Martha C. Nussbaum

Martha C. Nussbaum, die derzeit an der Universität Chicago (Ernst Freund Distinguished Service Professor of Law and Ethics) lehrt, gilt als eine der gegenwärtig bekanntesten und renommiertesten Philosophinnen. Nussbaums Arbeiten greifen eine Fülle von Themen auf. Neben minutiösen Interpretationen der griechischen Philosophie und Literatur, Abhandlungen zu Theorieproblemen der Ethik, Analysen zum Begriff der Empfindungen und Gefühle und Studien zu Problemen des Liberalismus umfasst ihr Werk auch Essays zur feministischen Philosophie und zum Stellenwert der Geisteswissenschaften im Kontext akademischer Bildung und Ausbildung. Ihre Schriften zeichnen sich durch eine ungewöhnlich breite Rezeption literarischer und philosophischer Texte aus – eine enzyklopädische Belesenheit, die sich keineswegs auf ihre Spezialgebiete, die Antike und die hellenistische Epoche der Stoiker, Epikureer und Skeptiker beschränkt. Und Nussbaums Denken zeichnet sich durch Mut zum Widerspruch und zur Provokation aus: Wenige akademische Philosophinnen und Philosophen haben in ähnlicher Offenheit postmodernistische Relativismen bloßgelegt und die in weiten Teilen der Gegenwartsphilosophie gängigen Tendenzen kritisiert, die Rhetorik dem Argument vorzuziehen.

Ethik und Literatur

 Charakteristisch für Nussbaums Werk ist die Verknüpfung von Problemen der Ethik mit der Analyse literarischer Texte. So beschäftigt sie sich in Fragility of Goodness mit der Frage, wie weit Zufall und kontingente externe Bedingungen die Konzeptionen guten Handelns in der griechischen Tragödiendichtung beeinflussen. Und in der Aufsatzsammlung Love’s Knowledge thematisiert sie ausgehend von literarischen Werken (u.a. Henry James‘ The Golden Bowl und The Princess Casamassima) die Verbindung zwischen literarischer Vorstellungskraft, moralischer Sensibilität und Urteilsfähigkeit.

 Martha Nussbaum will aus der Verknüpfung von Literatur und Ethik einen neuen Blickwinkel auf aktuelle moralphilosophische Debatten gewinnen – es sind dies die Diskussionen um die Reichweite genereller Prinzipien, über die Frage nach dem Verhältnis von Prinzipien- und Tugendethik und über das Problem der Stärke und der Schwächen des Konsequentialismus. Anhand von Texten der antiken Literatur, die häufig um die Probleme von Schuld, Tragik, Verstrickung, Ausweglosigkeit und Starrsinn kreisen, thematisiert sie die Frage, wie weit die Verpflichtung auf Prinzipien im konkreten Fall als „strikte“ oder als „weite“ Pflicht zu verstehen ist und inwieweit grundsatzorientierte Menschen durch Zufälligkeiten tragischer Umstände moralisch schuldhaft handeln. Die griechischen Tragödien (u.a. Aischylos: Agamemnon, Sophokles: Antigone) lehren uns, dass eine durch Beharren auf Regeln eingeengte Urteilskraft moralisch fehlerhaftes Handeln bedingt. Mangelnde Wahrnehmung der Vielschichtigkeit und Komplexität moralischer Forderungen führt demnach zu inhumanem Handeln.

 Genau an diesem Punkt - der Abstraktion von den Kontingenzen menschlicher Existenz einerseits und der Sensibilität für die Fügungen des Schicksals andererseits - unterscheiden sich für Nussbaum auch die ethischen Ansätze von Platon und Aristoteles. Anders als Platon, der bei der Suche nach unveränderlichen Wahrheiten alles Kontingente vermeiden will, zeigt sich Aristoteles, wie Nussbaum betont, wesentlich offener gegenüber dem Partikularen und den Wechselfällen des Daseins und assoziiert praktische Weisheit auch mit flexibel-offener Wahrnehmungsfähigkeit. Das begründete moralische Urteil beruht für Aristoteles auf dem Erfassen der moralisch relevanten Eigenschaften komplexer Situationen durch die reflexiv geschulte Urteilskraft einer Person guten Charakters, die eine Konzeption des guten Lebens und die entsprechenden moralischen Werte internalisiert hat. Mit Bezug auf die leidvollen Irrungen und Wirrungen der Protagonisten der griechischen Literatur erweist sich nach Nussbaum die aristotelische Ethik als angemessener. Doch Nussbaum verkennt keineswegs den Stellenwert deontologischer Prinzipienethiken – und letztlich geht es ihr um eine angemessene Verbindung kantischer und aristotelischer Konzeptionen.

