Kann die Gehirnforschung den Geist erklären?

Der Klagenfurter Philosoph Peter Heintel und der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth stehen für zwei unterschiedliche Positionen. Gerhard Roth vertritt die Position, Bewusstseinszustände wie Erkennen oder Erinnern könne man mit Mitteln der Naturwissenschaft erkunden und erklären. Peter Heintel hingegen hält letzteres für gänzlich unmöglich, da der Geist nicht auf naturwissenschaftliche Weise zu fassen sei.

Herr Roth, was geht im Kopf eines Menschen vor sich, wenn er uns etwas erklärt?

 Roth: Wenn ich Ihnen zuhöre und überlege, was ich nun sagen soll, dann dringen durch Ihre Lippenbewegungen hervorgerufene Schallwellen an mein Ohr. Mein Innenohr und viele Teile des Gehirns müssen erst einmal herausbekommen, ob es sich hier um sprachliche oder nichtsprachliche Signale handelt. Wenn es sich, wie im Beispielfall, um Sprache handelt, wird es sofort in die Großhirnrinde, die sich wesentlich mit Sprache befasst, geleitet. Dies geschieht, bevor uns irgendetwas bewusst wird.

 Zu derselben Zeit, wie die linke Gehirnhälfte, die für die Sprachsemantik zuständig ist,  zu eruieren sucht, was Sie sagen, nimmt meine rechte Gehirnhälfte wahr, ob dies freundlich, ironisch oder aggressiv gesagt wird.

 Woher haben Sie dieses Wissen  über die Vorgänge im Gehirn?

 Roth: Dies weiß man im wesentlichen aus Untersuchungen von Patienten. Es gibt Patienten, denen auf Grund von Verletzungen Teile des Sprachzentrums zerstört worden sind und die zwar sprechen können, deren Aussagen aber keinen Sinn ergeben. Andere wiederum haben Schwierigkeiten mit allem, was über Sprache und Grammatik hinausgeht; sie sprechen eine Art Telegrammstil.

 Können Sie lediglich lokalisieren, was und wo im Gehirn etwas passiert oder können Sie daraus weitergreifende Schlüsse ziehen?

 Roth: Man kann das, was die Neurologen an den Patienten eruiert haben, an Gesunden mithilfe der modernen Elektroenzephalographie (EEG) oder im funktionellen Kernspin-Tomographen überprüfen. Man kann dabei zu beachtlichen Resultaten kommen. Nehmen wir ein Beispiel. Jemand wird gefragt, ob er ein bestimmtes Gesicht schon gesehen hat. Bevor die Person antwortet, könnteman im Prinzip mittels des EEG bereits sehen, wie die Antwort lauten wird: gesehen, nicht gesehen oder nicht sicher. Man kann heute sogar ziemlich gut nachweisen, ob jemand lügt oder nicht.

 Herr Heintel, Sie sagen nun, damit sei der Geist nicht zu erklären, da dieser etwas viel Komplexeres sei als das, was man mit diesen naturwissenschaftlichen Messungen erkunden kann.

 Heintel: Wenn ich höre, was und wie jemand etwas zu mir gesagt hat, entscheide ich mich, wie ich reagiere. Ob ich etwa ebenso ironisch reagiere oder ich die Ironie bewusst übergehe. Diese Entscheidung können Sie auf ihren Geräten nicht sichtbar  machen. Eine Entscheidung ist etwas, das Abläufe unterbricht. Und eine solche Unterbrechung ist nicht auf gleiche Weise sichtbar zu machen wie andere Abläufe. Sie - und dabei spielt die Freiheit eine wichtige Rolle - lässt sich nicht in einen linearen Ablauf der Beobachtung einfügen.

Mir war es immer verdächtig, wie man in der Hirnforschung mit den Lokalitäten umgeht, indem man einen Teil des Hirnes als Zentrum für das und einen anderen als Zentrum für jenes bezeichnet. In der neuronalen Netzforschung hat man festgestellt, dass man nicht hierarchisch von Zentren sprechen kann, sondern dass alle Teile miteinander kommunizieren. Meine Frage ist deshalb: Wo fängt das Hirn an und wo hört es auf?

