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"Neue Medien - das Ende der Philosophie?

Bolz: Die These vom Ende der Philosophie ist nicht neu und sie an die Entstehung der neuen Medien zu binden, wäre nur ein Nachhutgefecht schon längst geschlagener Schlachten. Der Titel muß schon etwas Spezifischeres meinen, und meine These ist, daß die Aufgaben, die sich die Philosophie in ihrer Tradition gestellt hat, unter neuen Medienbedingungen nicht mehr philosophisch reformuliert werden können. Es sind ganz andere Felder, die wir heute mit philosophischem Nachdenken bearbeiten müßten. Ich sehe keinen Punkt mehr, an dem die philosophische Tradition uns eine Hilfestellung geben könnte: weder in der Theorie der Technik noch in der Tradition der ethischen Reflexion, noch auch in der Erkenntnistheorie. Die Ansätze, die wir heute brauchen, die sind aus ganz anderen Wissenschaften herausentwickelt worden. In der Erkenntnistheorie beispielsweise der radikale Konstruktivismus, den ich im Moment für die Avantgarde halte. Bei Fragen der Ethik vertrete ich die eher extreme These, daß es sich dabei nur noch um reine Wertezitate handelt, und daß es so etwas wie begründete ethische Diskurse gar nicht geben kann. Und bei der Frage der Technik würde ich sogar noch weiter gehen und sagen, da ist zumindest die Philosophie, wie sie in Deutschland traditionell entwickelt wird, geradezu ein Hemmschuh, um zu be-greifen, was die Medienevolution, die technologische Evolution aus unserer Gegenwart gemacht hat. Kurzum: Es geht nicht um eine Verabschiedung philosophischer Reflexionskraft, sondern es geht um die Diagnose, daß das Feld der Philosophie zu Ende beackert ist. Da kommt nichts Fruchtbares mehr heraus, und man sollte deshalb andere Wissenschaften ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen.

Nida-Rümelin: Als ich zum erstenmal auf ihre These gestoßen bin, habe ich mich gefragt: Woher hat er denn das? Die Philosophie befindet sich in den letzten Jahren in einer ganz ungewöhnlich fruchtbaren Phase, sie hat endlich sogar auf dem europäischen Kontinent - obwohl es hier sehr viel länger dauert und schwerfälliger ist - ihre disziplinären Grenzen weitgehend überwunden. Gerade im Bereich der Ethik gibt es ernsthafte Diskussionen um normative Fragen, die im Zusammenhang mit neuen Techniken auftreten, Medien zwar am allerwenigsten - da gebe ich Ihnen recht - aber in der Medizin, Biologie und Gentechnik. In der Erkenntnistheorie ist ein ähnlicher Prozeß im Gange. Die Philosophie, die Sie, von Adorno und Benjamin herkommend, besonders skeptisch sehen, nämlich der sogenannte Neo-Positivismus bzw. die Analytische Philosophie hat Ihnen ja in diesem Punkt recht gegeben: die Philosophie ist nicht eine Einzelwissenschaft, die ein spezifisches Forschungsprojekt betreibt, vielmehr kann die Philosophie bestenfalls Orientierungswissen vermitteln, das aber immer bezug nehmen muß auf die jeweiligen Einzelwissenschaften und auf ihre Terminologie. Dies zu vernachlässigen, entspricht der unseligen deutschen Tradition. All das spricht so stark gegen die These vom Ende der Philosophie, daß man sich überlegt, woher diese gespeist sein könnte. Ich glaube, diese These, die sich an ein Fach, an ein akademisches Fach mit Problemen gerade im deutschen Sprachraum zu richten scheint, ist in Wirklichkeit eine Kurzformel für eine sehr weitgehende Ideologie. Und diese Ideologie lautet: Endgültiger Bruch mit den Werten der Aufklärung, mit den Werten des Humanismus, mit der Vorstellung, daß es in normativen Fragen um Menschenwürde und ähnliches gehen könnte. Der Mensch ist frei - wie Sie mal an einer Stelle sagen -, insofern er Maschine ist. Und all diese großen Projekte, die gerade die Moderne, die Aufklärung, getrieben haben, nämlich Ideen von Gerechtigkeit, individueller Freiheit usw., sind angesichts neuer Techniken obsolet geworden.

