Odo Marquard: Skepsis und Kompensation

Herr Marquard, Sie haben sich immer wieder als Skeptiker bezeichnet. Gegen was richtet sich Skepsis?

Gegen Dogmatismus und gegen Illusionen. Vor allem gegen Absolutheitsillusionen. Lebensgeschichtlich gesehen ist Skepsis für mich eine Gegenposition zu totalitaristischen Ideologien. Ich war Schüler einer Adolf- Hitler-Schule, ich habe Krieg und Gefangenschaft mitgemacht, und die entsprechende Enttäuschung, Ernüchterung und Wut ist nicht nur für meine eigene Lebensgeschichte bedeutsam, sondern für die meiner ganzen Generation. Schelsky hat diesbezüglich von einer "skeptischen Generation" gesprochen. Ich habe daraus eine philosophische Position gemacht, einfach deswegen, weil mich Philosophie interessiert hat. Eine philosophische Position ist eine Art Bestandsaufnahme: welche Erfahrungen hast du bislang gemacht, was möchtest du in Zukunft machen?

Erst war einmal Misstrauen da gegenüber Lebensrezepten, gegen Gesellschaftskonzepte. Zugleich war die Skepsis etwas für mich, was man als ästhetische Verspieltheit bezeichnen kann.

Haben Sie diese Position selbständig entwickelt oder aus der Philosophiegeschichte übernommen?

In dieser Form habe ich sie nicht vorgefunden, ich bin einfach hineingeraten. Mein Lehrer war Joachim Ritter, und der war zwar eine eindrucksvolle Persönlichkeit, aber sicherlich kein Skeptiker. Es ergab sich ziemlich bald, dass ich meine Doktorarbeit über Kant schreiben würde. Obwohl es damals ziemlich schwierig war, an Literatur zu gelangen, zeigte sich bald, dass die Literatur über Kant uferlos war. Bald stellte ich fest, dass es mehrere Ansätze gab, Kant zu interpretieren: Kant als Endlichkeitsphilosoph (Heidegger), Kant als Wissenschaftsphilosoph (Neukantianismus), auch Gerhard Krüger, Heimsoeth (Kant als Metaphysiker) und Lukács (Kant als Revolutionsphilosoph) haben neben anderen eigene Interpretationen entwickelt. "Meine Güte", habe ich gedacht, "es gibt offenbar nicht den einen Kant, es gibt mindestens fünf Kants, und wer hat nun recht?" Dazu kam, dass mir fast jeder dieser Ansätze eingeleuchtet hat. Da entstand sozusagen durch Pluralisierung eine skeptische Position.

Hatten Sie denn nicht das Bedürfnis, eine eigene Interpretation zu entwickeln?

Ja, schon, aber Menschen müssen anknüpfen: so entstand das Büchlein "Skeptische Methode im Blick auf Kant". Skepsis war damals noch die Thematik, nicht die Positionsbezeichnung. Aber man kann Kants "Skeptische Methode" auch zur Position machen, und das habe ich alsbald getan. Man läßt sich zugleich von einer These und zugleich von ihrer Antithese überzeugen und distanziert sich dadurch von beiden: das ist Pluralismus als Methode. Damals war mir in gar keiner Weise klar, dass die Skepsis eine große Tradition hat. Ich war denn auch sehr erstaunt, als mir später Mohammed Rassem sagte, die Skepsis sei kein kleiner Sondertrupp der Philosophie, sondern rein quantitativ der main stream. Im Laufe der Zeit wurde mir dann klar, dass in der skeptischen Tradition von der Antike bis zur Gegenwart zur Skepsis nicht bloss die Neutralisierung (oder das Gegeneinanderhetzen) der Positionen gehört, sondern im Lebenspraktischen auch die Berufung auf die Sitten: Skepsis geht einher mit Traditionsschätzung. Das ist ein, wie ich meine, historisch gut gesicherter Befund.

