Aktuelle Herausforderungen des Philosophierens

Vorgetragen bei der gemeinsamen wissenschaftlichen Tagung der Argentinisch-Deutschen und der Chilenisch Deutschen Gesellschaft zum Thema "Brennpunkte der Philosophie der Gegenwart am Beginn eines neuen Milleniums" im Südschwarzwald (Gustav Siewerth Akademie, Weilheim-Bierbronnen) im Herbst 2000

1. Welche historischen Ereignisse haben die Entwicklung der Philosophie in diesem Jahrhundert am stärksten geprägt? Welche historischen Ereignisse dieses Jahrhunderts hätte die Philosophie noch aufzuarbeiten?

In der theoretischen Philosophie haben m. E. keine einzelnen historischen Ereignisse, sondern wissenschaftliche, technische und industrielle Entwicklungen das Leben in der heutigen Welt und auch die Philosophie am stärksten geprägt: zunächst der große Erfolg der exakten Wissenschaften (z.B. Axiomatisierung in der Mathematik), die zur Entwicklung der Grundlagenfrage, auch der Grundlagenkrise der Mathematik am Beginn des Jahrhunderts geführt haben und somit zur Entwicklung des Formalismus, des logischen Atomismus und der Metamathematik einschließlich der Beweistheorie und Metamethodologie. Die moderne analytisch-logische Philosophie wäre ohne die präzise Entwicklung der Axiomatisierung, ohne die Entdeckung der mathematischen Paradoxien -, von der von Burali-Forti bis hin zu jener von Russell - nicht möglich gewesen. Ebenso schließlich nicht ohne Gödels entscheidende Einsicht der prinzipiellen Beschränktheit ausdrucksstarker exakter logisch-mathematischer wie auch exakt-wissenschaftlicher Theorien. Die Entwicklung der Grundlagendiskussion der Wissenschaften - zumal in der Physik aufgrund der Ausarbeitung der Relativitätstheorie und der Quantentheorie in Auseinandersetzung und im Gegensatz zu den klassischen Newtonschen und Maxwellschen Theorien - hat zur differenzierten Entwicklung der Wissenschaftstheorie und der auf Exaktheit hinzielenden analytischen Philosophie geführt (zumal unter den Gesichtspunkten des logischen Positivismus und des logischen Empirismus im Wiener Kreis).

In der theoretischen Philosophie ist nach wie vor eine liberalisierte und weitgehend modifizierte kantianische Position ohne absolutistische Letztbegründungsansprüche sinnvoll: das Zusammenwirken von "Weltfaktoren" und strukturierenden (formierenden) Beiträgen des Erkennenden läßt sich auch in einer modernisierten aktivistischen Erkenntnistheorie (etwa der schematisierenden Interpretationen und Interaktionen) vertreten, ohne daß ein praktischer und auch theoretischer Restrealismus aufgegeben werden müßte.

In der theoretischen Philosophie würde ich gern - wenn auch nicht unbedingt! - die Einsichten der wissenschaftstheoretischen Philosophie einschließlich der Logik, der Metamathematik und eines nicht dogmatisch verhärteten kritischen Realismus festhalten wollen, der freilich hinsichtlich jeglichen "Erfassens" (handelnd wie erkennend verstanden) durch konstruktivistische Gesichtspunkte (etwa des methodologischen Interpretationismus und Konstruktivismus) in gewisser Weise variiert wird. In der Philosophie des Mentalen müssten kognitive, zeichen- und systemtheoretische Ansätze mit neurowissenschaftlichen und (nicht behavioristisch beschränkten) lerntheoretischen verbunden werden. Funktionalistische, nicht unbedingt eng-naturalistische Ansätze sollten mit einem methodologischen hypothetischen Transzendentalismus verbunden werden, auch ohne dass Letztbegründungsansprüche absolut aufrecht erhalten werden müssten. Philosophische Diskussionen, Rationalität und Erkenntnis gehen über wissenschaftliche Erkenntnisse hinaus und haben sich unter dem Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie und ihrer innigen Verquickung mit handlungstheoretischen und zeichentheoretischen wie auch wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten gerade auch den Fragen der Phänomenalität des Erfahrens und Erlebens zu widmen (z. B. Qualia-Problematik, Philosophie des Bewusstseins usw.).