Bolz: Lassen Sie mich vorab sagen, was ich für eine mögliche Sackgasse dieser Diskussion halte: wenn Sie darauf hinweisen, daß de facto Philosophie getrieben wird. Das ist selbstverständlich so. Ich erinnere mich immer gern an den Ruf von Hans Magnus Enzensberger: Der Roman ist tot. Und daraufhin hat Unseld gesagt: "Ich weiß gar nicht, was Enzensberger will, gucken Sie doch unsere Romanproduktionen in diesem Herbst an, massenhaft, also der Roman ist nicht tot. Es wird mehr denn je geschrieben." Philosophen würden vielleicht sagen: das ist ein Kategorienfehler, das heißt, man antwortet auf einer anderen Ebene als gefragt oder eine These entwickelt worden ist.. Und wenn wir davon reden, daß die Philosophie tot ist, was ja eine sehr pathetische Formulierung ist, dann heißt das natürlich nicht, daß es nicht unendlich viele Ethik-Kommissionen und Lehrstühle für Philosophie und daß es ein Bedürfnis nach Philosophie gibt. Ich bezweifle nicht, daß es ein riesengroßes metaphysisches Bedürfnis gibt und daß es immer mehr anwächst. Ich würde sogar sa-gen, je mehr unsere Gesellschaft funktionalistisch zu deuten ist, und im Grunde ohne Sinnkategorien auskommen kann, also gerade deshalb so sinnlos ist, weil sie so gut funktioniert, um so mehr wächst das metaphysische Bedürfnis. Es ist ein Bedarf nach Sinn da, und deshalb wird es auch immer einen religiösen Bedarf geben, den Theologen und Philosophen da gemeinsam sättigen. Das heißt aber nicht, daß das Thema, das Problem, um das es geht, wirklich noch in der Tradition der Philosophie mit dem Anspruch, so etwas wie eine Durchdringung unserer Wirklichkeit zu bieten, diskutiert werden könnte.

Nida-Rümelin: Über Jahre und Jahrzehnte hinweg hat eine Art Ideologisierung der philosophischen Auseinandersetzung die lebendige, ernsthafte philosophische Klärung über das unumgängliche Maß hinaus behindert. Philosophie sollte man vernünftigerweise nicht mit Zielen beladen, die der Philosophie nicht angemessen sind. Gegenwärtig aber ist die Philosophie nach meinem Eindruck in einer Blütephase. Sie leistet zum einen einen wesentlichen Beitrag zu einem wissenschaftlichen Weltverständnis, sie bietet Integrationswissen, sie fügt zusammen, was Einzelwissenschaftler nicht überblicken können, weil sie zu stark spezialisiert sind. Philosophie gebiert außerdem immer wieder neue Forschungsrichtungen - das hält bis in die jüngste Zeit an. Das heißt: Philosophie ist nach wie vor Mutter der Wissenschaften, aus der verschiedene neue Einzelwissenschaften hervorgehen, etwa die formale Logik, die sich weitgehend jetzt aus der Philosophie herausgelöst hat und eine eigene Wissenschaft geworden ist. Gleiches gilt für die Wissenschaftstheorie, für die Sprechakttheorie - ein Teil der Linguistik ist aus der Philosophie hervorgegangen. Dieser Prozeß, der seit 2'500 Jahren läuft, hat nicht aufgehört. Und dann, was zuletzt immer wichtiger geworden ist, Philosophie bietet auch in einer unübersichtlicher gewordenen Welt normative Orientierung. Deshalb: Wer vom Ende der Philosophie spricht, hat in der Regel ein schiefes Bild der Philosophie, vielleicht auch eine persönliche Desillusionierung. So waren die Ansprüche auf Letztbegründung unseres Wissens durch die Philosophie immer absurd. Und manchen ist das jetzt erst deutlich geworden. Deswegen, weil eine Auffassung von Philosophie, die immer verkehrt war, sich jetzt nicht mehr durchhalten läßt, ist nicht die Philosophie am Ende, man muß dann nur zu einem vernünftigen Verständnis von Philosophie finden.