Wenn man Kants Skeptische Methode auf die ganze Philosophie überträgt: Muss man dann nicht zu dem Schluss kommen, dass die Philosophie eigentlich nur sichten, nicht aber entscheiden kann?

Da ist schon etwas dran, nur kommen wir jetzt in eine Gegend, wo ich von meinen Kollegen viele Einwände bekommen habe. Hans-Michael Baumgartner etwa pflegte zu sagen, "glaubt dem Odo alles, nur nicht, dass er ein Skeptiker ist". Denn ich habe zugleich dezidierte Positionen vertreten, auch politische Positionen. Sie haben sich zwar im Laufe der Zeit verändert, aber für mich war wichtig - und das war eine Attraktivität der Skepsis - dass ich mich von der Leine des grossen Totalstandpunktes frei fühlen und immer wieder neu anfangen konnte.

Lange Zeit habe ich mich mit Fragen der Theodizee beschäftigt, und die Schwierigkeiten, hier zu dezidierten Ergebnissen zu kommen, haben mich in meiner Skepsis bestätigt. Angefangen habe ich zugleich an einer ganz anderen Stelle, nämlich beim Kompensationsbegriff. Nach Ritters Theorie des historischen Sinns der modernen Welt wird die Welt immer abstrakter, immer geschichtsloser, "entzauberter" (Max Weber). In diesem Augenblick tauchen die modernen Positionen der ästhetischen Faszination und des historischen Sinns auf - beides Positionen, die es vordem nicht gegeben hat. Solche Kompensationsverläufe haben mich fasziniert, auch im Hinblick auf die Begriffsgeschichte.

Plötzlich, das war hier im Hause, wache ich auf (frühmorgens - vor dem letzten Schlaf - habe ich manchmal die besten Einfälle), und mir wird klar: Kompensation ist doch ein Theodizeeargument. Damit schlossen sich zwei meiner Untersuchungsfelder zusammen. Ich fand dann auch eine entsprechende Stelle bei Leibniz, in der dieser sagt, Gott habe die Übel der Welt durch Annehmlichkeiten kompensiert.

Im Augenblick bin ich daran interessiert, die Verbindung zwischen den Kompensationstheorien, etwa der Gehlens, und der Anthropologie des homo symbolicus (Cassirer) zu suchen. Und hier liegt es nahe, auf Blumenberg aufmerksam zu werden, der ja hier in Giessen mein Kollege gewesen ist.

Könnte man sagen, Kompensation ist immer wieder ein Flickwerk für Dinge, die in der Modernisierung falsch gelaufen sind? Aber müsste man dann nicht schon vor der Kompensation ansetzen?

Die Kompensationsanthropologien setzen vor der Kompensation an. Gehlen beispielsweise setzt vor der Kompensation an, bei der physischen Beschaffenheit des Menschen. Die Kultur ist dann eine Kompensation von deren Mängeln. Es gibt gute Argumente dafür, dass in der Moderne dieser Kompensationsbedarf verstärkt wird.

Es werden viele Einwände gegen die Kompensationstheorie vorgebracht, und ich werde oft als Geisterfahrer des Geistes, der in die falsche Richtung fährt, betrachtet - Ihr Argument geht ja auch in diese Richtung. Aber ich lasse davon nicht ab, nicht nur, weil ich eine ganze Lebenszeit in diese Frage investiert habe, sondern auch, weil man, wenn man diesen roten Faden benutzt, zu interessanten Einsichten kommt. Vielleicht können die anderen Philosophen etwas ganz anderes damit anfangen, etwas, was mir gar nie in den Sinn gekommen ist. Allerdings bin ich kein Missionar. Es liegt mir unglaublich fern, mich hinzustellen und zu sagen: Hier gehts lang.

