Der Fall Sloterdijk

Mit seinem Buch Kritik der zynischen Vernunft war Sloterdijk 1983 auf einen Schlag bekannt geworden. Die Möglichkeit, mit dem Bestehenden auf eine heitere Art einverstanden zu sein, so stellt Michael Schefczyk im Rückblick fest, habe damals die intellektuelle Kultur fasziniert.

Sloterdijk ist seit damals mit inzwischen achtzehn Büchern, vor allem aber mit Beiträgen zu verschiedensten Themen in den Medien, nicht nur im Gespräch geblieben, er ist in den Augen der Öffentlichkeit neben Jürgen Habermas zu dem Philosophen avan-ciert. Insbesondere hat es Sloterdijk wie kein zweiter Philosoph verstanden, sich der Tendenz des Fernsehens, die Unterhaltung in den Vordergrund zu stellen, anzupassen: Sloterdijk brilliert in jeder Talkshow mit seiner Kunst, pointiert zu formulieren. Seine Sätze würden mitunter "miteinander kopulieren und eifrig schöne Sätze gebären", charakterisiert Ulrich Greiner bewundernd und gleichzeitig imitierend, Sloterdijks Diktion.

Sloterdijk hatte erkannt, daß wir auf eine gnadenlose Überbietungskultur zusteuern, in der nur derjenige oben bleibt, der sich selbst immer mehr ausreizt. So bestechend sein sprachartistischer Stil wirkte, so blieb der Inhalt "ohne Tiefgang, oberflächlich und politikwissenschaftlich naiv" (Horstmann). Und die Medien öffneten ihm bereitwillig ihre Spalten. Noch nie, so schrieb 1996 ein Zeit-Leser nach der Lektüre eines Sloterdijk-Textes, sei er während seiner "regelmäßigen vierteljahrhundertwährenden Zeit-Lektüre je auf einen Beitrag vierganzseitigen Kalibers aus der Feder eines Einzelnen gestoßen". Einen Fingerzeig darauf, bei welcher Leserschaft Sloterdijk ankommt, gibt das Buch Philosophie für Angeber von Anton Sterzl. Als ideale Sloterdijk-Leserin ortet Sterzl den Typus der älteren Lehrerin, die gerne Rilke und Benn liest, auf Trennkost achtet und mit Vorliebe Violinkonzerte besucht.

In politischer Hinsicht driftet Sloterdijk - wie viele ehemalige Linke - allmählich nach rechts ab. Im Auftreten zeigt der ehemalige Kyniker häufig Primadonna-Allüren, wirkt zusehends arrogant und entdeckt die Medienwirksamkeit von Provokationen. Von den Fachphilosophen, bei denen Argumente zählen, wird Sloterdijk schlicht ignoriert: Argumente findet man bei ihm nicht. Die Abneigung ist gegenseitig. Der einzige von ihnen, den er bewundert, ist Habermas. Kurz vor dem die Gemüter bewegenden Elmauer Vortrag erzählte Sloterdijk dem ihn besuchenden Schefczyk stolz, Habermas ha-be damals, 1983, seinen Stil eine "literarisch glanzvolle Verbindung von philosophischer Essayistik und Zeitdiagnose" genannt und ihn "zwischen Heine und Heidegger" angesiedelt. Das hat sich inzwischen geändert. Habermas hat sich der Auseinandersetzung mit Sloterdijk entzogen, und aus der Bewunderung ist Rivalität geworden. Dabei nimmt Sloterdijk durchaus wahr, wie unterschiedlich die Rezeption in der Fachwelt ist: Auf siebzig Habermas-Zitate kommt in der philosophischen Literatur ein einziges von Sloterdijk.

