Funktionelle Neuroanatomie. Lehrbuch und Atlas

Hirnforschung widerlegt nicht Freiheit

Libet-Experiment mißt keine Willensentscheidung 

Die aktuelle Diskussion in den Medien über Ergebnisse der Hirnforschung und ihre mögliche Bedeutung für das Konzept des freien Willens scheint einen fundamentalen Gegensatz zwischen Philosophie und Neurowissenschaft zu belegen. Dies entspricht aber meiner Meinung nach nicht der tatsächlichen wissenschaftlichen Befundlage, denn jede der beiden Wissenschaftsdisziplinen führt schon intern eine kontroverse Diskussion, ohne dass der philosophische oder der neurowissenschaftliche Standpunkt erkennbar wäre.

Insbesondere die Ergebnisse der Libet-Experimente haben einige Neurowissenschaftler veranlasst diese als Beleg dafür anzusehen, dass das Konzept einer freien Willensentscheidung eine Illusion ist und alle Handlungsentscheidungen streng determiniert ablaufen. Die philosophischen und strafrechtlichen Aspekte werden von anderen Diskussionsteilnehmern erörtert werden, ich möchte vor allem auf die neurowissenschaftlichen Aspekte und die Aussagekraft der Libet-Experimente eingehen. 

Vom Standpunkt der Neurowissenschaft aus ist die Feststellung trivial, das Bewusstsein sowie alle kognitiven Leistungen und das gesamte Verhalten seien von örtlich und zeitlich spezifischen Hirnaktivitäten abhängig. Was aber kann die Neurowissenschaft in Bezug auf komplexe kognitive Leistungen und Willensentscheidungen wirklich nachweisen? 

Die Einführung der modernen bildgebenden Verfahren ermöglicht es, die Mechanismen kognitiver Leistungen und emotionaler Reaktionen einschließlich der das Verhalten bestimmenden Entscheidungsprozesse in Form örtlich und zeitlich höchst spezifischer Hirnaktivitäten sichtbar zu machen und ihre Dynamik zu analysieren. Die Analyse von Mechanismen der Perzeption, Kognition und des Verhaltens ist von großer Bedeutung für das Verständnis krankheitsbedingter Dysfunktion und für die Entwicklung neuer Therapien. Die konkreten z.B. Gedächtnisinhalte spielen dabei nur hinsichtlich ihrer kategorialen Aspekte eine Rolle. Die modernen Verfahren der Hirnforschung haben zu spektakulären Erfolgen geführt, weil sie für das Wie kognitiver Mechanismen entwickelt wurden und nicht für z.B. konkrete Inhalte von Gedanken. Wir können z.B. vorhersagen wie Gedächtnis mit Hirnaktivität korreliert und die normale oder gestörte Funktionsweise der beteiligten neuralen Mechanismen (auch für das einzelne Individuum) prognostizieren, wir können aber nicht die konkreten Gedächtnisinhalte sichtbar machen. Zwischen Mechanismen und Inhalten muss daher streng unterschieden werden. 

Wir können somit auch vorhersagen, welche Hirnmechanismen aktiviert werden, um bestimmte Aufgaben durchführen zu können oder in Konfliktsituationen zu entscheiden, wir können aber gegenwärtig nicht vorhersagen, welche konkreten Inhalte die Entscheidungen beeinflusst haben. Die Frage ob dies in Zukunft möglich sei, kann gegenwärtig seriös von einem Neurowissenschaftler nicht beantwortet werden und ist daher für die aktuelle Situation irrelevant. 

Das Libet-Experiment ist nicht geeignet, um eine Entscheidungssituation mit Relevanz für die Frage der freien Willensentscheidung modellhaft nachzubilden, da der Proband bei diesem Experiment instruiert war, auf jeden Fall seinen Finger oder seine Hand - wenn auch zu einem frei wählbaren Zeitpunkt - zu bewegen. Es geht also beim Libet-Experiment nicht darum zu entscheiden, ob eine Handlung durchgeführt wird oder nicht, sondern nur darum, zu welchem Zeitpunkt sie durchgeführt wird. 

Die Handlung im Libet-Experiment ist ethisch und emotional irrelevant, Handlungen auf der Basis von z.B. strafrechtlich relevanten Willensentscheidungen sind dagegen ethisch und emotional bedeutend. Dies bedeutet auch, dass beim Libet-Experiment möglicherweise andere Hirnmechanismen aktiviert werden als bei einer emotional relevanten Entscheidung. Aktuelle Forschungsergebnisse unterstützen diese Kritik. 

Wie determiniert der freie Wille wegen der zugrunde liegenden determinierten Hirnmechanismen ist, weiß gegenwärtig kein Neurowissenschaftler. Die unvorstellbare Komplexität des menschlichen Gehirns lässt auch keine seriöse Extrapolation der sehr einfachen bisher untersuchten Entscheidungsmodelle auf komplexe Entscheidungssituationen zu, da wir nur allgemeine Mechanismen, aber z.B. nicht die von der individuellen Lebensgeschichte des Subjekts abhängigen konkreten Vorstellungen von ethischen Normen neurowissenschaftlich untersuchen können. 

