Marcuse: Analysen für den Geheimdienst

Ende 1942 nahm Herbert Marcuse in den USA eine Stelle beim amerikanischen Geheimdienst an. Seine Aufgabe bestand darin, eine "Feindanalyse" zu liefern. Peter Erwin Jansen hat als Auftakt einer Reihe von Veröffentlichungen aus Marcuses Nachlass verschiedene kleinere dieser Analysen herausgegeben:

Marcuse, Herbert: Feindanalysen. Über die Deutschen. Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen und mit einer Einleitung von Detlev Claussen., 149 S., kt., DM 24.--, 1998, zu Klampen, Lüneburg

Enthalten sind die Texte "Die neue deutsche Mentalität", "Darstellung des Feindes", "Über psychologische Neutralität", "Über soziale und politische Aspekte des Nationalsozialismus", "Kriegs- und Nachkriegsgeneration", "Deutsche Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert", "33 Thesen" sowie "Ist eine freie Gesellschaft gegenwärtig noch möglich?"

Die Deutschen orientieren sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, so Marcuse 1942, und sie sprechen eine andere Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet. Innerhalb dieser Mentalität sind zwei Schichten zu unterscheiden:

die pragmatische Schicht (Sachlichkeit, das Denken in den Kategorien von Effizienz und Erfolg, von Mechanisierung und Rationalisierung)

die mythologische Schicht (Heidentum, Rassismus, Sozialdarwinismus)

Beide Schichten sind zwei Ausprägungen ein- und desselben Phänomens. Alle auf das individuelle Leben bezogenen Motive, Probleme und Interessen sind mehr oder minder direkt politischer Natur. Die traditionellen Schranken zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Staat sind gefallen. Die Bevölkerung ist von einer Rationalität durchtränkt, die alles an den Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit misst. Der Deutsche denkt in den Kategorien von Geschwindigkeit, Geschicklichkeit, Energie, Organisation und Masse. Mit dem Fortgang des Krieges wird die Bevölkerung jedoch zusehends von einem katastrophischen Fatalismus beherrscht, der die Stellung des nationalsozialistischen Regimes eher festigt als schwächt.

Der Nationalsozialismus kann als typisch deutsche Form der "Technokratie", d.h. als die nationalspezifische Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der Großindustrie begriffen werden. Die Arbeiterschaft ist in den Herrschaftsbereich der Industrie eingegliedert, die Hindernisse, welche die Sozialgesetzgebung einer solchen Eingliederung in den Weg gestellt hat, beseitigt. Statt dessen sind direkte politische Kontrollmöglichkeiten geschaffen. Industrielle, ministrielle und halboffizielle Partei-Bürokratie sind miteinander verschmolzen und der Staat an die Erfordernisse des industriellen Apparats angepasst. Alles, was in Gestalt moralischer Hemmnisse, Vergeudung und Ineffizienz der wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung im Wege steht, wird rücksichtslos entfernt. Der Krieg ist der deutschen Bevölkerung als ein geschäftliches Unternehmen geschildert worden, als hohe und mit furchtbaren Risiken behaftete Investition, zu der es keine Alternative gebe und deren Anfangserfolge vielversprechend seien. Allerdings ist die Meinung, mit dem Verschwinden des Nationalsozialismus werde diese Mentalität verschwinden, voreilig, entspricht sie doch einer gesellschaftlichen Organisationsform, die mit dem Nazisystem nicht identisch ist. Sie wird erst dann verschwinden, wenn die Vorherrschaft der mit dem Regime und, mehr noch, mit dessen Motiven verbundenen Gruppen beseitigt und in einer demokratischen Gesellschaftsordnung aufgehoben ist.

Das Neuheidentum hat die Aufgabe, die psychischen und emotionalen Widerstandskräfte gegen die rücksichtslose imperalistische Eroberungspolitik zu brechen. Die sozialen Gegensätze sind zudem in einem solchen Ausmaß "vereinheitlicht", dass die große Mehrheit der Bevölkerung der kleinen Führungsclique aus Industriellen und Regierungsmitgliedern gegenübersteht. In Wirklichkeit, so Marcuse, sind dies Manifestationen ein- und derselben Rationalität.

Die Sprache des Nationalsozialismus zeigt eine durchgängige Verbalisierung von Nomina auf, die Vereinfachung komplexer Satzstrukturen und die Transformation persönlicher Verhältnisse in unpersönliche Dinge und Ereignisse. Diese Sprache charakterisiert die Anpassung an die technische Rationalität, auch wenn sie sich um "irrationale" Vorstellungen wie Volk, Rasse, Blut und Boden sowie Reich zentriert. Alle diese Begriffe sind zwar ihrer Form nach Universalien, schließen in Wirklichkeit Universalien jedoch gerade aus. Sie stehen für die Nazis außerhalb des natürlichen Zusammenhangs der menschlichen Zivilisation und gehören einer anderen, höheren Ordnung an. In dieser Ordnung zählt die "natürliche" Ungleichheit der Menschen mehr als die "künstliche" Gleichheit, der Körper mehr als der Geist, Gesundheit mehr als Moral, Macht mehr als Gesetz, starker Hass mehr als schwächliches Mitgefühl. Die angebliche Irrationalität der nationalsozialistischen Mythologie entpuppt sich schnell als "Rationalität" imperialistischer Beherrschung. Dadurch, dass der Nationalsozialismus die mythologische Schicht aktivierte, konnte er Kräfte freisetzen, die durch den christlichen Zivilisationsprozess gezähmt und gebändigt wurden, die aber im Verborgenen weiter existierten und die jetzt eine der größten Bedrohungen für die westliche Zivilisation darstellen. Die intelligenteste nationalsozialistisch inspirierte Interpretation der neuen Mentalität findet sich in Ernst Jüngers Der Arbeiter.

