Philosophie und die Erforschung des Geistes

Der Hirnforscher Roth kritisiert die Philosophen

Lange Zeit gab es für die Philosophen keinen Grund, sich bei der Beschäftigung mit dem Leib-Seele-Problem von den Biologen Hilfe zu erhoffen. Das änderte sich aber mit den bahnbrechenden Arbeiten von Hermann von Helmholtz (1821-1894) und Emil Du Bois-Reymond (1818-1896). Sie wiesen nach, dass die Tätigkeit des Gehirns mit physikalischen Mitteln untersucht werden kann - eine seinerzeit sensationelle Entdeckung. Zusammen mit Ernst Mach, Gustav Theodor Fechner, Karl Ewald Hering und vielen anderen entwickelten sie ein neurowissenschaftliches Weltbild, das noch heute gültig ist und das seinerzeit auch von den Philosophen rezipiert wurde. Leider, so klagt der Hirnforscher und promovierte Philosoph Gerhard Roth in seinem Beitrag

Roth, Gerhard: Philosophie und Neurowissenschaften, in: Hermanni, Friedrich und Steenblock, Volker (Hrsg.): Philosophische Orientierung. Festschrift zum 65. Geburtstag von Willi Oelmüller, DM 78.--, W. Fink Verlag, München,

sind im Zuge der Etablierung der Geisteswissenschaften durch Wilhelm Dilthey und der gleichzeitigen Abgrenzung von den Naturwissenschaften empirisch ausgerichtete Erkenntnistheorien aus dem Bewusstsein der Philosophen verschwunden. Das gilt, so Roth, auch weithin für die traditionelle Psychologie, die Linguistik und selbst die Computerwissenschaft. Hier gilt noch immer die Überzeugung, mentale Prozesse ließen sich völlig unabhängig von ihrer materialen Realisierung im Gehirn, algorithmisch darstellen. In den USA hatte diese Einstellung zur Folge, dass die Hirnforschung lange Zeit von den Kognitionswissenschaften nicht beachtet wurde.

In den vergangenen Jahren hat die Hirnforschung gewaltige Fortschritte gemacht. Hirnanatomie, lokale und globale neuronale Aktivität und kognitive Leistungen des Gehirns lassen sich mit technischer Hilfe systematisch in Verbindung setzen. Damit, so Roth, wird beim Menschen eine empirische Überprüfung der Frage nach den neuronalen Grundlagen kognitive Leistungen möglich. Es lässt sich feststellen, wann und wo im Gehirn besondere neuronale Leistungen stattfinden, und diese lassen sich dann mit der Art und dem Ablauf bestimmter kognitiver Prozesse in Verbindung setzen. Es zeigt sich dabei, dass diejenigen Prozesse im Gehirn, die kognitiv besonders anspruchsvoll und von Bewusstsein begleitet sind, stets erhöhte Hirndurchblutung, Stoffwechselaktivität und neuroelektrische Aktivität aufweisen. Alle diese Forschungsresultate legen eine strenge Parallelität zwischen Mentalem und Neuronalem nahe.

Gegenwärtig sieht es nach Roth so aus, als sei die Lösung des Geist-Gehirn-Problems eine wirklich interdisziplinäre Angelegenheit, bei der gleichberechtigt Philosophen, Psychologen, Informatiker, Netzwerktheoretiker und Neurowissenschaftler mitarbeiten. Entsprechend wurde auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Schwerpunktprogramm "Kognition und Gehirn" gestartet, konzipiert von den beiden Psychologen Wolfgang Prinz, Eckart Scheerer, den beiden Philosophen Ansgar Beckermann und Peter Bieri und den Neurobiologen Henning Scheich und Gerhard Roth. Allerdings sind dabei die Ausgangssituationen in den einzelnen Wissenschaften verschieden. Innerhalb der kognitiven Neurobiologie und Hirnforschung herrscht aufgrund der Fortschritte der Wissenschaft die Meinung vor, die Fragestellungen hinsichtlich Natur, Herkunft und Funktion mentaler Prozesse seien im Rahmen der Neurowissenschaften und ohne Hilfe der Philosophen zu beantworten. Anders sieht es dagegen bei den Psychologen aus, da die Mehrzahl von ihnen sich einer funktionalistischen Einstellung verpflichtet fühlt, wonach mentale und kognitive Leistungen unabhängig von ihrer physiologischen Basis beschreibbar seien.