Seit den 30er und 40er Jahren kommt nun verstärkt die Entwicklung der Informationswissenschaften und -techniken hinzu, die in neue Problemstellungen der Erkenntnistheorie, Philosophie des Wissens, der Entwicklung von Kognitionswissenschaften mündet(e) und auch die Fragen der mentalen Repräsentation zunehmend beeinflusst(e). Hierzu wurden mit der Entwicklung der neurowissenschaftlichen Disziplinen und Techniken in jüngster Zeit die Fragen der Philosophie des Geistes und des Bewußtseins, also der mentalen Phänomene, besonders aktuell - eine Entwicklung, die andauert.

Generell scheinen mir nur kombinierte Mischungen bestimmter Denktraditionen geeignete Entwicklungsperspektiven für die Zukunft darzustellen. Z. T. gehen diese allerdings auch auf Ansätze voriger Jahrhunderte zurück. Ein wohlverstandener hypothetisch-schwacher Transzendentalismus sollte mit einem nichtdogmatischen Pragmatismus und kritischen Realismus verbunden werden. Die Aufklärungsphilosophie der Vernunftmöglichkeiten hat nach wie vor ihre Entwicklungspotenzen - allerdings nicht in dogmatisch-absolutistischer Absicht, sondern eher als Orientierungsleitlinie, wenn man theoretische wie praktische Vernunft als "Interpretationskonstrukte" für die Möglichkeiten eines am "Besseren" orientierten Handelnden und Erkennenden versteht, ohne die untergründigen (aber zu zügelnden und zu regelnden) Irrationalitäten zu leugnen.

2. Welche Ereignisse haben die Entwicklung der angewandten praktischen Philosophie besonders beeinflusst?

Einerseits hatten die Entwicklung und die Krise der Mathematik und der Exakten Wissenschaften mich zur Logik und Wissenschaftstheorie geführt. Andererseits legten besonders die Entwicklung und die Abwürfe der Atombomben die Notwendigkeit von Studien zur Verantwortung in Wissenschaft, Technik, aber auch in der Industrie nahe und haben zu einer diesbezüglichen philosophischen Entwicklung der angewandten Moralphilosophie und Ethik beigetragen. Angesichts der beeindruckenden Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie der exakten Wissenschaften stellt sich die Frage, wieweit deren Methoden auch auf Sozialwissenschaften anwendbar sind. Dies war auch ein wesentlicher Gesichtspunkt, der zudem durch die besondere Ansprüchlichkeit der einst (nach der Physik) so genannten "Jahrhundertwissenschaft" Soziologie (und der angewandten, normativen Sozialphilosophie) provoziert wurde. In beiden Bereichen ergab sich die Notwendigkeit von methodologischen Kritiken nicht nur der Folgerungen, sondern auch der wissenschaftstheoretischen Grundpositionen selbst. Angesichts der moralphilosophischen Herausforderung scheint mir besonders der Gesichtspunkt der konkreten Humanität wichtig zu sein. Albert Schweitzers Position der "Ehrfurcht vor dem Leben" und sein Beispiel der Humanitätsgesinnung haben mich beeinflusst (auch das "historische" Ereignis von Lambarene): Hier gilt es weiterzuarbeiten, ohne dass wir den dogmatischen Restrationalismus und die theoretischen Schwierigkeiten (Wertrangfolgeproblem) Schweitzers einfach übernehmen dürften.

In der praktischen Philosophie scheint mir die Humanitätsorientierung besonders wichtig, wobei auch ein "humaner", ja weiser, Umgang mit Tieren und Ökosystemen einbegriffen sein sollte. In neuerer Zeit habe ich spezifisch im Gegensatz zu der eher formellen, an Verfahren des Rechts orientierten und auch an der Kantischen Begründungsphilosophie ausgerichteten Ethik die Gesichtspunkte der "konkreten Humanität" sowie der wohlverstanden situationsethischen Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt.