 Ein Problem, das Nussbaum beschäftigt, und das sich über literarische Texte exemplarisch verdeutlichen lässt, ist jenes der moralischen Wahrnehmung. Das Thema findet gegenwärtig selbst in der neo-kantischen Ethik-Debatte Beachtung. Denn die Kantische Ethik, der es um die Prüfung der subjektiven Prinzipien des Wollens in Form ihrer Übereinstimmung mit den grundlegenden Moralgesetzen geht, setzt die Fähigkeit zur moralischen Wahrnehmung voraus. Das Prüf-Verfahren des kategorischen Imperativs allein genügt nicht: Handelnde müssen zusätzlich in der Lage sein, moralisch relevante Situationen erkennen zu können.

 Mittels anschaulicher Beispiele aus der Literatur entwickelt Nussbaum ein Verständnis dieser komplexen Fähigkeit, die nicht über einen Regelkanon zu erschließen ist, sondern einer situationsspezifischen Ausformung bedarf. An diesen Schnittstellen von literarischer Beschreibung und theoretischer Reflexion erweist sich die Verbindung von Literatur und Ethik als gewinnbringend und einsichtsvoll. Denn in dem angesprochenen Kontext verfügt das literarische Beispiel über eine illustrative Aussagekraft, die über das rein philosophische Argument nicht nur hinausgeht, sondern auch die Schwachpunkte mancher philosophischen Thesen aufzeigt. So verkörpert der Versuch Maggie Ververs (Protagonistin in James‘ Roman The Golden Bowl), einen Ausweg aus einer komplexen Situation unvermeidlicher Verletzungen anderer zu finden, eine Form moralischen Denkens, das über die mögliche Verallgemeinerbarkeit von Prinzipien des Handelns hinausgeht.

 Nussbaums Rückgriff auf literarische Texte bedeutet keine Verflachung ihrer philosophisch-theoretischen Position. Sie vertritt keine dem Partikularen und Besonderen folgende Situationsethik, sondern verteidigt den Wert abstrakter und genereller Prinzipien. Nussbaum, wollte man ihr Theorieprogramm beschreiben, geht es um eine differenzierte Form der Synthese von Kantischer Theorie und Aristotelischer Ethik. Ihr Anliegen ist es nicht so sehr, diese Verknüpfung zweier unterschiedlicher Traditionen der praktischen Philosophie in allen philosophischen Details auszuarbeiten. Es geht mehr darum, die Gründe für die Verbindung von Kant und   Aristoteles an den dichten Beschreibungen des menschlichen Lebens, wie sie literarische Texte vermitteln, zu veranschaulichen. Nussbaums Arbeiten werden oft dahingehend kritisiert, dass diese ohne analytische Kleinarbeit auf Theorien aufbauen. Diese Kritik ist ungerecht, denn sie unterschätzt den substantiellen Beitrag einer Analyse literarischer Texte für die Theorie-Debatten der Ethik. 

 Affekte und Empfindungen

 Die Beschäftigung mit Literatur sensibilisiert uns, wie Nussbaum betont, auch für den Stellenwert der Affekte, Empfindungen und Gefühle. Neben ihrer umfangreichen Studie Upheavals of Thought  hat sich Nussbaum auch in ihrem Buch Therapy of Desire mit der Philosophie der Affekte und Empfindungen beschäftigt, genauer: mit den Antworten, welche die philosophischen Schulen des Hellenismus auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit unseres Begehrens und unserer Affekte geben.

 Affekte und Empfindungen sind demnach unverzichtbar für rechtes moralisches Urteilen – ohne ausgewogene und den jeweiligen Situationen angemessene Empfindungen sei ein Überlegungsgleichgewicht zwischen Prinzipien und Einzelurteilen nicht zu erreichen. Affekte, Neigungen und Empfindungen gelten als Schwachstelle der Kantischen Ethik. Anders als die neo-kantischen Ansätze, nach denen Gefühle nur die motivationale Funktion haben, uns an Prinzipien zu binden, betont Nussbaum den Eigenwert der Affekte und Gefühle. Empfindungen sind für sie evaluative Urteile. Gefühle haben eine kognitive Komponente und sind nicht rein blinde irrationale Affekte. Reflexiv kontrollierte Gefühle verdichten sich zu Empfindungen, die spezifische Formen von Urteilen darstellen. Die mit Gefühlen verknüpften Urteile können selbstredend falsch sein, und Gefühle können auch irrational sein – wenn sie ohne entsprechende empirische Rückversicherung Bilder und Erfahrungen der Vergangenheit auf aktuelle Erfahrungen projizieren.    