 Wenn das Gehirn derjenige Ort ist, in dem alle Informationen über den Gesamtkörper zusammenkommen, dann stellt sich die Frage: Fängt das Gehirn nicht bereits im kleinen Finger an? Die Naturwissenschaft ist noch zu sehr aristotelischen Kategorien verhaftet: alles muss verortet werden, und alles braucht einen Anfang und ein Ende. Die Frage ist, ob sich im lebenden Organismus überhaupt eine derartige Lokalisierung zum Ausdruck bringen lässt.

 Sie spielen damit wohl auch auf das „Bauchhirn“ an. 70% all dessen, was wir lernen, soll ja über den Bauch gehen...

 Heintel: Das ist eine Seite, aber die Geschichtlichkeit des menschlichen Geistes und seiner Organe ist für mich ein sehr ernst zu nehmendes Thema. Es ist doch auffallend, dass die dominanten Gehirnmodelle sich immer nach den kulturell herrschenden Modellvorstellungen gerichtet haben. Dort, wo ein polytheistisches Religionssystem besteht, ist das Gehirn nicht im Zentrum, vielmehr haben alle Organe ihre Funktionen und da denkt auch die Galle mit. Heute, wo man aus dem New Age lernt, dass man auf Rationalität verzichten und mit dem Bauch denken sowie Emotionen zulassen soll, entdeckt man plötzlich das Bauchgehirn. Mir kommt das verdächtig vor. In sehr hierarchischen Gesellschaftsformen gibt es natürlich die Zentren. So hat etwa Platon gegen die polytheistischen Mythen vorgebracht, die Gefühle seien überall im Körper, notwendig sei aber ein Steuermann, und der sitze im Gehirn. Platons Staat war denn auch schon sehr zentristisch organisiert. Gegenwärtig leben wir in einer Krise der Hierarchie und merkwürdigerweise spricht alles von neuronalen Netzwerken. Man könnte also sagen: es gibt gesellschaftliche Konstellationen, die unsere Denkmodelle beeinflussen. Ich stelle diese dem naturwissenschaftlichen Modell gegenüber, weil sie auch die Historizität des Menschen ansprechen.

 Wenn man den Menschen als ein in die Zukunft offenes Wesen versteht (und dafür gibt es gute Argumente) und sieht, dass dies auch etwas mit seinem Leib, seinen Organen zu tun hat, muss man sagen, dass auch die Organe - und zumal das Gehirn - offen sind. Offene Gegenstände sind jedoch für die Naturwissenschaften bis zu einem gewissen Grad ein Horror. Für sie müssen Gegenstände möglichst zeitstabil sein. Wenn wir von Prozessen ausgehen, in denen sich das Gehirn über die Modellbildung selbst ein Disziplinierungsprogramm aufbaut, dann wird die Sache nicht mehr so erklärbar, wie wir es jetzt von Herrn Roth gehört haben.

 Herr Roth, was sagen Sie zu dem Vorwurf, Sie beschäftigten sich nur mit einem Zentrum und in diesem wiederum nur mit Teilen und übersähen dabei, dass diese Teil eines Ganzen sind?

 Roth: Wenn wir immer so weit denken, wie der Geist der Zeit ist, dann trifft dies auch für die Hirnforschung zu. Das ist aber weiter nicht erstaunlich, ist man doch mit einem Organ konfrontiert, das man in seiner Komplexität nicht fassen kann. Man ist auf das Begriffsreservoir angewiesen, das man zu einer bestimmten Zeit hat.

 Im 19. Jahrhundert wusste man viel über das Bauchhirn, und man dachte, es sei für Gefühle und das Unbewusste und das Großhirn für das Bewusste zuständig. Aber das Bauchhirn geriet später in Vergessenheit. Deshalb weiß man über dieses Bauchhirn und das, was dazugehört, wenig. Es ist aber nichts Neues, dass das Gehirn mit dem Körper auf das Engste zusammengehört und zwar insbesondere, was Gefühle und Affekte, aber auch, was das Immunsystem betrifft. Zu behaupten, es gebe ein Gehirn, das alles kontrolliere, ist absurd.