Die Dinge, die Sie erforscht haben, Theodizee und Kompensationstheorie sind genannt worden, kann man auch erforschen, ohne Skeptiker zu sein. Kann man denn sagen, dass die Skepsis in Ihrer Forschung darin besteht, Geisterfahrer zu sein und Gegenrichtungen einzunehmen?

Nun, was meine philosophische Jugend betrifft: Damals war es schick, etwas anderes zu machen - denken Sie an die Frankfurter Schule, in deren Fahrwasser ich auch lange Zeit war. Als diese dann durch die Studentenbewegung erfolgreich wurde, habe ich mich davon abgewandt, in gewisser Hinsicht nach demselben Motiv: Jetzt machen das alle, wo ist die Gegenrichtung? Zugleich aber auch mit der abnehmenden Überzeugung, dass "Gegenrichtung" allein das richtige sei, sondern dass dieses vielleicht eher in der Mitte liegt, mesotes würde Aristoteles sagen, und man kann dies mit Mittelmäßigkeit übersetzen; also: weg von den extremen Radikalismen; die Gegenposition ist die Position der Bürgerlichkeit. "Verweigerung der Bürgerlichkeit" und "Apologie der Bürgerlichkeit" sind deshalb für mich zu wichtigen Begriffen geworden.

Was verstehen Sie denn unter "bürgerlich"?

Dies ist eine unvermeidliche Frage; meint man damit den "citoyen" oder meint man den "bourgeois"? Ich habe immer Wert darauf gelegt, zu sagen, man kann beides nicht trennen. Wieviel "bourgeois" müssen wir sein, um wirklich "citoyen" sein zu können, um Eigenständigkeit zu haben? Und inwiefern ist beides in der griechischen Tradition der "polis" verankert? Joachim Ritter hat übrigens zu einem Zeitpunkt für Bürgerlichkeit plädiert, wo wir noch unsere existentialistischen oder marxistischen Sonderwege im Sinne hatten. Auch von Hermann Lübbe, dem zweifellos soziologisch Gebildetsten unter uns, glaubten wir eine Weile, er sei Marxist.

Lag das im damaligen Universitätssystem begründet?

Ich habe bei Ritter die alte Ordinarienuniversität nicht von deren Schattenseite erlebt; vielmehr herrschte bei ihm ein liberales Klima, und wir durften machen, was wir wollten. Allerdings kenne ich die Universität auch von der anderen Seite, so hatte ich 1970/71 große Schwierigkeiten, die Habilitation von Sandkühler durchzubringen, und zwar, weil er Marxist war. Die Situation war dann zwischendurch grotesk: Sandkühler schien durchblicken zu lassen, dass er die bürgerliche Philosophie für verrottet halte, weil diese sogar Leute habilitiere, von denen sie der Meinung ist, sie vertreten die Unwahrheit. Aber wenn ich einen Ansatz sehe, der mich zwar ärgert, von dem ich aber finde, er sei intelligent gemacht, bin ich der Meinung, er müsse gefördert werden.

Ein zeitgenössischer Philosoph, nämlich Richard Rorty, sagt von sich, seine Position sei ähnlich wie die von Odo Marquard: "Meine Anschauungen über das Wesen der Philosophie und ihre Grenzen sowie über die Notwendigkeit, sich der Kontingenz zu stellen, entsprechen den Anschauungen von Odo Marquard." Sehen Sie das auch so?

Ich finde Rorty einen unglaublich interessanten und anregenden Mann, den ich sowohl positionsmäßig als auch persönlich sehr gut mag.

Die Skepsis ist ja auch verbunden mit Positionen der eigenen Tradition, bei Rorty ist es der Ethnozentrismus. Der Vorwurf, der dann oft kommt, lautet, dies sei relativistisch gedacht.

Ich halte den Vorwurf zumindest für vorschnell. Wir stehen nie in einer Null-Situation, wo wir uns fragen können, welche ethische Option die beste ist. Wir sind immer mittendrin in Positionen, und allenfalls entsteht die Frage: soll ich hier aussteigen oder nicht? Daraus kann nicht der Vorwurf der Beliebigkeit folgen.