Sloterdijk hat es in jüngster Zeit nicht bei seiner Essayistik belassen; er hat angefangen, "große Philosophie" zu betreiben und ein spekulatives geschichtsphilosophisches Opus magnum mit Titel "Sphären" auf den Markt zu bringen. Seine Diskurse führt er dabei mit Platon, Nietzsche, Spengler und Heidegger. Damit setzt er eine typisch deut-sche Tradition der Philosophie fort, die sich durch die Tiefe des Gedankens, Dunkelheit der Rede und Verachtung der Argumentation auszeichnet. Allerdings weiß selbst das ihm wohlgesonnene Feuilleton mit dem Werk wenig anzufangen. "Wozu das alles? Wozu große Theorie, wenn es dabei so we-nig zu lachen gibt?", fragt etwa Schefczyk. Sloterdijk hingegen sieht hinter solcher Kritik gezielte Machenschaften am Werk.

Sloterdijks Ehrgeiz geht aber noch weiter: Er mischte sich in die Programmpolitik des Suhrkamp-Verlages ein, erstellte ein negatives Gutachten über dessen Theorie-Programm und will dieses zugunsten seiner eigenen essayistischen Art, Philosophie zu treiben, verändern. Dieses Einmischen führte zwischenzeitlich zum frustrierten Aufgeben des früheren Cheflektors für das Theorieprogramm, während Sloterdijk neben Jürgen Habermas zum Programmberater avancierte.

Die Elmauer Rede

Anläßlich der Basler Humanismus-Feierlichkeiten findet eine Tagung über "Neue Wege des Humanismus" statt. Eingeladen wird auch Peter Sloterdijk, und er macht sich dabei, programmgemäß, Gedanken über den Humanismus. Und er trägt den Baslern eine brillante Rede vor mit dem Titel "Regeln für den Menschenpark. Eine Antwort auf den Humanismusbrief" - von Büchern und Freundschaft ist dabei die Rede und davon, daß Humanismus eigentlich die Hoffnung sei, durch Lesen die dunklen, die bösen Seiten des Menschen zu überwinden. So et-was gefällt in Basel, und andere, etwas merkwürdig klingende Sätze des Vortrags hat man weise überhört und damit Sloterdijks mutmaßliche Absicht, einen kleinen Skandal zu provozieren, klug unterlaufen. Denn Sloterdijk sei es, so stellt rückblikkend Thomas Meyer in der Berliner Zeitung fest, gehe es mit seinem Vortrag letztlich um die Frage: "Wie weit kann ich gehen, bis man mir entgegentritt?"

Der Verkauf seiner Software-Firma hat es einem Dietmar Müller ermöglicht, das bayrische Schloß Elmau zu übernehmen. Nun organisiert er dort Gespräche in erlauchtem Kreis mit prominenten Vertretern aus Wissenschaft und Politik. "Globalisierung in Politik und Religion" oder "Die Amerikanisierung der Welt" sind solche Themen. Eines dieser Symposien mit sechzehn Philosophen und zwei Theologen galt dem Thema "Jenseits des Seins - Philosophie nach Heidegger". Mitorganisatoren waren das Van-Leer-Institut Jerusalem und das Franz-Rosenzweig-Center der Hebräischen Universität Jerusalem. Um ein breites Echo im gehobenen Feuilleton zu erreichen, wurden zudem Vertreter der wichtigsten überregionalen Zeitungen eingeladen, und diese kamen auch, obwohl der Untertitel der Veranstaltung - "Die ethisch-theologische Wende der Philosophie nach Heideggers Destruktion der Ontotheologie" - ein esoterisches Unternehmen anzukündigen.

Auch Peter Sloterdijk war eingeladen, und er hat hier seinen Basler Humanismus-Vortrag, der unter anderem Heidegger zum behandelt, wiederholt. Von 1789 bis 1945 sei, so führte Sloterdijk in diesem Vortrag aus, die Zeit des Nationalhumanismus gewesen, die Zeit der Alt- und Neuphilologen, eine Zeit, die nun vorüber sei: die Telekommunikation habe den neuzeitlichen Humanismus als Bildungsmodell abgelöst. Und hier streut Sloterdijk, gleichsam nebenbei, seine erste Provokation ein: "Denn ausgerechnet am grellen Ende der nationalhumanistischen Ära, in den beispiellos verdüsterten Jahren nach 1945, sollte das humanistische Modell eine Nachblüte erleben".

