurs in dem Moment, da der stete Aufschub von Bedeutungen an die Grenze des Diskurses stößt. Hierfür müsste der Diskurs jedoch in der Lage sein, seine Grenze zum Außen zu be-zeichnen, er müsste also das Unbezeichen- bare, das das Außen von ihm unterscheidet, bezeichnen können. Dies ist letztlich insofern ein unmögliches Unterfangen, als eine Bezeichnung des Unbezeichenbaren diesem schon allein als Bezeichnung nicht gerecht werden kann. Wenn aber kein Signifikant von sich aus dazu geeignet ist, dann kann umgekehrt jeder Signifikant eines Diskurses dafür benutzt werden, die Grenze des Diskurses und damit die Einheit des Diskurses gegenüber seinem Außen anzuzeigen. Die Bezeichnung des Unbezeichenbaren erfordert Laclau zufolge einen Signifikanten ohne Signifikat: einen leeren Signifikanten.

Unter der hier angelegten differenztheoretischen Perspektive ist ein Signifikant schließlich leer, wenn er keine Differenz mehr zu anderen Signifikanten aufmachen kann. Die Entleerung eines Signifikanten wird dadurch hergestellt, dass er gleichzeitig mit vielen verschiedenen anderen Signifikanten in ein Äquivalenzverhältnis tritt. So unterschiedliche Signifikanten wie Solidarität, Abkassieren, Stasi, Selbsthilfe etc. werden mit dem "Osten" äquivalent, so dass es nahezu unmöglich wird anzugeben, was der "Osten" noch bezeichnet, wenn er einerseits Solidarität und anderseits Abkassieren bedeutet, wenn er sowohl für Stasi als auch für Selbsthilfe steht und wenn er nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch blühende Landschaften bedeutet. Im Unterschied etwa zu Hobbes, demzufolge ein Raum, der kei-ne Körper birgt, leer heißt, resultiert die Leere eines Signifikanten genau umgekehrt aus der Fülle der Bedeutungen, die ihm aufgrund seiner weitgestreuten Äquivalenz zugeschrieben werden.

Die "Logik der Äquivalenz" entleert allerdings nicht nur den Signifikanten "Osten", sondern stiftet zugleich die Diskurszugehörigkeit zwischen jenen Signifikanten, die in einem äquivalentiellen Verhältnis zum "Osten" stehen. Diese "imaginäre Schlies- sung" von Diskursen durch die Entleerung eines Signifikanten konstruiert die jeweilige Grenze eines Diskurses zu seinem Außen, welche Laclau aufgrund des unvermeidlichen Ausschlusses eines Außen durch den jeweiligen Diskurs als "antagonistisch" begreift, also nicht als einen synthetisch überwindbaren Widerspruch, sondern als "Notwendigkeit einer ewig feindseligen Spannung" (Nietzsche).

Das Politische neu denken

Anders als beispielsweise Niklas Luhmann oder Jürgen Habermas, die das Politische auf ein Teilsystem der modernen Gesellschaft begrenzen, sieht Laclau im Politischen eine zentrale Möglichkeitsbedingung des Sozialen. Es bezeichnet jenes dem Sozialen vorgelagerte Feld, das die Antagonismen der Diskurse eröffnen. Denn jeder Antagonismus führt in eine Situation der Unentscheidbarkeit, die entschieden werden muss: Jede antagonistische Situation - bzw. wie Laclau auch sagt, "Dislokation" - gilt einerseits als unentscheidbar, da es keine Regel, kein Programm, kein Gesetz gibt, das zur Besetzung des leeren Signifikanten nur vollzogen werden muss; andererseits kann diese Situation nicht offen gehalten werden, sondern verlangt nach einer Entscheidung, damit sich der Diskurs, also das Soziale, überhaupt konstituieren kann. Dass zwischen so unterschiedlichen Signifikanten wie Solidarität, Abkassieren, Stasi, PDS, blühende Landschaften usw. ausgerechnet über den Signifikanten "Osten" Äquivalenz gestiftet wird, die diesen Signifikanten entleert und somit die Identität der Gemeinschaft des Ostens diskursiv konstituiert, ist aus Laclaus Perspektive ein eminent politischer Akt und keinesfalls die "natürliche" Repräsentation eines außerdiskursiven Ost-Deutsch-Seins. Das Verhältnis eines leeren Signifikanten wie der des Ostens zu den anderen Signfikanten seines Diskurses, denen dieser Platz durch seine Besetzung vorenthalten wird, ist darum immer hegemoniell.