Getragen ist man erst einmal von Üblichkeiten, also Traditionen, und man muss nicht erst die Universalfrage: "Wo ist das universale Prinzip, aus dem ich ableiten kann, was ich nun machen soll?" klären. Die näherliegende Frage ist vielmehr: "Was zwingt mich dazu, in diesem Punkt abzuweichen?". Immer wieder wird hier das Beispiel der Witwenverbrennungen gebracht. Auch hier frage ich nicht nach dem universalen Prinzip, ob man Witwen verbrennen darf oder nicht, sondern wie ich die Witwe retten kann. Ich gebe aber zu, dass eine schonende Einstellung mit im Spiel ist, wenn ich sage, ich muss den anderen klarmachen, dass es nicht richtig ist, Witwen zu verbrennen. Aber eine skeptische Position zu haben, heißt nicht, zu sagen, alles ist gleich erlaubt, vielmehr rette ich die Witwe. Es ist also durchaus eine Option für die westliche Tradition mit drin.

In der letzten Zeit mache ich mir Gedanken darüber, ob man nicht gegenüber universalistischen Positionen, also Positionen, die darauf bestehen, dass man erst die Universalisierungsfrage klärt, von einem universalistischen Vorbehalt sprechen darf: man vertritt eine ethische Position nicht unbedingt, sondern nur bedingt: wenn man nachweisen kann, dass dies universalistisch in Ordnung ist.

Ein Universalismus kann aber Lebensorientierung bieten. Inwiefern taugt denn die Skepsis als Lebensphilosophie?

Diese Frage habe ich schon implizit beantwortet. Es ist doch nicht so, dass ich die Skepsis als Lebensorientierung brauche. Normalerweise habe ich durch die Tradition bereits eine Lebensorientierung.

Eine philosophische Lebensorientierung....

Die Tradition der Aufklärung gehört doch dazu. Und das ist doch auch eine Tradition. Die Frage ist vielmehr, soll ich mich von der Orientierung, die ich habe, distanzieren oder nicht. Insofern ist die Skepsis eine Orientierung, als sie auf die vorhandenen Üblichkeiten verweist. Ich definiere übrigens Skepsis als Sinn für Gewaltenteilung...

...damit werden aber die Üblichkeiten Gegenstand der Gewaltenteilung: Nicht zwei Überzeugungen, sondern zwei Üblichkeiten prallen so aufeinander, dass sie durch die skeptische Methode ihre Kraft verlieren, als Lebensorientierung zu dienen.

Wir leben in einer Welt, in der es Gewaltenteilung der Üblichkeiten gibt in der Form, dass es mehrere Üblichkeiten gibt. Die Skeptiker sind die einzigen, die wirklich damit rechnen, dass der andere Bedeutung hat. Er hat dies, weil er etwas anderes macht. Es ist eine Sache der Moderne, dass wir am selben Ort auf engem Raum verschiedene Üblichkeiten, verschiedene Traditionen haben. Wir leben davon, dass es die anderen Üblichkeiten gibt und nicht bloss unsere. Dadurch werden wir auch immer etwas von unseren eigenen distanziert. Und das muss man aushalten können.

Aber diese Üblichkeiten entsprechen doch nicht immer der von Ihnen genannten "mesotes".

Natürlich nicht, es gibt schreckliche Üblichkeiten. Aber wenn verschiedene Üblichkeiten in Ansatz kommen, ist doch immer in gewisser Hinsicht eine Balancierung da, und dadurch haben wir Freiheit. Wir sind souverän nicht dadurch, dass wir ein oberstes Prinzip haben, sondern dadurch, dass viele Determinanten auf uns einstürmen, aber jede der anderen dazwischenkommt. Dadurch bekommen wir eine gewisse Freiheit, einen gewissen Handlungsspielraum.