Martin Meggle, der mit seiner Berichterstattung den "Fall Sloterdijk" mit ausgelöst hat, berichtet in der Frankfurter Rundschau: "Dieser Satz war für die Kollegen aus Israel aus verständlichen Gründen ein Affront". Der Historiker Saul Friedländer habe um eine Stellungnahme gebeten, was Sloterdijk jedoch verweigerte. Die Spannung sei gewachsen, bis die Veranstalter schließlich vorschlugen, eine Diskussionsrunde einzuberufen, einem Verlangen, dem Sloterdijk habe nachgeben müssen. Auf eine erneute Nachfrage habe Sloterdijk schließlich geantwortet: "different calendars of terror have to be accepted". Er habe eine "sportlichere Auffassung" von Philosophie und verspüre überdies ein großes Verlangen, sich mit "starken Feinden" zu messen.

In der Süddeutschen Zeitung berichtete Rainer Stephan über die eigentliche These des Vortrags, die nun für die weitere Diskussion zentral wird. Für Heidegger sei es in seinem Humanismusbrief darum gegangen, so führte Sloterdijk in seinem Vortrag aus, den Menschen in eine Zähmung einzubeziehen, die tiefer gehe als "die humanistische Entbestialisierung", und zwar dadurch, daß er den Menschen in eine Entsprechung zum Sein binde. Damit erhebe Heidegger das Sein zum Autor aller wesentlichen Brie-fe und sich selbst als dessen aktueller Schriftführer. Dabei, so Sloterdijk weiter, sei völlig unklar, wie eine solche Gesellschaft aus Nachbarn des Seins verfaßt sein könnte. Bedeutsam sei jedoch, daß Heidegger den Menschen auf eine über alle huma-nistischen Erziehungsziele weit hinausweisende besinnliche Askese verweise. Der Hu-manismus hingegen biete sich für Heidegger als "natürlicher Komplize aller nur möglichen Greuel" an, die im Namen des menschlichen Wohls begangen werden kön-nen. Damit habe Heidegger die "Epochenfrage" formuliert: was zähmt denn den Menschen, "wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?" Eine Geschichte des Heraustretens des Men-schen in die Lichtung habe Heidegger übersehen, fährt Sloterdijk fort, nämlich die natürliche Geschichte der Evolution hin zur Sprachbildung, von Sloterdijk allerdings in an Heidegger anlehnendem Vokabular beschrieben und "Abenteuer der Hominisation" genannt. Und, sich nun an Nietzsches Zarathustra annähernd, fährt Sloterdijk fort, auch der Mensch selber sei Züchter des Menschen gewesen und haben damit den Rahmen des Humanismus verlassen, da "der Humanismus niemals weiter denken kann und darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage". Sloterdijk aber denkt weiter: Mit dieser Zucht zur Zähmung habe der Mensch eine Zuchtwahl in Richtung haustierlicher Umgänglichkeit fertiggebracht. Und diesen Vorgaben habe sich das Denken heute zu stellen: das Denken der Domestikation sei das große Ungedachte, denn mit der erzieherischen Zähmung allein sei es nicht getan. Und hier kommen nun die Sät-ze, die Protest ausgelöst haben: "Es ist die Signatur des technischen und anthropotechnischen Zeitalters, daß Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten, auch ohne daß sie sich willentlich in die Rolle des Selektors gedrängt haben müßten. Man darf zudem feststellen: Es gibt ein Unbehagen in der Macht der Wahl, und es wird bald eine Option für Unschuld sein, wenn Menschen sich explizit weigern, die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben. Aber sobald in einem Feld Wissensmächte positiv entwickelt sind, machen Menschen eine schlechte Figur, wenn sie - wie in den Zeiten eines früheren Unvermögens - eine höhere Gewalt, es sei denn Gott oder den Zufall, an ihrer Stelle handeln lassen wollen. Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechnik zu formulieren". Ein solcher Kodex, so fährt Sloterdijk fort, würde rückblickend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern, denn es würde nun klar, daß "humanitas" auch beinhalte, daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstelle. Soweit Sloterdijk.