Die Situation in der Philosophie, so kritisiert Roth, ist "sehr unbefriedigend". Beide Gruppen, die Psychologen und die Neurobiologen, fanden die Zusammenarbeit in dem genannten Programm mit den Philosophen überwiegend nutzlos und ärgerlich und wollten nie wieder mit diesen Leuten zu tun haben. Sie seien von diesen schulmeisterlich behandelt worden, einige hätten geglaubt, vorschreiben zu müssen, wie man zu forschen habe und welches die relevanten Probleme seien. Einige der beteiligten Philosophen hatten das Schwerpunktprogramm aufgrund von Konflikten teils mit den Naturwissenschaftlern, teils mit den anderen Philosophen frühzeitig verlassen. Andere Philosophen erklärten am Schluss des Programms, sie seien an einer weiteren Zusammenarbeit nicht mehr interessiert, das Wesen und die Funktion mentaler Prozesse seien entweder überhaupt unlösbar bzw. nur die Philosophen könnten sie lösen. Als Konsequenz wurde eine Neuauflage des Schwerpunktprogramms ohne Philosophen geplant.

Die allergrößten Probleme in der Zusammenarbeit mit Philosophen sind nach Roth Statusprobleme (die Furcht, als autonome Wissenschaft nicht ernst genommen zu werden), weitgehende Unkenntnis des Problembewusstseins, der Begriffssysteme, des methodisch-praktischen Vorgehens und insbesondere des Wissens- und Diskussionsstandes in den jeweilig anderen beteiligten Wissenschaften. Hinzu kommt, dass das Leib-Seele-Problem in den Augen der Philosophen als ureigenes philosophisches Problem gilt. Typisch für philosophische Bücher dieses Genres ist, dass weitläufig behandelt wird, was andere Philosophen zu diesem Thema gesagt haben und was dem betreffenden Autor daran plausibel erscheint. Die Frage, welche philosophischen Standpunkte im Lichte der neuen Erkenntnisse der Hirnforschung akzeptabel sind, wir gar nicht behandelt. Roth stellt deshalb die Forderung auf, dass ein Philosoph, der sich mit diesem Thema beschäftigt, über maximal drei Jahre engen Kontakt zu neurobiologischen Labors und ein von Fachleuten angeleitetes Literaturstudium benötigt, um in der Neurobiologie mitreden zu können. Das werde von jedem Doktoranden verlangt, der in ein neurobiologisches Forschungsinstitut eintritt. Denn die zum Teil völlig neuartigen Einsichten in die funktionale Organisation des Gehirns sind nahezu alle kontraintuitiv. Niemand ist durch bloße Reflexion, das Handwerkszeug des Philosophen, etwa darauf gekommen, dass unsere Wahrnehmung hochgradig parallelverarbeitend verläuft. Die ausgeprägte Modularität vieler kognitiven Leistungen steht in eklatantem Widerspruch zu der philosophischen Lehre von der "Einheit des Bewusstseins" und von der "Einheit des Ich". Die Logik der Gehirne, die "Neurologik", ist nicht die Logik des reflektierenden Geistes. Diese Frustration und Aufregung über die empirischen Befunde muss der Philosoph mit dem Neurobiologen teilen, wenn er über das Gehirn und seine kognitiven und mentalen Zustände und Leistungen nachdenken will.

Ein weiteres Problem bei der Zusammenarbeit mit Philosophen ist deren weitgehende Unvertrautheit mit der Methodologie und den Begriffen der Naturwissenschaften. Das zeigt sich in ihrer Unkenntnis dessen, dass die modernen Naturwissenschaften bei der Beschreibung natürlicher Prozesse ohne das Kausalprinzip auskommen oder in der irrigen Meinung, die Naturwissenschaften seien zutiefst reduktionistisch. Entsprechend wird einer naturwissenschaftlichen Behandlung des Gehirn-Geist-Problems von seiten der Philosophen eine Erklärungslast aufgebürdet, die innerhalb der Naturwissenschaften hinsichtlich keines anderen Problems verlangt wird. So wird behauptet, das Gehirn-Geist-Problem sei so lange nicht im Sinne der Naturwissenschaften gelöst, als man nicht konkret gezeigt habe, wie aus den Neuronen des Gehirns Geist entstehe (kein ernsthafter Naturwissenschaftler würde so etwas behaupten) oder dass Gehirnprozesse und mentale Prozesse wirklich identisch seien (niemand kann die Identität zweier Prozesse nachweisen, die nicht mit denselben Methoden am selben Ort und zur selben Zeit ineinander überführbar sind).

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