 Síe sehen also sehr wohl, dass Denken, Fühlen und Wahrnehmen eine Ganzheit betrifft?

 Roth: Seit der kognitiven Wende in der Psychologie und dann in der Neurobiologie sind es in der Tat nur die kognitiven Leistungen die scheinbar den Menschen zum Menschen machen. Gefühle waren uninteressant; das, was uns mit den Tieren verbindet, damit wollen wir nichts zu tun haben. Seit den letzten zehn Jahren wird aber auch den Neurobiologen klar, dass wir auch gefühlsbetont sind und dass unser Verstand in die Gefühle eingebaut ist. Erst jetzt begreift man, dass Hirn und Körper mit den Gefühlen und den Affekten zusammenhängen. Dies erweitert die Dimension der Betrachtung des Gehirns außerordentlich. Ich bin aber nach wie vor der Meinung, dass man in einiger Zeit die Funktionsweise des Gehirns erklären kann.

 Dann müsste es aber in ferner Zukunft möglich sein, das Gehirn des Menschen nachzubauen.

 Roth: Dabei muss man zwei Möglichkeiten in Betracht ziehen: 

Es könnte sein, dass die Bedingungen im Gehirn, unter denen Geist entsteht, so außergewöhnlich sind, dass wir es deshalb nie nachbauen können, dass es sich also um eine Architektur handelt, die wir nicht reproduzieren können. 

Es könnte sein, dass man das Gehirn im Prinzip nachbauen könnte, nicht aber realiter und zwar deshalb, weil es zu kompliziert (und zu teuer) oder viel zu lange dauern würde.

 Aus der Tatsache, dass man das Gehirn eines Tages verstehen kann, folgt deshalb überhaupt nicht, dass man es nachbauen kann bzw. wird.

 Heintel: Die Naturwissenschaft ist auf Technologie hin orientiert, ihr interner Zweck ist die Kontrolle, das Nachbauen. Die Dinge werden aber durch die objektivierende Sichtweise dadurch komplex, dass man sie erst auseinanderlegt und nicht mehr so leicht zusammenbringt. Wir kennen aber auch die Introspektion, wir sind ja das, was wir beobachten: Warum machen wir einen Umweg über Objektivierungen? Das meiste, was wir heute über das Gehirn wissen, wissen wir nicht aus der naturwissenschaftlichen Forschung.

 Wenn wir nun  zu den Gefühlen kommen, reicht die Logik nicht aus, da Gefühle ambivalent, in sich widersprüchlich sind. Widerspruchsfreiheit ist jedoch die höchste Tugend der naturwissenschaftlichen Forschung. Wenn Sie etwa wissen wollen, warum jemand Stress empfindet, dann reichen Ihre Messungen nicht aus, Sie sind vielmehr gezwungen, den Probanden zu fragen. Wenn man Subjekt-Objekt notwendigerweise so auseinanderreißt, wie es die Naturwissenschaft tut, kann man den erkenntnistheoretischen Zirkel, dass bei der Gehirnforschung das Gehirn sich selbst beobachtet, nie lösen. Das Beobachtende ist immer „mehr“ und etwas Anderes als das Beobachtete.

 Roth: Der große Fortschritt der Hirnforschung ist dadurch gekommen, dass man gesehen hat: mit dem reinen Betrachten der Hirnzellen oder auch dem Messen von feuernden Neuronen findet man niemals heraus,  was ein Gehirn tut. Insofern ist die Hirnforschung nicht eine physikalische Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die die Introspektion der Versuchspersonen benötigt, um zu erklären, was sie erklären will. Ich muss herausfinden können, was die Menschen (und auch die Tiere, obwohl das bei ihnen sehr schwierig ist) fühlen und denken.