Hinsichtlich der historischen Gesamtdeutungen war zweifellos die Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Situation der Ungesichertheit sowie der Angst und der vor Beginn des Jahrhunderts noch unerwarteten Phänomene des Irrationalen sowie des Un(ter)bewussten besonders wichtig. Die Psychoanalyse sowie die Existenzphilosophie griffen diese Erfahrung auf und entwickelten sie zu spezifischen philosophischen Forschungsgebieten. Inhumanitäten, die in Materialschlachten, schon des Ersten, aber erst recht des Zweiten Weltkrieges als Krieg gegen Zivilbevölkerung sowie im Holocaust und Gulag sowie in Hiroschima und Nagasaki ihre Extrempunkte fanden - neuerdings unerwarteterweise, wiederum sogar in Europa, in Ex-Jugoslawien -, haben erhebliche philosophische Relevanz für die früher noch eher optimistische geschichtsphilosophische Gesamtdeutung des Schicksals der Menschheit, für die Anthropologie, (Tiefen-)Psychologie und vor allem für die Ethik. Die detaillierte moralphilosophische Auseinandersetzung mit diesen Extremereignissen und Inhumanitäten ist m. E. noch zu wenig in Angriff genommen worden. Entsprechend wird die Fragestellung unter dem Gesichtspunkt der Humanität in der Ethik eine stärkere Rolle für die praktische Philosophie gewinnen - im Zuge der allgemein feststellbaren Zuwendung der heutigen Philosophie auch zur Lebenspraxis: Tendenzen wie die Technisierung und Bürokratisierung der Welt, der konformistischen Massenerscheinungen in der Nutzung und Gestaltung der Gesellschaft und sozialen Umwelt, aber gerade auch die Phänomene der künstlichen, technisch gemachten oder geprägten Welt und die Herausforderung der Techno-Öko-Sozio-Systeme angesichts der kontinentalen und globalen Umweltprobleme und der Bevölkerungsexplosion auf dem Planeten sind noch aufzugreifen. Dasselbe gilt für die moralische Aufarbeitung der Anwendungsprobleme und Möglichkeiten der Genbiologie, der systemtechnokratischen Trends umfassender Computerisierung wie auch der Gefährdung echter Humanität angesichts der immer mehr um sich greifenden Institutionalisierung, Ökonomisierung, Globalisierung sowie der Bevölkerungsexplosion und der drohenden ökologischen Krise. (Philosophisch aufzuarbeiten wären auch noch die "Ereignisse" der bemannten und unbemannten Raumfahrt, zumal in anthropologischer und technikphilosophischer Sicht.) - Ein herausragendes Ereignis für die Weltethik bedeutet(e) zweifellos die UNO-Deklaration der Menschenrechte (1948), deren 50jähriges Jubiläum vor kurzem gewürdigt wurde.

3. Welche Aufgaben erscheinen nun besonders dringlich am Beginn des 21. Jahrhunderts?

Zweifellos weiterhin die philosophische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Darwinismus, der Evolutionstheorie, der Soziobiologie, der Genbiologie. Ferner die Weiterentwicklung der Humanitätsidee und der Orientierung daran in allen praktischen Zusammenhängen angesichts der überbordenden systemtechnokratischen relevanten Tendenzen (umfassende Computerisierung, Informatisierung, Technisierung, Ökonomisierung) und der Biologisierung. Zentral bleibt die Stellung des Menschen und der Sinn menschlichen Lebens und techno-wissenschaftlichen Entwickelns angesichts der Konfrontation mit neueren Ergebnissen der Kosmologie, mit den beginnenden Möglichkeiten länger andauernder extraterrestrischer Aktivitäten. Immer dringlicher werden Sozialphilosophie und Moralphilosophie von Institutionen und sekundären (kollektiv oder korporativ) Handelnden sowie Verantwortungsprobleme samt deren Verteilungs- und Beteiligungsfragen. Die Philosophien von Technik, Wirtschaft, Industrie und Wissenschaft im Komplexverbund sowie die Analyse der menschenbeeinflussten Techno-Öko-Sozio-Systeme werden künftig reüssieren - daneben ökologische Philosophie (Ökophilosophie) und ökologische Ethik. Zu betonen ist m. E. in Zukunft auch die Rückkehr zu Konzeptionen der Weisheit, der Selbstbesinnung und Selbstbeschränkung sowie des sogenannten qualitativen - statt eines bloß quantitativen - Wachstums. Das Gleiche gilt für die Menschenrechte (s.o. 1) und die Philosophie der Menschenrechte, für moral- wie rechtsphilosophische Toleranz und konkrete Humanität. - Fragen einer über die unterschiedlichen Kulturen hinweggreifenden Minimalmoral gewinnen derzeit an Dringlichkeit. Nötig ist ein verstärktes Studium der Vereinbarkeit unterschiedlicher Religionen und Kulturen (unter Nichtaggressions-, Nichtmissionsaspekten). Dasselbe gilt für eine verstärkte Analyse der unterschiedlichsten philosophischen Traditionen auch außerhalb des Abendlandes unter dem Gesichtspunkt des Kulturvergleichs, der Herausarbeitung interkulturell gültiger Universalien (nicht nur in der Logik) und somit für die komparative Philosophie theoretischer wie auch praktischer Provenienz.

Autor

Hans Lenk ist Professor an der Universität Karlsruhe und einer der fleissigsten und profiliertesten Philosophen in Deutschland; seine Hauptforschungsgebiete sind Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie, wobei Lenk einen eigenständigen Pragmatismus vertritt..