Eine politische Theorie des Gute

Nussbaums Schriften umfassen auch Beiträge zur politischen Philosophie, zum Liberalismus, zur Ethik der Entwicklungspolitik und der Frage der Geschlechtergleichheit. Zentral für Nussbaums Liberalismus ist eine an den grundlegenden Vermögen und Fähigkeiten (capabilities) von Menschen orientierte Konzeption des Guten. Ihr Fähigkeiten-Ansatz bestimmt ausgehend von Grunderfahrungen des menschlichen Lebens wie Sterblichkeit, Körperlichkeit, der Erfahrung von Schmerz und Leid und dem Angewiesensein auf bestimmte kognitive Fähigkeiten jene Funktionsfähigkeiten, die ein menschliches Leben zu einem guten Leben machen.

 In einem ersten Schritt benennt Nussbaum jene Eigenschaften, die ein Leben zu einem menschlichen Leben machen: also die Tatsache, dass alle Menschen ihr Leben als hilflose Säuglinge beginnen, die Tatsache der Sterblichkeit, kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmen, Vorstellen, Denken, praktische Vernunft, Bindungen zu anderen Menschen, zu anderen Spezies und zur Natur. Auf einer zweiten Ebene definiert die Liste eine Konzeption des Guten: ohne bestimmte Funktionsfähigkeiten wäre ein Leben zwar ein menschliches Leben, nicht aber ein gutes menschliches Leben. Zu dieser Art von Fähigkeiten zählt Nussbaum: die gewöhnliche Lebenszeit ausschöpfen zu können, gute Gesundheit, angemessene Unterkunft, Möglichkeit der Ortsveränderung, Vermeidung von unnötigem Schmerz und die Möglichkeit zu lustvollem Erleben; fähig sein, die fünf Sinne zu benutzen und Bindungen zu anderen Personen zu entwickeln, fähig sein zu Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens, fähig sein zu Formen gesellschaftlicher und familialer Interaktionen, fähig sein, das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt und in seinem Kontext zu führen. Nussbaum formuliert somit eine reichhaltige, wenngleich vage Konzeption des Guten. Die Liste der Fähigkeiten lässt, da es sich um eine Menge von potentiellen Vermögen handelt, einen Freiraum offen. Gleichfalls definiert sie eine substantielle Konzeption des Guten, da die Elemente eines guten Lebens konkretisiert werden.

 Eine solche normative Konzeption als Basis einer politischen Moral scheint in der globalen Dimension attraktiv, da sie sich - abgelöst von komplexen Prinzipien umfassender Theorien - an den einfachen Bedingungen des Menschseins und an allgemein nachvollziehbaren Urteilen des Guten und des Schlechten orientiert. Armut, Marginalisierung, Hunger, Schmerz ist schlecht, gut ist, was hilft, diese Dinge zu vermeiden. Eine solche Ethik des guten Lebens basiert auf einfachen moralischen Urteilen, die sich aus einer relativ eindeutigen Skala von Wert und Unwert ableiten und die über kulturelle Differenzen hinweg als unstrittig gelten.

 Nussbaum versteht ihre Konzeption nicht nur als Basis einer lokalen Ethik der Entwicklungspolitik, sondern zunehmend auch als Grundlage einer globalen Ethik. Dies wird deutlich, wenn sie neuerdings – in bewusster Abgrenzung zu Rawls - ihre Liste der capabilities als die Liste jener Werte interpretiert, die Basis eines übergreifenden globalen Konsenses sein können.

Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz beansprucht, kontextsensitiv, partikularistisch und gender-sensibel zu sein – und der Ansatz gewinnt nicht zuletzt deshalb eine gewisse Überzeugungskraft, da er die situationsspezifischen Lebensgeschichten armer Menschen, insbesondere armer Frauen, normativ ernst nimmt. Doch ihr Ansatz ist nicht ganz frei von der Tendenz, über dem moralischen Gewicht des Partikularen den Blick auf eine allgemeine Theorie der politischen Moral zu verlieren.