  Wie erforscht man das bei Tieren?

 Roth: Durch raffinierte Versuche. Man kann etwa herausfinden, ob eine Ratte weiß, dass sie es war, die den Hebel gedrückt hat. Es gibt inzwischen hochinteressante Verhaltensexperimente, die das Innenleben von Tieren offenlegen. Man kann mit exakten Methoden nachweisen, ob ein Tier ein Bewusstsein hat, weil man weiß, wie Menschen sich in analogen Situationen verhalten.

Das, was Herr Heintel einfordert, die subjektive Komponente, ist in der Hirnforschung nicht nur vorhanden, vielmehr ist durch sie der genannte große Durchbruch möglich geworden.

 Sehen Sie mit ihren Methoden auch das Unbewusste?

 Roth: Aber natürlich, ganz im Unterschied zur Versuchsperson. Wenn diese etwas berichtet, sehe ich im Gehirn, was all die unbewussten limbischen Zentren tun. Wenn sie etwa auf ein Gesicht blickt, frage ich sie, was dieses für einen Gefühlsausdruck auslöst. Wenn sie sagt: „Es lässt mich kalt“, kann ich vielleicht sehen, dass ein bestimmtes Zentrum, das mit Furcht zu tun hat, stark aktiv ist. Entweder die Person weiß nicht, was in ihrem limbischen System vor sich geht, oder sie lügt. Auf diese Weise kann ich über eine mehr Person aussagen als diese über sich selber.

  Was sagt das jetzt über den Geist aus?

 Roth: In der Neurologie kann man feststellen, dass es rund zehn klassifizierbare Ichs in unterschiedlichen Teilen des Gehirns gibt. Man hat dies anhand von selektiv ausgefallenen Ichstörungen festgestellt. Die komplizierten Netzwerke im Gehirn sind elementar mit diesen Ichs verbunden. In den letzten Jahren hat man erforscht, wie diese Ichs in der Entwicklung von Kleinkind zum Jugendlichen bis zum ethischen Ich, das mit 12-16 Jahren entsteht, heranwachsen.

 Heintel: Ich weiß natürlich vom Kollegen Roth, dass er kein reduktionistischer Naturwissenschaftler ist, und deshalb können wir auch miteinander reden. Das Wissen, das man sich in einem Experiment befindet, begleitet das von ihm geschilderte Selbsterleben. Damit haben wir es mit einer Verdoppelung zu tun. Es ist dies ein Problem,  das sich durch alle Forschung zieht.

 Roth: Man weiß heute, wo die Fähigkeit zur Selbstreflexion sich im Gehirn befindet. Und zwar deshalb, weil es Patienten gibt, die diese Fähigkeit nicht haben. Im Experiment kann man der Versuchsperson sagen: „Denk jetzt einmal über ein Problem nach und versuche nicht darüber nachzudenken, dass du jetzt nachdenkst“ und: „Jetzt denke darüber nach, dass du nachdenkst“. Man kann die Versuchspersonen so trainieren, dass das funktioniert. Und dann kann man deutlich eine unterschiedliche Hirnaktivität sehen. Das ist zwar nicht die Lösung aller philosophischen selbstreflexiven Probleme, aber ein Schritt in diese Richtung.

 Heintel: All das, was Sie beschreiben, ist bekannt als das empirische Ich. Dieses hat auch etwas mit Ethik zu tun, deshalb das ethische Ich, das beinhaltet, das sich jemand im Sinne von Gewohnheiten und Vorschriften verhält. Und dann gibt es wiederum ein Ich, das betrachtet alle diese Vorschriften und dieses transzendentale Ich ist, wie Kant sagen würde, immer vis-à-vis von allen empirischen Ichs. Wenn wir im Sinne des kategorischen Imperativs den Anspruch auf Moralität stellen, dann steht dahinter der Anspruch auf eine voraussetzunglose Betrachtung. Diese Differenz will ich beibehalten, und sie ist nicht dieselbe, die Sie beschrieben haben.