Besonders wichtig für die kritische Interpretation des Libet-Experiments erscheint mir die Tatsache, dass in diesem Experiment gar nicht die freie oder nicht freie Willensentscheidung in ihrer zeitlichen Relation zum Bereitschaftspotential bestimmt wurde, sondern das Bewusstwerden der Willensentscheidung. Willentliche Entscheidung und Bewusstwerden einer willentlichen Entscheidung sind aber zwei Vorgänge, die a priori verschiedene neurale Mechanismen benötigen. Dies wird bei der Interpretation der Libet-Experimente fast immer nicht beachtet. Nicht die Entscheidung des Subjekts, sondern das Bewusstwerden der Entscheidung im handelnden Subjekt wurde von Libet gemessen. Der Zeitpunkt der Bewusstwerdung einer Verhaltensweise (hier einer Entscheidung zur Fingerbewegung) wurde also fälschlicherweise mit dem Zeitpunkt der Entscheidung gleich gesetzt. Dies ist eine begriffliche Ungenauigkeit und ein konzeptueller Fehler, da die Bewusstwerdung nie der Entscheidung vorausgehen kann, sondern ihr wegen der komplexen synaptischen Mechanismen der Bewusstwerdung und dem damit notwendigerweise verbundenen Zeitaufwand immer nur folgen kann. Das heißt die Entscheidung findet vor ihrer Bewusstwerdung statt und daher früher als im Libet-Experiment feststellbar. 

Der eventuelle Einwand, eine freie Entscheidung müsse immer auch eine bewusste Entscheidung sein, kann so nicht akzeptiert werden. Im Gegenteil: Eine Entscheidung wird auf Grund der beteiligten neuronalen Mechanismen immer erst post hoc bewusst. Damit würde die Definition der freien Entscheidung als einer ausnahmslos immer bewusst gewordenen Entscheidung zu einem logischen Zirkelschluss führen, denn so wäre jede diesen Kriterien entsprechende Entscheidung immer ein der Handlung nachfolgendes Phänomen. 

Warum glauben einige Neurowissenschaftler zu wissen, dass das Bereitschaftspotential, das - wie Libet gezeigt hat - dem Bewusstwerden der Entscheidung zeitlich vorausgeht, nur ein simpler motorischer Befehl an hierarchisch untergeordnete motorische Stationen ist, und nicht auch gleichzeitig das messbare Phänomen einer kognitiven Leistung, die eine willentliche Entscheidung des Subjekts repräsentiert? Neueste Ergebnisse der Hirnforschung zeigen, dass es neben rein motorischen, von kognitiven Leistungen ausgenommenen Nervenzellen der frontalen Hirnrinde, in der das Bereitschaftspotential seine Quelle hat, auch zahlreiche Nervenzellen existieren, die sowohl bei motorischen als auch kognitiven Leistungen aktiv sind. Dies haben die Mirror-Neuron-Experimente der Gruppe um Giacomo Rizzolatti und anderen gezeigt. Es ist also durchaus denkbar, dass das Bereitschaftspotential mehr repräsentiert als rein motorische Steuerung. 

Schlussbemerkung

Die unvorstellbare Komplexität des Gehirns lässt Extrapolationen, die aus Befunden aus bewusst reduktionistisch gestalteten Experimenten abgeleitet werden, auf komplexe natürliche Situationen und Hirnmechanismen nicht zu, denn wir verstehen gegenwärtig noch nicht die Kodierungsprinzipien des Organs Gehirn auf der komplexen Systemebene. 

Gegenwärtig versuchen wir immer noch biologischen Hirnmechanismen, die auf der Ebene der Spezies Homo sapiens durch die Evolution und auf der Ebene des Individuums durch Genom und persönliche Lebensgeschichte gestaltet wurden, mit von der menschlichen Kultur geprägten Begriffen metaphorisch zu beschreiben. Nur ansatzweise sind durch beeindruckende Fortschritte der molekularen Hirnforschung der eigentümliche Wortschatz und durch die systemische Hirnforschung mit neurophysiologischen und bildgebenden Verfahren die grammatikalischen Regeln des neuronalen Codes verständlich geworden. Die Semantik dieses Codes auf der Ebene komplexer Systeme haben wir aber noch nicht verstanden. Die sogenannte neurowissenschaftliche Erklärung kulturell geprägter Begriffe wie Willensfreiheit und Verantwortlichkeit ist medienwirksam, aber nicht unbedingt neurowissenschaftlich. Aufklärung lebt von wissenschaftlicher Kritik - nicht von Mythen.

Text eines Vortrags bei einer Tagung des
Links

Hirnforscher Roth kritisiert die Philosophen (2000)

zu Gerhard Roth (2000)

qpfeil.gif (860 bytes) (2002)

qpfeil.gif (860 bytes) Diskussion: Ansgar Beckermann, Gerhard Roth und Wolfgang Prinz (2000)

Externe Links

 

    Wolfgang Prinz, Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, München

    Julian Nida-Rümelin, LMU Geschwister-Scholl-Institut für politische Wissenschaft

 

Literatur