Mit dieser Reformulierung des Politischen gewinnt Laclau klassischen Kategorien wie der Ideologie, der Macht und dem Subjekt neue Seiten ab. So verspricht der politische Erfolg der Hegemonie paradoxerweise besonders dann Dauerhaftigkeit, wenn der politische Charakter seiner Durchsetzung vergessen ist und die Gemeinschaft gleichsam als "natürlich" erscheint. Gründungs-mythen, die die Spuren der Kontingenz des Anfangs verwischen, indem sie sich als Quelle aller Sozialität etablieren, sind für Laclau als "Ideologien" zu verstehen, weil sie von der Dislokation ablenken, die jeder diskursiven Identität zugrundeliegt. Im Un-terschied zur klassischen Ideologietheorie können die Ideologien in Laclaus Sinne aber nicht den Blick auf das wahre Wesen der entsprechenden sozialen Identität verzerren, weil es dieses aus anti-essentialistischer Perspektive gar nicht geben kann. Vielmehr erscheinen Ideologien sogar nötig, weil sie jene Abschließbarkeit unterstellen lassen, die zumindest vorübergehend helfen kann, Bedeutungen zu sichern. Ein weiterer Aspekt des Feldes des Politischen, d.h. der Entscheidungen, die auf unentscheidbaren Boden getroffen werden, stellt Macht dar, die damit als eine Form sozialer Beziehungen erst möglich wird. Diese Macht ist al-lerdings nicht nur destruktiv in dem Sinne, dass die Aktualisierung der einen Entscheidung gegen die Aktualisierung anderer Entscheidungen durchgesetzt werden kann, sie ist, so Laclau, auch kreativ, weil mit ihrer Ausübung Sozialität erst in die Welt kommt. Letztlich ist das Feld des Politischen sogar Bedingung unserer Subjektivität, weil es uns die Entscheidung dieser Unentscheidbarkeiten abverlangt. Zugleich zeigt dies an, dass auch die individuelle Konstruktion von Identität ein politischer Akt ist: Sich als Ossi zu verstehen, resultiert Laclaus Hegemonietheorie zufolge gerade nicht daraus, dass man nur bezeichnet, was man ist, sondern dass man sich mit etwas identifiziert, obwohl man sich auch mit etwas anderem identifizieren könnte.

Zwischen Dekonstruktion und Pragmatismus

Die Bedeutung Laclaus für die politische Philosophie und Theorie liegt zunächst in dieser Weiterführung der Dekonstruktion für politische Fragen. Dies hat dazu geführt, dass das Politische als eigenständige Kategorie jenseits des Staates bzw. des politischen Systems wieder in den Blick genommen werden kann, und zwar ohne dass auf die anthropologischen Altlasten, die dabei unweigerlich mit dem Namen Carl Schmitts verbunden werden, zurückgegriffen werden muss. Zugleich wirft Laclau auch die Frage auf, ob aus einer anti-essentialistischen politischen Theorie ein normativer Gehalt und damit eine Relevanz für die politische Praxis gewonnen werden kann. Mit seiner Antwort stellt er sich zwischen die anti-essentialistischen Positionen Rortys und Derridas. Einerseits folgt er Rorty, wenn er die Frage nach der Begründbarkeit der Demokratie als eine politische und keine philosophische Frage begreift, weil es kein wahres Wesen politischer Ordnung gibt. Dies trennt beide von Derrida, demzufolge nur die Demokratie über die Unbegründbarkeit jeder politischen Ordnung begründet werden kann. Andererseits sieht Laclau ähnlich wie Derrida, dass seine Theorie selbst nicht "nur", wie Rorty annimmt, philosophische, sondern bereits immer schon politische Praxis ist. Die Hegemonietheorie, so Laclau, kann deshalb als ein Beitrag gelesen werden, der in politischer Hinsicht beansprucht, dem leeren Sig-nifikanten "Demokratie" zu einer hegemonialen Stellung in der diskursiven Konstruktion moderner politischer Ordnung zu verhelfen. In politik-philosophischer Hinsicht erschließt sie damit eine Position, die zwischen Derridas Dekonstruktion und Rortys Pragmatismus angesiedelt werden kann.

Literatur:

Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991

Ernesto Laclau, Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Mesotes - Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog (2/1994), S. 157-165

Ernesto Laclau, Universalismus, Partikularismus und die Frage der Identität, in: Mesotes - Zeitschrift für philosophischen Ost-West-Dialog, (3/1994), S. 287-299

Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik: Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus. Wien 1998.

Urs Stäheli, Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, in: André Brodocz/ Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart: Eine Einführung, Opladen 1999, S. 143-166

 

Der Autor

André Brodocz

Diplom-Politologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Veröffentlichungen zu dieser Thematik: "Internet"- ein leerer Signifikant der Weltgesellschaft: Diskurstheoretische Überlegungen im Anschluss an Laclau, in: Berliner Debatte INITIAL 9 (1998), S. 85-91.