Nehmen wir einmal den Fall Eichmann. Da könnte man sich die Sache doch einfach machen und sagen: er hatte einfach eine andere Üblichkeit.

Er hat die Üblichkeit, seine Menschen nicht umzubringen, negiert und dann in einer Art Überkompensation dieser Zerstörung die technische Perfektion auf die Spitze getrieben. Eichmann und die Nazis: das ist vor allem die Zerstörung von Üblichkeiten.

Da stellt sich aber schon die Frage, ob die Skepsis als philosophische Position überhaupt fähig ist, für die Orientierung sehr wichtige Üblichkeiten zu verteidigen.

Der Skeptiker allein wird dies sicher nicht können. Ich bin vor allem skeptisch, ob man Üblichkeiten durch die Zerstörung von Üblichkeiten verteidigen kann. Üblichkeiten werden primär durch Üblichkeiten verteidigt. Außerdem gibt es auch noch die anderen Philosophen, und es ist sehr gut, dass etwa Apel seine Diskursethik macht. Wenn der dies nicht machen würde, müsste ich es auch noch machen. Spaß beiseite: Mit zu meiner skeptischen Position gehört, dass ich die anderen für wichtig halte.

Etwas anderes ist mir in dieser Hinsicht wichtig: Wir müssen uns auf die Veränderungsspanne einstellen, die durch unsere Lebenszeit gesetzt ist. Alles andere halte ich schlicht für unvernünftig, und es wird so laufen, dass alsbald die Enttäuschung folgt. Hinter dieser Aussage steckt auch ein Stück weit eigene Lebenserfahrung. Ich denke dabei auch an die Universitätsreform der siebziger Jahre. Wenn wir von Veränderung sprechen, denken wir immer an Verbesserung. Stimmt doch nicht. Und: wenn man etwas verbessern will, indem man es ändert, ist es sehr wichtig, dass man nicht alles gleichzeitig verändert.

Aber wir können doch Veränderungen über uns hinaus in die Wege leiten, die der nächsten Generation zugute kommen.

Oder die nächste Generation belasten. Falls sie gut sind, was ja nicht sicher ist, reduziert das meine Position etwas. Ich muss sagen, bitte berücksichtigt die Lebenszeit des Einzelnen.

Unterscheiden Sie nicht zwischen einer theoretisch-philosophischen Ebene und einer Ebene, wo die praktischen Probleme des Lebens gelöst werden?

Ich vermische die beiden Ebenen. Ich will keine "große" philosophische Ebene und eine des daraus folgenden praktischen Umgangs. Dann lieber umgekehrt: Was philosophisch zu sagen ist, folgt aus den Erfahrungen des praktischen Umgangs.

Aber der praktische Umgang ist doch gerade nicht so, dass man auf skeptische Weise die Möglichkeit hat...

...man kann nicht immer warten, sondern man muss bestimmte Dinge zu einer bestimmten Zeit tun. Auch darf der Philosoph nicht sagen, ich bin für das Allgemeine zuständig, also hat mich das Einzelne nicht zu interessieren. Das ist ein mir besonders suspekter Habitus.

Sie sind also so sehr Skeptiker, dass Sie nicht einmal die skeptische Haltung verabsolutieren.

Nein, auf keinen Fall. Skepsis ist keine Apologie der Ratlosigkeit. Man muss als Skeptiker auch Absagen erteilen können, z. Bsp., wenn ich dort Probleme sehe, an die Diskursethik. Aber was man kritisiert, muss man auch kennen. Habermas kritisieren, ohne Habermas zu kennen, ist witzlos.

Ihr Freiheitsbegriff ist gewissermaßen die Ersetzung des Ataraxie-Begriffes. Ataraxie entsteht ja, wenn widersprüchliche Meinungen stehen bleiben. Nun haben Sie einmal hinsichtlich der Geschichtsphilosophie gesagt: "Eine philosophische Formation ist irrational, wenn Sie etwas und zugleich ihr Gegenteil betreibt". Kann man das nicht auch auf die Freiheit und die Skepsis anwenden?