 Nussbaums Konzeption gilt gemeinhin als Weiterentwicklung von Amartya Sens capabilities-Ansatz. Sen hat die Kategorie der Fähigkeiten und Vermögen als alternative Metrik der Gleichheit eingeführt, vor allem als Alternative zu Rawls‘ Parameter der Grundgütergleichheit. Die Metrik der Vermögen erlaubt nach Sen den Blick auf jene Ungleichheiten, die sich durch eine unterschiedliche Transformation von Gütern in positive Freiheiten ergeben. Bestimmte natürliche und soziale Bedingungen (nach Sen spielt auch der gender-Faktor eine maßgebliche Rolle) können trotz gleicher Grundgüterausstattung von Personen zu ungleichen positiven Handlungsräumen führen: die Freiheit der einen Person mag ungleich größer als jene der anderen sein. Sen will die Metrik der capabilities bewusst unterbestimmt lassen – als flexibler Standard, um Ungleichgewichte normativ zu kritisieren. Damit ist nach Sen die Anwendung in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten gesichert, denn es besteht keine Verpflichtung, eine damit einhergehende Auffassung des guten Lebens gegenüber „allen“ in einem globalen Diskurs zu rechtfertigen. Nussbaum hingegen betrachtet die Verbindung der capabilities-Metrik mit einer spezifischen Konzeption des Guten als unabdingbar. Der Fähigkeiten-Ansatz gewinne sonst nicht genügend Aussagekraft. Damit verschiebt sie aber die ursprüngliche Intention des Ansatzes erheblich – statt einem Standard, der Ungleichheiten misst, sind Fähigkeiten nun die Grundwerte einer Ethik des guten Lebens. Dieser weitergehende theoretische Anspruch bleibt aber, wie viele kritisieren, eine philosophische ad hoc-Konstruktion, der eine zureichende Begründung fehlt. Nicht zuletzt ist diese Ethik des guten Lebens mit dem Vorwurf des (westlichen) Paternalismus konfrontiert, da sie im Kontext einer Ethik der Entwicklungspolitik leicht in das Muster gut gemeinter, aber letztlich arroganter normativer Vorgaben gegenüber „armen Ländern“ und „unterentwickelten Regionen“ abgleite.  

 Sens Ansatz lässt sich ohne Verpflichtung auf eine substantielle Konzeption des Guten vervollständigen, wenn man Sens Überlegungen in eine liberale politische Konzeption integriert. Dieser Schritt ist auch insofern naheliegend, als es Sen mit seiner Konzentration auf Fähigkeiten oder Vermögen ja letztlich um den Stellenwert positiver Freiheit geht. Als Metrik der Gleichheit ersetzen Fähigkeiten aber nicht andere Metriken wie Grundgüter oder Ressourcen, sie indizieren vielmehr die verschiedenen Freiheiten, die Menschen aufgrund bestimmter Ressourcen oder Grundgüter genießen. So interpretiert ist der Fähigkeiten-Ansatz Teil einer politischen Theorie, die Autonomie zum Grundwert einer Konzeption demokratischer Gleichheit erklärt. Fähigkeiten scheinen gemäß dieser Lesart über den Begriff elementarer Fähigkeiten, der an die Erfüllung grundlegendster Bedürfnisse geknüpft ist, hinauszugehen.

 In Martha Nussbaums Arbeiten zur Entwicklungsethik und zur politischen Theorie finden sich zwei Richtungen, die sich letztlich konkurrenzieren. Einerseits gibt es den Versuch, eine globale Ethik auf moralische Primitivdaten zu reduzieren, die aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven Zustimmung zu finden vermögen. Auf der anderen Seite steht der Versuch, eine globale Ethik mit anspruchsvollen normativen Theorien zu verknüpfen und deren Verbindlichkeit ungeachtet vordergründiger kultureller Differenzen einzufordern. Nussbaum spielt mit beiden Möglichkeiten, doch meines Erachtens geht dabei die Geschlossenheit ihres Ansatzes verloren. Notwendig ist eine normative politische Konzeption, von deren Grundwerten her die moralischen Primitivdaten gewichtet werden.

 Eine Konzeption, aus der sich Rechte ableiten, erlaubt uns, die Situation von Personen in einer komplexeren Art und Weise zu analysieren und zu bewerten, als es eine Konzentration auf deren Grundbedürfnisse zulässt. So ist die Integrität, die Privatheit und letztlich die Würde von Personen eher gewahrt, wenn Personen ihre Ansprüche auf der Grundlage eines Rechts auf Autonomie vorbringen statt auf der Basis ihrer Bedürftigkeit. Die Kehrseite der Bedürftigkeit ist die paternalistische Wohlfahrtsgeste – zwar gut gemeint, aber potentiell herablassend, hierarchisch eindeutig. Bedürftigkeit ist ein höchst ambivalenter Parameter: Menschen müssen nicht nachweisen, dass sie besonders hungrig sind oder besonders leiden, um Ansprüche auf bestimmte Güter zu haben, genauso wie Menschen nicht Ansprüche verlieren, weil sie es schaffen, in deprimierendsten Lebenslagen noch einigermaßen zufrieden oder glücklich zu sein. Wenn moralische Parameter nicht in dahinterstehende politische Theorien eingebettet sind, ergibt sich das Problem, dass sie sich verselbständigen und ihr normativer Stellenwert unklar und leicht instrumentalisierbar wird.