Es handle sich hier, so kritisierte Rainer Stephan in der Süddeutschen, um eine "der Form nach brillante, in ihrer Intention aber nichts weniger als ungeheuerliche Interpretation und Fortschreibung von Heideggers Humanismusbrief": "Wer nicht selektiere, werde selektiert; also müßten es die Philosophen - jedenfalls die wissende Elite unter ihnen - sein, die die Konzepte einer gentechnologischen Menschenzucht kontrollierten". In der Frankfurter Allgemeinen sprach Peter Vogt von einer "Mischung aus Arroganz und Unbedachtsamkeit", und Enno Rudolph, immerhin Philosophieprofessor, interpretierte Sloterdijks anstößige Sätze so: "Der 'Hirte des Seins', will er sich heute und morgen bewähren, bedarf der Einübung in Selektionskompetenz". Einzig Manfred Wirbals reagierte in der Badischen Zeitung zurückhaltend und sprach von "anstößiger Ernüchterung". Aus Israel meldete sich da-gegen Christoph Schmidt, der wissenschaftliche Tagungsleiter und protestierte, Sloterdijk in Schutz nehmend, gegen 'Halbwahrheiten' der Art, Sloterdijk habe "jüdische Denker das Entsetzen gelehrt" (so der Úntertitel von Meggles Bericht).

Nun besorgten sich auch Journalisten, die nicht in Elmau waren, den Vortrag. Sloterdijk untersagte daraufhin strikt die Weitergabe des Vortrages. In der Zeit rekonstruierte nun deren Mitarbeiter Thomas Assheuer Sloterdijks gehobenen geschichtsphilosophischen Diskurs in einer einfachen pragmatischen Sprache und berichtete seinen Lesern, Sloterdijk schwebe "eine demokratieferne Arbeitsgemeinschaft aus echten Philosophen und einschlägigen Gentechnikern vor, die nicht länger moralische Fragen erörtern, sondern praktische Maßnahmen ergreifen. Diesem Elitenverbund fällt die Aufgabe zu, mithilfe von Selektion und Züchtung die genetische Revision der Gattungsgeschichte einzuleiten. So wird Nietzsches schönster Traum wahr: die Zarathustra-Fantasie vom Übermenschen". Illustriert wurde diese etwas gewagte Interpretation von einer Photomontage aus mehreren Bildern, in der Sloterdijk langsam zu Nietzsche metamorphosiert. Subtiler und wohl eher Sloterdijks Intention treffend war der im SPIEGEL erschienene Text von Reinhard Mohr. Mohr erhebt allerdings, was bei Assheuer nicht expressis verbis der Fall ist, gegen Sloterdijk die Keule des Faschismus-Verdachts.