Diesen ruinösen Widerspruch gibt es in der Tat. Den Widerspruch als Neutralisierungseffekt widerstreitender Positionen, gewissermaßen als Distanzierungsmassnahme muss man davon unterscheiden, auch wenn dies im einzelnen sicher sehr schwierig ist. Zur Skepsis gehört auch, etwas durch sein Gegenteil sagen, also Ironie. Dass in diesem Zitat das Wort "irrational" vorkommt, liegt an den Veranstaltern jener Tagung der Görres-Gesellschaft, die mir dieses Thema gegeben haben. Wenn ich das Thema hätte selber formulieren dürfen, hätte ich weder von Rationalität noch von Irrationalität gesprochen, sondern vom ruinösen Widerspruch.

In Ihrer Dissertation sprechen Sie von "Gebrochenheit": eine Person ist dann gebrochen, wenn sie von allem, was sie tut, auch das Gegenteil tut.

Es gibt Zonen, wo man die Gebrochenheit positivieren kann. Dann ist es keine Belastung, sondern eher eine Befreiung.

Meine Philosophie hat immer den Charakter einer Wortmeldung in bestimmten Gesprächssituationen.. Begonnen hat das mit der Identitätsphilosophie, die sozusagen meine zweite Option war. Ich hatte in Münster angefangen, die Vorsokratiker zu lesen, einfach, weil das zeitlich die ersten sind. Da kam Ritter und fragte: "Was machen Sie da" und ich antworte: "Vorsokratiker". Als er fragte: "Warum fangen Sie damit an?", merkte ich, dass das vielleicht nicht ganz so das richtige war, und ich fragte mich: "Was machst Du jetzt?" Da kam ich auf Schelling und dachte: "Das ist es. Da steht alles drin!". Ritter hat mich dabei wieder erwischt und meinte, auch das sei vielleicht nicht ganz das Wahre.

Im Laufe der Zeit bekommt man natürlich den Eindruck, man sei etwas weiter als vor zehn oder zwanzig Jahren. Nach dem Ende des Berufsleben fängt man jedoch an zu fragen: "War es das nun?", und das ist eine Reflexionsform, die viel Ähnlichkeiten mit der vor dem Ergreifen des Berufes hat. Ich mache mir gegenwärtig, im Rückblick, Gedanken darüber, etwa "Bist du das geworden, was du einmal als Student werden wolltest?". Im Alter ist man am Ende, aber nicht am Ziel. Kann man rechtfertigen, dass man die Sache so und so betrieben hat? Bei mir liegt eine Rechtfertigung darin, dass ich meinen Studenten und ihren verschiedenartigen Interessen Starthilfen gegeben habe.

Was Sie Skepsis nennen, ist also eher der Versuch einer Beschreibung der Lebenswirklichkeit als Skepsis.

Warum nenne ich das ganze Skepsis? Es war mir nicht von vornherein klar, in welcher Tradition ich mich bewege, aber jetzt, wo ich mehr über philosophische Traditionen Bescheid weiß, sehe ich keinen Grund, mich von diesem Markenzeichen zu verabschieden. In der Tat steht dahinter eine Beschreibung der Wirklichkeit, aber geprägt auch von Selbstzweifeln, einer Distanz gegenüber sich selbst. Es ist der Versuch einer Darstellung der Wirklichkeit, wie sie ist, gespiegelt von einer bestimmten philosophischen Position. Aber wenn ich wirklich so weit käme, die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie ist, dann wäre es genau das, was meiner Ansicht nach Philosophie vernünftigerweise tun sollte.

Sie sagten, der skeptische Standpunkt sei ein vernünftiger. Aber diese Vernunft ist doch selber etwas historisch Gewachsenes.