Bolz: Betrachten wir das, was Sie gerade gesagt haben, von außen, dann stellt sich das für mich ganz anders dar. Die Philosophie ist wahnsinnig bescheiden geworden, nämlich so bescheiden, daß sie sich seit vielen Jahrzehnten mit Bereichen begnügt, die besonders erfolgreich sind, nämlich mit der Beschreibung von Sprache, mit der Be-schreibung von Sätzen. Sie ist auf der anderen Seite so bescheiden geworden, daß sie sich selbst nur noch historisch verwaltet.

Nida-Rümelin: Das ist der Stand der fünfziger Jahre, den Sie jetzt beschreiben...

Bolz: Das ist immer noch ein Stand, den ich in Lehrstühlen verkörpert sehe. Das ist, was gemacht wird. Ich gebe ja zu, daß es ir-gendwo Avantgarden auch gibt, die in eine ganz andere Richtung gehen, aber Sie sagen ja selbst, die Betonung liege auf Beschei-denheit. Das ist das eine. Zum anderen: Philosophie wird sich selbst historisch, sie beschreibt sich selbst in ihrer Vergangenheit. In einem haben Sie recht: Philosophie tritt mit dem Anspruch auf, ein Ganzes zu bieten, die Scheuklappenartigkeit der erfolgreichen Einzelwissenschaften zu überwinden und Orientierung zu geben. Das Problem ist aber dieses: Überall, wo man vorher Sinnprojektionen hatte, wo man wunderbare Ganzheiten, Einheiten sah, zeigt uns die Wissenschaft, wenn sie überhaupt etwas zeigen kann, daß das alles nicht stimmt. Wissenschaft ist ein gigantischer Desillusionierungsprozeß - das weiß jeder, der irgendwo einmal eine Fachwissenschaff studiert hat. Angesichts dessen ist natürlich der Bedarf, doch ein Ganzes, doch einen Sinn, doch eine Einheit zu sehen, riesengroß. Aber auf legitime Weise läßt sich dieser Bedarf nicht befriedigen. Mit anderen Worten: Ich habe Schwierigkeiten, wie schnell Sie Philosophie unter Wissenschaft subsumieren und sagen, sie ist die Königin der Wissenschaften. Ich würde sagen, gerade wenn Wissenschaft das leisten will, nämlich Orientierung zu geben, Sinn zu liefern, Ganzheiten zu nennen, ist sie keine Wissenschaft, sondern eine theologische oder metaphysische Projektion. Und deshalb ist die Stellung dieser Philosophie extrem prekär innerhalb des Wissenschaftsverbundes. Max Weber hat gesagt: Wissenschaft ist so, das muß man ertragen. Und wer das nicht ertragen kann, soll sich in die geöffneten Arme der katholischen Kirche werfen. Man braucht, wie er sagt, gereifte Männlichkeit, um es auszuhalten, daß die Wissenschaften keinen Sinn spenden. Und daran hat sich nichts geändert.