Nun ist der Fall in aller Feuilletonisten Munde; kaum einer, der sich nicht mehr oder weniger kompetent zu der Affäre äußert. Ein Teil nimmt pro, ein anderer contra Sloterdijk Stellung. Matthias Kamann etwa kommt nach einer eingehen-den Analyse in der Welt zu dem Schluß, man könne "Sloterdijk nicht vorwerfen, er habe für eine von Philosophen gesteuerte genetische Selektion der Menschen plädiert", dazu sei der Text "zu vage, zu sprunghaft, zu häufig Paraphrase". Gleichzeitig wird aber Sloterdijk vorgeworfen, daß er "sich in abstruse Szenarien einer neuen Barbarei" flüchte und "technologischen Phantastereien" nachhänge. Auf Sloterdijks Seite stellt sich die Frankfurter Zeitung. Sie spottet über die Warner, die "auch leise An-zeichen, Dunkelziffern, verräterische Andeutungen" ausmachen können und meint, Auf-gabe des Philosophen sei es schließlich, "seine Zeit auf den Begriff bringen zu müssen". Auch Jens Jessen in der Berliner Zeitung meint, man dürfe Sloterdijk nicht auf "etwas festnageln, das er nicht gesagt oder nicht gemeint haben wollte". Und Gregor Dotzauer führt im Berliner Tagesspiegel aus, es gebe Leute, die Sloterdijk partout nicht verstehen wollten, weil er "einen nietzscheanischen Gestus pflegt, der in Verbindung mit seiner Leidenschaft für Martin Heidegger bei manchen reflexartig die politischen Alarmsirenen auslöst".

Sloterdijks Gegenschlag

Lehrreich sowohl für Charakterstudien als auch für Medientaktik ist nun, wie Sloterdijk reagiert. Er ist jetzt in einer schwierigen Situation: Zwar hat er die gewünschte Medienpräsenz in einer kaum erhofften Weise, aber er läuft Gefahr, auf die Ver-liererseite zu geraten. Würde allerdings die öffentliche Diskussion zu seinen Gunsten umschwenken, ginge er aus der Affäre als Sieger hervor, mit mit einem von keinem anderen Philosophen erreichbaren Bekannt-heitsgrad. Machbar ist das nur, wenn er die Defensive verläßt und selber angreift. Wie macht er das?

Den weithin unbekannten Martin Meggle macht er auf schon unappetitliche Weise fertig: Meggle habe, schreibt Sloterdijk, "skandalsüchtige Halluzinationen", sein Beitrag enthalte "laszive Mißdeutungen", man könne ein "fast berauschtes Schmatzen in seiner Phantasie hören", und überhaupt: hier handle es sich um "Junge Ahnungslosigkeit". Wenigstens beantwortet Sloterdijk nun aber die Frage, was die "beispiellose düstere Zeit nach 1945" angeht. Es handle sich hierbei, so Sloterdijks merkwürdige Erklärung, um "den Hinweis, daß eine Zeit nach dem Schrecken selber noch zum Schrecken gehören kann". Stefan, Vogt und Wirbals, die anderen anwesenden Berichterstatter, zerschmettert er mit dem Totschlag-argument, sie hätten Meggle "korrekter als politisch korrekt" abgeschrieben.

Mit dem Zeit-Mitarbeiter Thomas Assheuer kann er so nicht umgehen, geht es doch darum, die Zeit auf seine Seite zu bringen. Aber mit ihm diskutieren? "Schließlich will er Deutschlands Erster Philosoph sein", spottet Wiglaf Droste in der taz. "Dazu bedarf es auch erstklassiger Feinde. Und was bekommt er? Diese halbgaren Jungs vom Feuilleton!"