 Roth: Man muss sich diesem Problem sehr vorsichtig nähern. Wenn man dieses merkwürdige Gebilde, das unser Bewusstsein produziert, unser Großhirn, genauer anschaut, findet man darin viele Eigentümlichkeiten unseres menschlichen Geistes.

 Ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was Sie vorhin gesagt haben? Sie sind jetzt sehr vorsichtig, und die Gewissheit von vorher, dass Sie die Funktionen des Gehirns wirklich kennen, fehlt. Ob Sie Funktionen in all ihrer Komplexität erkunden können, das ist der Zweifel, der noch immer im Raum steht. 

 Roth: Man muss unterscheiden zwischen dem, was man in der Hirnforschung gut und was man weniger gut versteht. Gut erforscht sind die Vorgänge auf der Ebene der einzelnen Zelle und daraus sind auch viele neue pharmakologische Mittel entstanden. Auf der oberen Ebene hingegen - auf der Ebene, über die wir sprechen -, kann man mit neuen Methoden, etwa dem EEG oder der funktionellen Kernspintomographie viel erforschen. Das ganz große Rätsel ist das dazwischen. Wie machen es diese Hunderte von Milliarden Zellen, dass auf der höheren Ebene Gefühle entstehen, dass wir einen Willen haben usw.? Diese Zwischenebene ist es, die uns noch lange in Anspruch nehmen wird. Und an sie haben die Philosophen, wenn sie uns kritisiert haben, gar nicht gedacht.

 Die Frage: „Geht dem Willensentschluss ein Hirnvorgang vorher oder folgt er ihm?“, hätten die meisten Philosophen noch vor zehn Jahren für absurd gehalten, heute könnte ich Ihnen dazu viel sagen. Aber die Frage, wie es die Nervenzellen schaffen, Bewusstsein zu erzeugen, bleibt rätselhaft. Auch dies zu lösen, ist schon sehr viel verlangt, es wird, bis es soweit ist, vielleicht noch 100 Jahre dauern. Aber es doch schon sensationell zu wissen, was im Hirn vor sich geht, wenn ich Bewusstsein, wenn ich Gefühle habe.

 Aber könnten Sie an einem Beispiel klarmachen, wie Bewusstsein entsteht?

 Roth: Das Aufmerksamkeitsbewusstsein als die dominante Bewusstseinsform entsteht, wenn das Gehirn Dinge nicht routinemäßig erledigen kann. Es gibt Zentren in unserem Gehirn, die unbewusst alles scannen und anschließend mittels Detektoren im Bruchteil einer Sekunde das Gedächtnis abfragen. Angenommen, ich fahre im Auto von Klagenfurt nach Wien und unterhalte mich mit dem Philosophen, der neben mir sitzt. Mein visuelles System scannt unterwegs alles ab und stellt unbewusst fest: kenne ich, kenne ich nicht – ist aber auch nicht wichtig! Dazu brauche ich kein Bewusstsein, ich kann mich voll auf den Philosophen neben mir konzentrieren. Nun kommt irgendetwas Neues, von Hirnzentren unbewusst als wichtig eingestuft. Etwa eine komplizierte Verkehrssituation, die so noch nie aufgetreten ist. Bestimmte Zentren in meinem Gehirn geben nun eine Meldung an meine Großhirnrinde, in der das Bewusstsein sitzt, sie habe sich damit zu befassen. Dies deswegen, weil die unbewussten Zentren in unserem Gehirn nur Standards abarbeiten können. Schnell komplexe Dinge lernen und umlernen kann nur die Großhirnrinde. Lernen und umlernen kann nur die Großhirnrinde. Sie kommt dann ins Spiel, wenn Dinge sortiert und neu zusammengefügt werden müssen. Innerhalb kürzester Zeit werden dann bestimmte Teile der Großhirnrinde mit dem Gedächtnis zusammengeschaltet, und es entstehen neue Nervennetze. Sobald ich aber dieses Problem mehrfach bewältigt habe, stellt mein Gehirn dies fest und die Nervennetze schrumpfen ganz langsam aus der Großhirnrinde ins Unbewusste ab.