Nida-Rümelin: Es geht nicht darum zu sa-gen, die Philosophie könne alle Orientierungsbedürfnisse der Gesellschaft lösen. Ich glaube nur, daß Rationalität, der Versuch der Begründung von Argumenten, Sinn macht. Was mich bei der Lektüre Ihrer Schriften immer wieder gestört hat, ist, daß Sie statt Argumenten Zitate bringen. Und in den letzten Schriften kommen ja Argumente gar nicht mehr vor. Auf Ihre Frage nach der Philosophie als Wissenschaft: Philosophie ist heute einerseits Residualwissenschaft. Philosophie taucht typischerweise immer dann auf, wenn religiöse und andere Autoritäten an Gewicht verlieren. Sie wird wichtig in Orientierungskrisen der Gesellschaft. Und sie leistet dann dadurch, daß sie Rationalität in immer neu-en Bereichen methodisch in Korsette drängt und dann in die Einzelwissenschaften entläßt, einen Beitrag zur Rationalisierung. Aus einem zum Teil chaotischen Diskussionsprozeß entwickeln sich neue wissenschaftliche Theorien. Also: Sie ist zum einen insofern eine Residualwissenschaft. Aber sie ist eben in einem bescheidenen Sinne auch Orientierungswissenschaft. Und mir scheint, diesen Anspruch löst sie heute in höherem Maße ein als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren.  Aber ich glaube, wir kommen nicht zum Kern der Differenzen, wenn wir weiterhin in erster Linie über das Fach sprechen. Diese Differenz liegen sehr viel tiefer, und ich will dazu folgendes Zitat von Ihnen bringen: "Die Distanz des perspektivischen Weltverhaltens weicht sachlicher Nähe". Gemeint ist: Angesichts der neuen Medien. "Und damit hat der Kritik ihre letzte Stunde geschlagen, denn Kritik setzt Perspektive und rechten Abstand voraus. Das alles gibt es in der Welt der neuen Medien nicht mehr." In Das kontrollierte Chaos sagen Sie: Das alte Programm, was mal Philosophie und Wissenschaft ins Leben gerufen hat, nämlich der Versuch, vom Dogma, von bloßer Meinung zu begründetem Wissen überzugehen, so schwierig und mühselig dieser Prozeß ist, das sei obsolet geworden. Und damit, würde ich hinzufügen, nicht nur das Programm von Philosophie, sondern das Programm von Wissenschaft überhaupt. Und was bliebe, sei die nüchterne Erkenntnis, daß man zwischen Dargestelltem und Darstellung nicht mehr unterscheiden kann, daß es keinen Sinn mehr macht, von Realität zu reden, daß man statt Metaphysik Metaphorik betreiben muß. Und dazu würde ich sagen, diese Metapher vom Ende der Philosophie ist nur die Spitze des Eisberges einer Ideologie, die weit tiefer reicht, und da ist die Differenz zwischen uns sehr eindeutig.

Bolz: Das Problem ist in der Tat dies, daß man die Grundbedingungen für einen anspruchsvolleren Begriff von Wahrheit unter Medienbedingungen und modernen gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr durchhalten kann. Denken Sie nur an etwas so Fundamentales wie Nachdenklichkeit und Besonnenheit. Das schien doch selbstverständlich zu sein, daß nicht nur philosophische Reflexion, sondern im Grunde jede wissenschaftliche, jede denkende Auseinandersetzung mit der Welt so etwas voraussetzt. Die Situationen, in denen wir uns tagtäglich befinden, sind nicht mehr danach, mit diesen Techniken der Besonnenheit, der Distanznahme, des ruhigen Betrachtens auf sie zu reagieren. Wir sind vielmehr zu augenblicklichen Entscheidungen gezwungen, wir müssen ständig unter Zeitdruck operieren. Auch als Wissenschaftler stehen Sie unter Modezwängen, Paradigmen nennt man die dann. Es ist eine lllusion, zu glauben, man könne tatsächlich noch Abstand nehmen, man könnte aus der Distanz ruhig und besonnen nachdenken und die Diagnose dann langsam in den Prozeß der Aufklärung überführen und damit die öffentliche Meinung im richtigen Sinn bilden. Ich brauche diese Formel "unter neuen Medienbedingungen", weil die Medien uns in der Tat zwingen, bestimmte Prozesse des Denkens, des Darstellens, unter neue Bedingungen zu stellen. Denn alles, was Ihnen so wichtig ist und was ja in seinem Wert für die Entwicklung unserer Kultur unschätzbar ist, hat ein ganz bestimmtes Medium a priori, eine ganz bestimmte Medienbedingung, nämlich die Buchkultur. Für uns ist diese Technik, diese Kulturtechnik des Lesens von Büchern so selbstverständlich geworden, daß sie für uns identisch ist mit Aufgeklärtheit und Menschlichkeit. Ich sage nicht, Vernunft ist passé, ich sage nur, wir müssen überlegen, was es bedeutet, wenn anstelle der Buchkultur offensichtlich ein neues Paradigma tritt. Ich bin optimistisch, daß diese technisierte Kommunikation sehr viel mehr Chancen für politische Meinungsbildung bietet, als klassische Formen. Aber auch Chancen für dialogische Formen von Kommunikation, einfach deshalb, weil technisch vermittelte Kommuni-kation weniger schnell in die Sackgasse des Narzißmus geht. Es wäre spannend, sich mal zu überlegen, was hinter den Ich-Du-Relationen wirklich steht. Ich würde sagen, das sind narzißtische Strukturen...