Sloterdijk inszeniert nun einen Metaskandal, schreibt zwei offene Brief an die Zeit, einen an Assheuer und einen an Habermas. Assheuer nennt er sarkastisch eine "Problemgans", weil er im Auftrag von Habermas den "Alarm" ausgelöst habe. Anders der Tonfall Habermas gegenüber: hier gibt er zunächst seiner Hochschätzung Ausdruck und verweist darauf, daß er, Sloterdijk, den ersten Schritt mache, "obwohl es Ihnen der Situation nach oblegen hätte, ihn zu ma-chen". Er, Sloterdijk, honoriere aber den "Bonus des Älteren", allerdings sei er nun "der Obergrenze seiner Toleranz nahe". Er habe, so beschuldigt er dann Habermas, bei einem Mitarbeiter der Zeit und einem Autor des Spiegel Alarmartikel in Auftrag gege-ben, in denen sein, Habermas', Name nicht fallen sollte. Damit habe der Kritiker seinen Gegner verdinglicht und ihn wie einen Me-chanismus und nicht wie eine Person behandelt. Und nun wird Sloterdijk höhnisch und bringt Habermas selber in die Nähe des Faschismusverdachtes: Habermas sei der "vom eigenen Nicht-Faschismus durchdrungene Diskursethiker". Mit seiner Denunziation habe Habermas der Kritischen Theorie das Grab gegraben, diese sei am, so schreibt Sloterdijk in einem Anflug von Größenwahn, am 2. September, dem Erscheinungstag des Assheuer-Artikels, zu Tode getragen worden. Und nun, in Siegerpose, triumphiert Sloterdijk: Ich nehme "das alles weniger übel, als Sie vielleicht vermuten". Irgend- einen Beleg für seine Vorwürfe bleibt er jedoch schuldig, er beläßt es bei der Denunziation.

Es gibt ein Sprichwort, das lautet: "Wenn Du geschwiegen hättest, wärst Du ein Philosoph geblieben." Doch was bleibt Habermas anderes übrig als zu antworten? Man hätte ihm sein Schweigen als Geständnis ausgelegt. Antwortet er aber, so hat Sloterdijk nicht nur seine über die Jahre erhoffte Diskussion mit Habermas, dieser ist sogar in der Defensive. Während aber die Zeit Sloterdijks Briefe als redaktionellen Text veröffentlicht hat, landet die Antwort von Habermas am 16. September bei den Leserbriefen: ein Indiz dafür, wie sich der Wind schon gedreht hat.

Bei der von Sloterdijk erfundenen Geschichte bleibe ihm, so Habermas, "das Lachen im Hals stecken". Herrn Mohr kenne er nur aus dessen Veröffentlichungen, und er habe auch keinen Kontakt zum Spiegel gehabt. Anders sei es mit Assheuer: Mit diesem habe er in der Tat über den Elmauer-Vortrag gesprochen. Aber er glaube, er hätte die "so reiche, differenzierte und zutreffende Analyse wie die Assheuersche nicht einmal inspirieren können, wenn es meine Absicht gewesen wäre". Im übrigen überschätze Sloterdijk sein, Habermas', Interesse an seinen Arbeiten. Er, Habermas, gehöre noch einer Generation an, die glaubte, daß sich am Ende die besseren Theorien durchsetzten und nicht Selbstinszenierungen auf Kosten anderer.

Die Diskussion in den Feuilletons

Seit wann, kommentierte Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen, sei es "noch so anzettelungsfreudigen Professoren und Journalisten verboten... miteinander zu telephonieren und sich über ein Thema auszutauschen - und sei es noch so ungerecht, frech und 'neokynisch' im besten Sloterdijkschen Sinne?". Und wenn Sloterdijk die "Modi des Sprechens" klarer voneinander unterschieden hätte, wäre seine Rede gar nicht erst "ins Leitsystem des Flüsterns" gerutscht. Und auch Rainer Stephan argumentiert ähnlich: Daß Habermas den Fall nach den Presseberichten "mit Kollegen und Journalisten diskutierte und daß Manches aus diesen Diskussionen in spätere Texte zur causa Sloterdijk eingeflossen sein mag, entspricht selbstverständlichem Usus unter den mit philosophischen Debatten Befaßten".

Um auf die seltsame Logik der Sloterdijkschen Argumentation hinzuweisen, bedarf es jedoch eines analytisch geschulten Philosophen: "Sloterdijks Schlußfolgerungen folgen nämlich vollkommen elegant und unwiderstehlich aus den gemachten Voraussetzungen, das allerdings nach einem ganz neuen Prinzip," schreibt Thomas Sturm im Standard, und dieses Prinzip lautet: "Befolgt jemand eine Idee oder eine Theorie nicht, welche er selbst für richtig oder vernünftig hält, so muß die Idee oder die Theorie falsch sein - nicht etwa das Handeln".