 In Martha Nussbaums Arbeiten zur Entwicklungsethik und zur politischen Philosophie finden sich beide dieser Richtungen. Nussbaum selbst ist sehr sensibel gegenüber dem Problem des Paternalismus. Doch sie muss, um diesem Problem zu entgehen, letztlich eine politische Konzeption formulieren, in welcher der Fähigkeiten-Ansatz nicht mehr eine isoliert dastehende Theorie des Guten verkörpert. Und im globalen Kontext bedeutet dies, einer Konzeption demokratischer Gleichheit und der normativen Forderung nach demokratischen politischen Verhältnissen Vorrang vor isolierten moralischen Impulsen zu geben. Nussbaum sieht mittlerweile ihre Fähigkeiten-Konzeption viel stärker als Teil eines gender-sensiblen Liberalismus. Doch insgesamt ist ihr Ansatz nicht frei von einer gewissen Ambivalenz: Zum einen anerkennt Nussbaum den Stellenwert abstrakter Rechtsprinzipien, zum anderen tendiert sie dazu, einer Theorie des Guten Vorrang vor diesen Prinzipien zu geben. Letztlich bleibt das genaue Verhältnis dieser beiden Aspekte relativ offen und unklar. Doch die Auseinandersetzung mit Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz ist auch deshalb so interessant und wichtig, da Nussbaum Fragen der Geschlechterungleichheit thematisiert und sich um mögliche Barrieren gegen die zerstörerischen Konsequenzen chauvinistischer Vorurteile für das Leben unzähliger Frauen und der von ihnen betreuten Kinder im Rahmen liberaler und auch strikt traditionalistischer Gesellschaftsformen bemüht.

Bücher von Martha C. Nussbaum:

 The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy. 544 p., cloth £ 50.—, pbk. £ 17.95, 1986, Cambridge University Press.

 Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. Xix, 403 p., pbk., £ 16.—, 1990, Oxford University Press.

 The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics. Martin Classical Lectures. 572 p., cloth £ 52.—, pbk. £ 15.95, 1994, Princeton University Press.

 Poetic Justice. The Literary Imagination and Public Life. 128 p., pbk., $ 14.—, 1995, Beacon Press, Boston.

 Cultivating Humanity. A Classical Defense of Reform in Liberal Education. 352 p., cloth £ 18.95, pbk. £ 12.95, 1997, Harvard University Press, Cambridge Mass.

 Sex and Social Justice. Xii, 476 p., cloth £ 25.—, pbk. £ 13.—, 1999, Oxford University Press.

 Women and Human Development: The Capabilities Approach. The Capabilities Approach. 334 p., cloth £ 20.—, pbk. £ 13.95, 2000, Cambridge University Press.

 Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, 2001, Cambridge University Press.

 Aristotle’s “De Motu Animalium”. 456 p., pbk., £ 24.95, Princeton University Press.

 Mit anderen herausgegebene Bücher:

 Mit Amartya Sen: The Quality of Life. WIDER Studies in Development Economics. 465 p., pbk., £ 18.—, 1993, Oxford University Press.

 Mit Jonathan Glover: Women, Culture and Development. A Study of Human Capabilities. Xi, 481 p., cloth £ 57.50, pbk. £ 17.—, 1995, Clarendon Press, Oxford.

 Deutsche Übersetzungen:

Gerechtigkeit oder das gute Leben. Herausgegeben von Herlinde Pauer-Studer. 320 S., Edition Suhrkamp 1729, € 13.—, 1999, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Vom Nutzen der Moraltheorie für das Leben. Mit einem Interview von Martha Nussbaum von Klaus Taschwer, 104 S., kt., € 15.—, 2000 Passagen-Verlag, Wien.

Konstruktionen der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge. Drei philosophische Aufsätze. 235 S., kt., RUB 18189, € 5.60, Reclam.

 

 

Autor

Herlinde Pauer-Studer ist Professorin für Philosophie an der Universität Wien. Buchpublikationen u. a.: Autonom leben. Reflexionen über Freiheit und Gleichheit (Suhrkamp 2000);  Einführung in die Ethik (WUV-UTB 2003).