Nida-Rümelin: Sehen Sie Herr Bolz, wir sind jetzt genau da, wo ich befürchtet habe, daß wir landen. Das ist mir schon bei der Lektüre Ihrer Schriften aufgefallen: Sie springen assoziativ, von Gedanke zu Gedanke, lose zusammengehalten durch Stichworte. Ich will das hier an zwei Punkten deutlich machen: Das eine ist, Sie vertreten die These, daß es keinen Sinn mehr mache angesichts der neuen Medien, zwischen Dargestelltem und Darstellung zu unterscheiden: und damit sei die Zeit angebrochen, statt Metaphysik Metaphorik zu betreiben. Eine zweite These, die Sie haben und die Sie ja auch jetzt in Ihrem Beitrag eben angedeutet haben, ist, daß wir natürlich ein ganz anderes Verhältnis bekommen müssen zu Techniken, und daß die alten buchfixierten Bildungsideale nicht mehr funktionieren. In dem Punkt, daß Medien eine veränderte Qualität der politischen Auseinandersetzung mit sich bringen und daß Mediendarstellungen politische Ereignisse sind, nicht einfach Abbildungen von dem, was passiert - da bin ich völlig d'accord, keine Differenz. Aber ich glaube nicht, daß sich dadurch historisch irgendetwas Großes geändert hätte. Die Leute im Imperium Romanum hatten vage Vorstellungen von politischen Vorgängen, z.B. über die Auseinandersetzung mit den Thrakern. Da waren Boten, und die haben irgendetwas erzählt, und was sie erzählt haben, war hochgradig manipuliert. Heute ist es leichter, solche Manipulationen zu unterlaufen, selbst in einem Fall wie dem Golf-Krieg. Auf der einen Seite steht die mediale Inszenierung des Krieges, der Krieg selbst hat aber nicht in den Medien, sondern auf den Schlachtfeldern stattgefunden und viele Menschenleben gekostet. Die Art der Darstellung hat aber unser Bild von diesem Krieg stark geprägt, offenbar ist also ein Unterschied zu machen zwischen Dargestelltem und Darstellung. Aber selbst wenn man Ihrer These von etwas völlig Neuem zustimmen würde, ist der Zusammenhang zwischen alter Metaphysik und neuer Metaphorik völlig unklar. Es müßte jemanden gegeben haben, der be-hauptet hat - und das wäre dann die alte Metaphysik - daß alles, was vor sich geht, dem Menschen unmittelbar gegeben sein muß und nicht medial vermittelt sei. Aber kaum jemand ist in der Geschichte der Philosophie naiver Realist gewesen. Manche Menschen waren kritische Realisten und meinten, es gibt da eine Realität, aber der Zugang sei vermittelt über komplizierte Prozesse usw. Dies ist das erste Beispiel für diese gedanklichen Konfusionen. Das zweite Beispiel ist das mit dem Menschenbild und mit der Rolle des Buches...

Bolz: Vielleicht kann ich erst einmal darauf eingehen. Denn der Begriff "Medienwirklichkeit" zielt ja darauf ab, diesen Sach-verhalt auf einen Begriff zu bringen. Es wäre wirklich kindisch zu sagen, der Krieg hätte nur in Computern und auf den Fernsehschirmen stattgefunden. Ich spreche von dem, was das Ereignis ist. Was ist das historische Ereignis? Und meine These ist in der Tat, daß dieses Ereignis im Bild ist, in der medialen Vermittlung und nicht da-hinter. Dahinter gibt es natürlich irgendwas, irgendwas Reales, und das Reale ist nun in der Tat das, was ich als Allerletzter geringschätzen würde, weil es weh tut. Es ist selbstverständlich, daß da blutende Körper sind, daß da unendliches Leid ist. Ich würde nur sagen, das ist nicht das Ereignis. Und da gibt's nun in der Tat eine große Differenz zu Berichten über irgendwelche Geschichten, die am Rande der Welt in früheren Zeitalter sich abgespielt haben. Das Entscheidende ist, daß die Ereignisse heute im Blick auf die Medien, die sie aufzeichnen und übertragen, geschehen. Das ist etwas Neues.

Nida-Rümelin: Lesen Sie mal Machiavellis Empfehlungen an den Fürsten.