Natürlich steht der Begriff der Vernunft in einer Tradition. Ich habe Vernunft so definiert: "Vernunft ist der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben." Vernunft ist für mich der Versuch, grenzüberschreitend Dinge zu sehen, die es auch noch gibt. Wenn das wirklich Vernunft ist, würde ich sagen, ein bisschen habe ich versucht, vernünftig zu sein. Vernünftig war für mich die Bürgerlichlichkeit - und damit meine ich, den Alltag in seine Rechte zu setzen - und nicht die großen Außerordentlichkeitsbedürfnisse zu befriedigen.

Foucault sagt, durch die Bürgerlichkeit seien die Repressalien nur viel raffinierter geworden. Zu ihnen gehört auch die Vernunft!

Foucault ist für mich ein Philosoph, den ich respektiere. Seine Ausgrenzungsanalysen sind hervorragend. Aber bei Überspitzungen bin ich weit davon entfernt zu sagen, das sei gut. Foucault hat aber vergessen, die Sachen zu positivieren. Die Ordnung des Diskurses ist grundsätzlich etwas, ohne das wir nicht leben können. Foucault fehlt ein Stück Hegel, das ich als Skeptiker gerne ins Spiel bringen würde. Ich vertrete eine andere Position als Foucault und bin überzeugt von einer gewissen Positivität des Institutionellen. Auch in religiösen Debatten bin ich jemand, der den institutionellen Bereich gerne verteidigt.

Als Skeptiker stehen Sie in einer Tradition, die stilistisch sehr pointiert hat. Steht auch bei Ihnen die Art, wie Sie schreiben, mit Ihrer skeptischen Position in einem engeren Zusammenhang?

Hans Robert Jauss hat einmal gesagt, man glaubt dem Odo seine skeptische Position nicht, er ist eher ein lachender Philosoph in der Tradition Demokrits. Ich musste das erst einmal zur Kenntnis nehmen, und ich bin ihm eine Antwort schuldig. Aber da er nicht mehr lebt, stehe ich auch nicht unter Zeitdruck.

Der Zusammenhang zwischen dem Stil und der Skepsis besteht für mich zuerst einmal darin, dass man bei der Formulierung einen erheblichen Aufwand betreiben muss, wenn man sich selber glauben will, dass man eine Position vertritt. Zum anderen: Wenn ich Skeptiker bin, dann kann ich nicht von vornherein sagen, ich habe die Wahrheit, und die anderen sollen dankbar sein, dass ich sie an ihr teilhaben lasse. Damit taucht aber die Frage auf: Was mache ich eigentlich, wenn ich andere mit meinem Schreiben belästige? Wenn denn schon jemand die Bücher oder die Texte nicht bloß kauft, sondern auch liest, dann muss man als Autor auch Busse tun und das Lesen muss Vergnügen machen. Und das funktioniert nur, wenn es mir selber Vergnügen macht. Und wenn ich schreibe, bastle ich, ich schreibe x-mal um, und wenn ich den Text aus der Hand gebe, ist es mindestens die zwanzigste Fassung. Bis ein Satz in Ordnung ist, dauert und dauert das bei mir. Trotz dieser Quälerei, die dahinter steckt, habe ich trotzdem Spaß, bestimmte Formulierungen zu verfolgen. Und wenn andere auch Vergnügen daran haben, bin ich dafür dankbar.

 

Autoren

Mit Odo Marquard sprachen A. Bertschinger, D. Vogt, S. Hochstrasser, T. Sugimoto und M. Wild (alle Universität Basel).

Dieses Gespräch ist das Ergebnis der Tätigkeit der Arbeitsgruppe "Philosophisches Interview" (Leitung: Urs Thurnherr) an der Universität Basel. Diese Arbeitsgemeinschaft hat den Status eines Kolloquiums und ist im Sinne eines hochschuldidaktischen Versuchs gegründet worden.