Über die Suhrkamp-Pressestelle konnten Journalisten sich nun auch den Text der Rede kommen lassen und sozusagen aus der Originalquelle berichten. Nun wendet sich der Tenor: Sloterdijk bekommt Aufwind, Assheuer und Konsorten werden von ihren Kollegen gescholten. Es sei "höchst fahrlässig, diese philosophische, stark metaphorisierende Verknüpfung verschiedener philosophischer Lektüren zur politischen Handlungsanweisung im Maßstab 1:1 zu verkürzen" wirft Harald Jähner in der Berliner Zeitung seinen Kollegen Mohr und Assheu-er vor. Es sei wieder einmal "ein Faschist entlarvt, der keiner ist". Selbst die Frankfurter Rundschau wechselt die Fronten: "Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeit, um zu prophezeien, daß nichts, aber auch gar nichts von den Empörungen, Verdächtigungen und Verleumdungen übrig bleiben wird, die im Anschluß an Peter Sloterdijks Vortrag...wellenartig durch die Feuilletons gingen... Keine Anstandsregel ist verletzt, kein ungehöriger Gedanke wird laut", korrigiert Manfred Schneider seinen Kollegen Martin Meggle. Und manche übernehmen selbst die geschichtsphilosophische Sichtweise: Es gehe, schreibt eine Kerstin Decker in einem "Worum es wirklich geht" untertitelten Text, um nichts Geringeres und Größeres als um "die richtige Weise, wie künftig über den Menschen zu denken sei, will man auf Augenhöhe der Gegenwart bleiben". Und die Frankfurter Allgemeine bringt den Vortrag mit dem Umzug von Bonn nach Berlin in Verbindung und meint allen Ernstes, der Vortrag könnte so etwas wie eine "metaphysische Gründung der Berliner Republik sein".

Sowie Sloterdijk diesen Tenorwechsel bemerkt, erlaubt er der Zeit, seinen Artikel in voller Länge abzudrucken. Dieser erscheint am 16. September, ausgerechnet in einer Rubrik mit dem Übertitel "Wissen" und ne-ben einem Artikel von Dworkin.

Nun meldet sich in der Frankfurter Rundschau Micha Brumlik, ein Vertreter der Tradition der kritischen Theorie, zu Wort. Aus einem "Fall Sloterdijk" sei nun ein "Fall Zeit" geworden: "Da öffnet die Redaktion in einem Akt beispielloser Illoyalität gegenüber ihrem eigenen Redakteur Thomas Assheuer und ihrem langjährigen, stets mit Stolz präsentierten Autor Jürgen Habermas nicht etwa ihre Leserbriefspalten, sondern gleich den redaktionellen Teil zu einer paranoiden Haßtirade". Sloterdijk, ein "seit zwanzig Jahren nicht zur Kenntnis genommener Autor, der zwar einer überbordenden und anspielungsreichen Sprache fähig, aber zu keiner nachprüfbaren Argumentation willens sei", verwende Motive der konservativen Revolution und gehöre in die Tradition eines Ernst Nolte, Botho Strauß und Martin Walser: "Vom wohlinszenierten Eklat auf Schloß Elmau, von der gezielten Provokation jüdischer Teilnehmer über das frivole Spiel mit sozialdarwinistischen Züchtungsphantasien bis hin zum verschwörungstheoretischen Weltbild und unverhüllten Drohung vom Ende der Toleranz - der Tisch ist gedeckt und das Feld bereitet".