Bolz: Nein, das ist etwas anderes, da geht es um breit entfaltete Herrschaftstechniken, um die Kunst des Scheins, die Kunst des Simulakrums. Das ist nicht dasselbe wie Medienwirklichkeit. Medienwirklichkeit heißt: Es geschehen die Dinge, die wir gerade als Ereignisse wahrnehmen im Blick auf mediale Aufzeichnungen und mediale Übermittlung. Das gilt für die Politik, es gilt aber auch für historische Ereignisse, insofern Sie feststellen können, daß Dinge, die real geschehen, in dem, was man Geschichte nennt, überhaupt nicht auftauchen, es sei denn in ihrer medialen Gestaltung, in ihrem medialen Aggregatzustand. Deshalb besetzen doch alle Revolutionäre und alle Putschisten als erstes die Fernsehsender. Deshalb kommt es so sehr darauf an, daß man über Prozesse, realpolitische Prozesse, irgendein Bild in den Medien formt und das massenhaft verbreitet. Das ist das Ereignis, das dann so etwas wie Geschichte ausmacht.

Nida-Rümelin: Das ist doch gar nichts Neues. Politik war immer ein gut Teil Inszenierung, und die Herrschaftsstrukturen der alten Welt waren gegründet auf bestimmten Inszenierungen, nur daß jetzt die Medien anders sind und die Inszenierungen anders sind und daß es heute leichter ist, Zugang zu finden.

Bolz: Der Unterschied, den wir bei der Diskussion des Begriffs Medienwirklichkeit haben, ist der, daß Sie immer noch davon ausgehen, Medienwirklichkeit sei eine Darstellung einer Welt.

Nida-Rümelin: Und Sie sagen, Medienwirklichkeit sei die Welt selbst, das wissen wir, aber wir haben noch kein Argument dafür gehört.

Bolz: Das Argument ist, daß die Medienwirklichkeit bewohnbar geworden ist. Das ist der Unterschied zu Darstellungen, wie wir sie traditionell hatten. Diese Medienwirklichkeit ist selber ein Element unserer belebten, unserer bewohnten Welt.

Nida-Rümelin: Wenn es stimmen würde, daß die Realität konstituiert ist durch die Medien und durch die mediale Darstellung, was machen Sie dann mit all den Inkohärenzen? Ist das dann wirklich die Pluralität von Realität? Die eine Darstellung ist so, die andere anders und die dritte nochmals anders - also ist keine Kohärenz gegeben. Ich meine, der Golf-Krieg wurde und wird bis heute unterschiedlich dargestellt. Sie beginnen bei vernünftigen Ausgangsthesen - Sie sagen, die neuen Medien haben die politische Landschaft verändert, sie spielen eine ganz andere Rolle in unserer gesellschaftlichen Wahrnehmung usw. Und dann gehen Sie einen nächsten Schritt und sagen: Damit ist jede Kritik unmöglich, die Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellung bricht zusammen, deswegen sei philosophische Klärung, Ideologiekritik, nicht mehr möglich. Aber das ist alles völlig un-begründet. Wir haben kein einziges Argument dafür gehört.

Bolz: Ich habe ja nicht gesagt, es wäre keine Analyse möglich, ich habe gesagt Kritik. Und meine genau das, was wir jetzt nochmals versucht haben zu rekonstruieren, Stichwort: Ideologiekritik. Ich versuche nochmals ein Beispiel zu bringen. Vor zwei Jahren ist auf dem Marktplatz von Sarajevo eine Rakete explodiert und hat 50 oder 60 Menschen - vorwiegend Muslime - getötet. Die Muslime haben sofort protestiert und haben gesagt: da sieht man mal, wie unmenschlich die Serben sind. Darauf hin haben die Serben, die in dem anderen Teil Sarajevos leben, behauptet, dies war eine muslimische Rakete und diese haben ihre eigenen Leute umgebracht, um die Öffentlichkeit aufzuregen und zu Interventionen zu veranlassen. Es nicht ermittelt worden, was richtig ist, aber ich meine, es wäre möglich gewesen, herauszufinden, wer geschossen hat. Zweitens, wenn man es herausgefunden hat, kann man die Wirklichkeit mit dem Abbild vergleichen. Aber man kann doch nicht sagen, der Bericht des ZDF, die Serben haben Muslime getötet, ist falsch. Die Muslime haben ihre eigenen Leute getötet, um dadurch die Amerikaner zum Eingreifen zu veranlassen. Ich behaupte, daß zwischen beiden Variationen ein manifester erkennbarer Unterschied liegt, und daß man dem nachgehen sollte.