 Neben wir das Beispiel des äußerst begabten Korbballspielers, der blitzschnell erfasst, das er mit einer bestimmten Kopfbewegung den Ball treffsicher ins Netz bringt. Ist dies etwas, das Sie erklären können?

    Roth:  Die Frage der Begabung ist völlig unklar, mit Ausnahme der Intelligenz. Hier glaubt man inzwischen zu wissen, was am Gehirn den intelligenten Menschen zu einem solchen macht. Bei diesen phantastischen senso-motorischen Leistungen, die Sie angesprochen haben, antizipiert der Spieler völlig unbewusst, was der Gegner demnächst machen wird. Diese Reaktionen erfolgen, ohne zu denken, indem intuitiv Abläufe gelernt wurden. Diese Spieler haben gelernt, aus den kleinsten Reaktionen ihres Gegners abzuschätzen, was genau dieser demnächst machen und wie darauf zu reagieren ist. Dies sind durch jahrelanges Training eingeübte Meisterleistungen unseres Gehirns.

 Und wie ist dies hinsichtlich der Intelligenz?

 Roth: Ein intelligenter Mensch muss in der Lage sein, mit beschränkten Ressourcen in beschränkter Zeit auf Lösungen zu kommen, die den meisten anderen nicht einfallen. Dazu muss man auch ganz unbewusst rational an ein Problem herangehen und dieses einschätzen können. Er muss in kürzester Zeit verschiedene Versatzstücke in seinem Erfahrungsgedächtnis zusammensetzen können.

 Heintel: Ich bestreite nicht im geringsten, dass sich in diesen Experimenten allerhand über das Gehirn feststellen lässt. Wille oder Freiheit hingegen, also die höchste Ebene, werden damit nicht erreicht. Sie brauchen dazu Brückenbegriffe wie etwa „Begleitgefühl“, das dann der Wille sein könnte. Damit aber verlässt die Naturwissenschaft ihren Boden.

 Roth: Eindeutig.

 Heintel: Es ist eine Art vermittelter Metaphysik, die hier zum Tragen kommt. Ein schönes Beispiel dazu ist die Geschichte mit dem Auto. Sie sagen, erst bei einem unerwarteten Ereignis greife das Bewusstsein ein und Netzwerke würden gebildet. Leider ist es aber nicht so. Vielmehr tritt man wie närrisch auf die Bremse - eine blöde Reaktion, weshalb man auch das ABS erfunden hat. In vielen solchen Schockreaktionen reagiert man so.

 Roth: In dieser kurzen Zeit trifft das Gehirn eine wichtige Entscheidung. Das einfachste ist, etwas zu tun, was archaisch ist, nämlich auf die Bremse zu drücken. Auch dies ist eine Möglichkeit des Gehirns, zu reagieren.

 Heintel: „Ich“ oder „Wille“ ist historisch gesehen nicht immer der gleiche Gegenstand gewesen. Man kann etwa der Meinung sein, dass das „Ich“, von dem wir sprechen, eine spezifische europäische Entwicklung ist. Allerdings tut sich die Naturwissenschaft schwer, dies zu erklären.

 Ihr Vorwurf an Herrn Roth ist ja, dass sich die Naturwissenschaft mit diesen Brückenbegriffen anderer Forschungsdisziplinen bedient. Herr Roth wiederum sieht dies positiv als interdisziplinären Forschungsansatz an, der der Komplexität der Sache gerecht wird.

 Heintel: Ich habe nichts gegen diese Brückenbegriffe, diese sind vielmehr notwendig. Dabei verlässt man aber die erste Ebene des Modells.