Begünstigt wurde dies durch die Tatsache, dass breite Schichten der deutschen Bevölkerung in feudalen Verhältnissen lebten und die Gesellschaft von "patriarchalen" und feudalen Verhältnissen durchsetzt war. Für viele Menschen stellte die Regierung keine gesellschaftliche, sondern eine natürliche Institution dar, die mit dem eigenen Leben nichts zu tun hatte und der sie sich bedingungslos unterordnen konnte. Eine besondere Rolle spielt zudem die "Natur" im Denken und Fühlen der Deutschen. Der Nationalsozialismus appelliert an die jeder Gesellschaftsordnung zugrundeliegende "natürliche Ordnung", an die "seelischen Untergründe" des Volkstums und die "seelische Unterwelt". Dies ermöglicht es, die aggressiven Tendenzen gegen die Kranken und Schwachen, gegen die Fremden und Außsenseiter, gegen Intellektuelle und kompromisslose Kritiker, gegen Luxus und augenfälligen Müßiggang zu richten. Der Nationalsozialismus hat seinen Anhängern eingehämmert, dass die Welt eine Kampfbahn ist, in der der mächtigste und effizienteste Konkurrent das Rennen gewinnt. Wer also in der Welt vorankommen will, tut gut daran, alle transzendentalen Ideale, die den wirkungsvollen Einsatz seiner Mittel behindern, über Bord zu werfen und sich an die nackten Tatsachen zu halten.

Der Nationalsozialismus ist nicht mehr ein Staat im traditionellen Sinne des Begriffs, und er ist weder mit den bekannten Formen des Absolutismus noch mit denen der Demokratie identisch. Er tendiert eher dazu, jede Trennung zwischen Staat und Gesellschaft abzuschaffen, indem er die politischen Funktionen auf die Gesellschaft überträgt, also auf die eigentlich herrschende soziale Gruppe. Der Nationalsozialismus tendiert zu einer direkten und schnellen Selbstherrschung der vorherrschenden sozialen Gruppen über den Rest der Bevölkerung. Die Merkmale eines modernen Staates sind: Autorität des Gesetzes, Gewaltmonopol und Souveränität. Alle drei Merkmale sind im nationalsozialistischen Staat nicht mehr vorhanden. Das ur-sprüngliche Konzept des Gesetzes als universell gültiges und als gleich angewandtes wurde ver-worfen und durch eine Vielfalt partikularer Rechte ersetzt, eines für die deutsche Rasse, ein anderes für die minderwertigen Rassen, eines für die Partei, ein anderes für die Armee, wieder ein anderes für gewöhnliche Volksgenossen. Das Prinzip der Souveränität ist im Nationalsozialismus abgelöst durch die Konzeption des rassischen "Lebensraumes". Dieser Lebensraum ist flexibel und grenzenlos; er neigt dazu, selbst die entferntesten nationalen Grenzen zu überwinden. Eine neue Gewaltenteilung ist in der dreifachen Souveränität von Partei, Staat und Armee verwirklicht.

Genauso wie der Nationalsozialismus den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft verneint, verneint er denjenigen zwischen Gesellschaft und Individuum. Das Individuum wird in dem Sinne verzerrt "sozialisiert", dass die Gesellschaft selbst seine unterdrückten und entarteten Instinkte und Interessen übernimmt und sie auf einer internationalen Bühne zur Geltung bringt. Der Nationalismus macht aus ihnen die Interessen der Nation und verfolgt sie durch Eroberung und Krieg. Der letzte Stein in diesem Gebäude ist die Abschaffung kultureller Tabus.

Die Bereitschaft des deutschen Volkes zur Zusammenarbeit mit den Alliierten wird davon abhängen, welche Haltung das amerikanische Volk während der entscheidenden Kriegsphasen Deutschland gegenüber einnimmt. Die deutsche Bevölkerung fürchtet einerseits die Amerikaner als ihren gefährlichsten Feind, andererseits bewundert sie sie und ist bereit, ihnen nachzueifern. Wichtig wird es sein, dem deutschen Volk klarzumachen, dass die Politik der Nazis dazu diente, ganze Schichten der "arischen Bevölkerung" zu enteignen und zu versklaven. Damit könnten mehr oder weniger verdeckte Sympathien, die vielen Maßnahmen der Nazis außerhalb Deutschlands entgegengebracht wurden, die Grundlage entzogen werden.