Nida-Rümelin: Aber Sie müssen bei der Präsentation bleiben. Sie dürfen das nicht untersuchen im Hinblick auf das Dargestellte. Bleiben Sie bei Ihren Thesen. Sie weichen schon wieder so weit zurück, daß die Thesen verwischt werden.

Bolz: Ich weiche nicht zurück. Es geht um etwas ganz anderes, es geht darum, wie Sie Wirklichkeit konzipieren.

Nida-Rümelin: Gibt es eine Differenz zwischen Dargestelltem und Darstellung? Ja oder nein?

Bolz: Meine These ist die, daß Sie mit dem Wirklichkeitsbegriff, mit dem Sie operieren...

Nida-Rümelin: Den kennen Sie gar nicht!

Bolz: Ich gehe davon aus, daß Medien unsere Wirklichkeitsbegriffe mitprägen, daß sie sie mitkonstituieren. Daß wir bisher in einem Leitmedium gearbeitet haben und uns orientiert haben, das für uns unsichtbar geworden ist durch seine Effektivität, nämlich das Leitmedium Buch. Daß wir daher von einen Wirklichkeitsbegriff haben, ein Konzept, des Realistischen, des Überprüfbaren. Auch die Vorstellung von Kritik ist sehr stark orientiert an dieser Form von Schriftlichkeit, den gedruckten Worten, der Zugänglichkeit von Wissen in dieser Form. Was ich sage ist, dieses Konzept von Wirklichkeit ist streng gebunden an das Medium Buch, an die Kulturtechnik des Bücherlesens und des Zugangs zur Organisation von Wissen in einem bestimmten Medium. Versuchen Sie doch mal zu überlegen, ob es nicht doch einen Unterschied machen könnte, ob wir Wissen im Sinne von Hören-Sagen haben, daß wir also die Kriterien des Realismus gewinnen über Vertrauensmechanismen oder die Festigkeit, die Kohärenz einer Geschichte, auch in dem Medium Hören-Sagen, ob wir als Kulturtechnik Schrift haben, gedruckte Worte, oder ob wir als dominierende Technik der Welterfahrung computergestützte Kommunikation haben. Ich würde sagen, das sind nicht einfach nur verschiedene Verbreitungsmedien, sondern das konstituiert unseren Begriff von Wirklichkeit und das, was wir als Wirklichkeit empfinden, mit. Und deshalb ist das keine Frage von Inhalten, was da im einzelnen gesendet wird, sondern es geht um das, was man philosophisch Medienapriori nennen könnte, Und um diese Analyse geht es mir.