 Roth: Es ist kaum vorstellbar, was im menschlichen Gehirn vor und nach der Geburt vor sich geht. Vor der Geburt werden etwa bis hundert mal mehr Nervenzellen produziert als später. Diese Zellen sterben dann alle ab. Zur gleichen Zeit werden unendlich viele Verknüpfungspunkte gebildet, bis zu hunderttausend solcher Kontaktpunkte pro Sekunde - die dann später alle auch wieder abgebaut werden! Dieser dramatische Prozess hat seinen Gipfel im ersten und zweiten Lebensjahr, dann findet eine Abflachung statt, um während der Pubertät nochmals zu steigen. Was könnte das bedeuten? Man hat  in den letzten Jahren herausgefunden, dass all diese Entwicklungsvorgänge, die Piaget beschrieben hat, schon weit früher stattfinden, als er angenommen hatte. Das Kind lernt etwa die Stimme der Mutter im Mutterleib kennen und wendet sich dieser sofort nach der Geburt zu. Nach ein bis zwei Wochen sucht das Kind den direkten Blickkontakt zur Mutter und innerhalb weniger Wochen versteht es, den Blickkontakt zur Mutter zu erwidern und zu verstehen, was die Mutter sucht. Man kann sagen, dass der Mensch mit einer Sucht nach Kommunikation mit der Mutter auf die Welt kommt. Man kann nun verstehen, warum das menschliche Gehirn in dieser Situation eine unglaubliche Vielfalt produziert, die dann in den ersten Lebensjahren abmagert: Es kommt dabei zu einer Art Selektion. Die Abläufe im Gehirn haben also die Funktion, das Kind auf die Kommunikation mit seiner Umwelt einzustellen. Mit dem Blick auf das Gehirn allein ist dies nicht zu verstehen. Es gibt kaum etwas interessanteres als das, was in den letzten Jahren in der Hirnforschung zusammen mit der Säuglingspsychologie erforscht worden ist.

 Herr Heintel, sehen Sie nun nach diesem Gespräch einiges anders, als Sie es vorher gesehen haben?

Heintel: Diese Offenheit gegenüber den Problemen, wie sie Herr Roth hier gezeigt hat, erfahre ich nicht bei allen seinen Kollegen. Mit seiner Rede von den Zwischenebenen kann ich einiges anfangen. Noch etwas zur Selektion. Es geschieht natürlich Selektion, das Gehirn wird während seiner Lebensgeschichte selektiv gebildet. Dennoch gibt es so etwas wie Begabung, es gibt Brüche, und es gibt so etwas wie ein kollektives Gedächtnis. Die Frage ist nun: Wann und wo greifen Menschen aus welchen Ursachen auf den Bereich der Reserven des Gehirns, auf diese unendlichen Möglichkeiten zurück? Oft scheint es doch wie eine bruchartige Willkür zu sein. Was für Entscheidungen sind es, die Traditionsselektionen abbrechen lassen?

 Roth:  Hier wird es etwas spekulativ. Man beginnt gerade erst zu verstehen, was das menschliche Gehirn kann. Wir müssen in bezug auf das Bewusstsein und seine Funktionen radikal umdenken. Das Bewusstsein ist deshalb so wichtig, weil wir es sind. Wir sind aber nicht das wichtigste im Gehirn, am wichtigsten sind die Zentren, die unser Verhalten entscheiden. Bewusstsein ist ein Instrument, das eingesetzt wird. Entschieden wird, natürlich unter Berücksichtigung des Bewusstseins, aber auch mit dem, was in den ersten drei Lebensjahren uns geformt hat und was aktuell nicht bewusst ist. Unsere zu früherer Zeit bewusst gemachten Erfahrungen gehen in unsere Entscheidungen ein und dieser Komplex ist gigantisch größer als das, was wir gerade im Kopf haben.

 Gekürzte Fassung eines im Rahmen der „Tusculanischen Gespräche“ des Universitätsclubs der Absolventen der Universität Klagenfurt im ORF-Theater des Landesstudios Kärnten organisierten Gesprächs (Leitung/Moderation: Robert Buchacher).

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Hirnforscher Roth kritisiert die Philosophen

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Autoren

Peter Heintel ist Professor für Philosophie an der Universität Klagenfurt

Gerhard Roth ist Professor für Neurobiologie an der Universität Bremen.