Auch andere Prominente melden sich zu Wort. Aus Graz der Philosoph Peter Strasser: "Botho Strauß, Martin Walser, Peter Handke. Sie alle sind inzwischen, mehr oder weniger, Faschisten. Und jetzt hat es Peter Sloterdijk erwischt: Auch er ist ein Faschist." Es sei dem polemischen Eifer der Kritiker zuzuschreiben, daß sie die Gedankenwelt faschistischer Züchtungsfantasien auf Sloterdijk provozieren, obwohl gewisse seiner rhetorischen Schlenker, etwa "Menschenpark", - wohl eher anzeigten, "daß auch er, der Schöngeist, in Sachen Menschheit ein Realist sein möchte." Allerdings: Sloterdijks "andernorts bekundete Hinneigung zur verlorenen Heimat im Uterus, in der föderalen Geborgenheit, diese ganze Sphären-Mystik als Kontrapunkt zur Aufklärung, läßt eine Spiritualität erkennen, die auf den einstigen Sektenguru Bhagwan hin-deutet". Im Berner Bund schreibt der Ethnologe und Sloterdijk-Bewunderer Hans-Jürgen Heinrichs, in der Kritik am Vortrag regiere "eine richtungslose Willkürgeste", die sich aus der "ethischen Selbstverantwortlichkeit" befreie.

Auch der Meister selber äußert sich, in einer Sendung des Magazins "Kulturzeit" von 3-sat, diesmal zur Sache. Er sei dafür, die Anwendung der Bio-Techniken zu reglementieren, seiner Meinung nach sollte jedoch "im Bereich der medizinischen Optimierung des Lebens für einzelne die Grenze weiter hinausverschoben werden". Er fährt fort, "ich glaube, daß gesellschaftliche Prozesse zur Zeit vor allem in den USA, wo also durchaus bedenkliche Formen des 'ge-netic screening' über die Krankenversicherungen bereits implantiert sind, eine Sortierung der Bevölkerung in den gesünderen und in den kränkeren vorgenommen wird, die über längere Fristen betrachtet zu einer regelrechten Neuzüchtung der Gesellschaft führen würde". Und dies sei ein Thema, das diskutiert werden müsse. Und in einem Interview mit der Zürcher Weltwoche äusserte sich Sloterdijk, er habe "unwiderlegbare Beweise dafür, daß in Starnberg eine Art Fatwa" über ihn verhängt worden sei.

Die Tatsache, daß Sloterdijk Vortragender am "Philosophicum Lech" war (er begnügte sich dabei allerdings damit, aus seinem neuesten Buch Sphären II vorzutragen), ließ an die fünfzig Journalisten nach Österreich reisen. Ralf Grötker hat neben anderen in der Berliner Zeitung über die eigens arrangierte Pressekonferenz berichtet. Sloterdijk habe dabei eine Re-Intellektualisierung der Auseinandersetzung mit seinem Vortrag gefordert und dann das "Paparazzotum des Erregungsjournalismus", das mit seiner linksfaschistischen Agitation um des reinen Skandalismus willen in die Philosophie selbst eingedrungen sei, angegriffen. Einen davon, nämlich Rainer Stephan, habe er auch schon in Lech ausfindig gemacht: "Ich habe ihm nicht die Hand gegeben und möchte ihn auch auffordern, ruhig zu halten", zitiert Grötker Sloterdijk. Auf die Bitte, exemplarisch eine der Passagen seines Vortrages zu kommentieren, habe Sloterdijk jedoch ausweichend reagiert. Er sei dabei, so berichtet Rainer Metzger im Standard, sichtlich stolz über die von ihm ausgelöste Affäre gewesen: "Ich begrüße den Skandal als eine Produktionsform, in der sich die die bürgerliche Öffentlichkeit an das erinnert, wofür sie da ist". Und über seine Wortschöpfung "Anthropotechnik" meint er: "Ich bin sicher, daß man von dem Begriff noch viel hören wird." Rüdiger Suchsland zieht in der Frankfurter Rundschau das Fazit: "Der Verdacht drängt sich auf, daß hier einer wohlkalkuliert den Skandal am Köcheln halten will, um im 'semantischen Bürgerkrieg' Geländegewinne zu verbuchen'".