Nida-Rümelin: Es war zu befürchten, daß wir an diesem Punkt nicht weiterkommen. Es geht ja letztlich auch um Differenzen, die deswegen interessant sind, weil sie auf letztlich weltanschauliche ideologische Unterschiede verweisen. Sie hantieren mit zwei ganz verschiedenen Begriffen von Humanismus und vertreten eine sehr weit reichende, neue Spielart eines Neokonservatismus, dessen Radikalität von vielen gar nicht gesehen wird. Es scheint eine der neuesten Moden zu sein, antihumanistisch zu reden. Sie sagen ja auch selbst, zwischen Mode und Wissenschaft gibt es keinen sehr großen Unterschied, Wissenschaft ist Teil von Pop Art. Es fällt auf, daß Sie sich bis etwa 1989 auf Theoretiker wie Adorno, Benjamin und an-dere beziehen. Kurz darauf schreiben Sie, Sie wollten sich mit der Darstellung bestimmter Positionen nicht zugleich damit identifizieren. Aber auch dem oberflächlichen Leser fällt auf, daß Sie sich nun zur Begründung Ihrer Thesen auf Zitate von Nietzsche, Heidegger, Ernst Jünger und Carl Schmitt sowie eine vage Posthistoire-Position (die Sie dann zur Postmoderne ausgeweitet haben), stützen. Sie polemisieren gegen den Bildungshumanismus, meinen aber letztlich etwas ganz anderes, etwas viel fundamentaleres, nämlich einen Humanismus, der sich an einem bestimmten Menschenbild orientiert, einen Humanismus, dem es um Menschenwürde geht. Wenn Sie schreiben, Kritik sei nicht mehr möglich, die Gesellschaft zerfalle in Einzelpersonen, die eine Art Interface-Beziehung zur Realität haben und angekoppelt an bestimmte Medien sind, vertreten Sie einen Anti-Humanismus. Besonders deutlich wird dies, wenn Sie schreiben: "Frei ist der Mensch als Maschine. Wenn Maschinen nicht denken, denken auch Menschen nicht". Ihr radikaler Antihumanismus, nennen wir ihn politisch-philosophischen Antihumanismus, schlägt alle Elemente weg, die für eine zivilgesellschaftliche Demokratie notwendig sind, die den minimalen Zusammenhalt her-stellen, mit dem man z.B. rechtfertigen kann, daß man dem Schwächeren hilft und ihn nicht den Stärkeren ausliefert. Wenn diese Menschen nur noch individuell und in ihren Gruppen leben und mit ihren Techniken auch noch Realitätsverlust, gestützt durch eine bestimmte Philosophie, erleiden, da kann man sich die gesellschaftliche Entwicklung vorstellen, auf die das zuläuft.

Bolz: Es war nicht alles so hundertprozentig akkurat, was Sie über mich berichtet haben. Ich komme, Sie haben das gesagt, aus einer Tradition des Denkens, die man Neomarxismus genannt hat. Ich habe das, was in der "Frankfurter Schule" gedacht worden ist, zu Ende gedacht, und dieses Ende war für mich ein interessanter Anfang. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, daß die Aufklärung ein ungeheueres Tabu ist. Ich bin natürlich nicht so kindisch, zu sagen, all das Positive, das Sie genannt haben, das gilt alles nicht. Ohne das wäre unsere Kultur und Zivilisation undenkbar. Nur ist der Preis der Aufklärung riesengroß, und ich habe gerade in der Auseinandersetzung mit Leuten wie Adorno dieses Tabu sehr deutlich beobachtet. Zwar kommen Leute wie Nietzsche oder Freud ständig vor, aber als ich zum ersten Mal den Mut hatte, sie tatsächlich anzugucken, war der Schock riesig. Nämlich der Schock darüber, daß diese bösen Buben nicht alle dumme Kerle sind. Sartre hat einmal gesagt, ein Faschist kann keinen guten Roman schreiben. Aber ich fürchte, das stimmt für die Theorie nicht. Nach der zwölfjährigen Beschäftigung mit den neomarxistischen Strömungen habe ich gesagt, ich will jetzt wissen, was ich bisher nicht wissen durfte und ich hatte das Gefühl, wirklich auf Schätze zu stoßen. Ich dachte, es muß doch interessant sein, diese Sachen einmal von nicht konservativer Seite in die Diskussion einzubringen und zu sa-gen: hört mal zu, Leute, das ist euer Tabu! Ihr seid in einer Sackgasse, weil ihr immer noch nicht in der Lage seit, wirklich zu lesen, was bei Freud steht, und weil ihr immer noch nicht in der Lage seit, Nietzsche zu lesen. So simpel war das. Meine These vom Ende des Humanismus meint keinesfalls, und das wär das schlimmste Mißverständnis, daß ich die Menschen aus der Welt austreiben oder daß ich sie durch Maschinen oder sonstwas ersetzen will. Meine These ist genau entgegengesetzt: Weil ich dafür arbeiten möchte, daß Menschen in ihrer Pluralität Menschen sein können, deshalb glaube ich zu sehen, daß die humanistische Überlieferung eine Sackgasse ist. Meine Parole ist: Heute sollen alle Menschen nach ihrer eigenen Fasson menschlich werden. Es geht darum, die Menschen zu befreien aus einem Konzept, das seinen guten Sinn und ungeheure Sprengkraft hatte, kulturpolitisch und kulturgeschichtlich, aber eben auch seine Halbwertzeit hat, und diese Zeit ist abgelaufen.