Essay

Deutschlands erste promovierte Philosophin: Helene Stöcker

Von Annegret Stopczyk

Am 13.November 1999 wird die erste promovierte Philosophin Deutschlands 130 Jahre alt. Wegen eines Vortrages über "Nietzsche und die Frauen", den sie im Seminar von Wilhelm Diltey 1897 an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (jetzt Humboldt-Universität) hielt, forderte sie Diltey dazu auf, ihm als Privatassistentin beim Sortieren des Schleiermachernachlasses behilflich zu sein. Damit durchbrach Diltey die frauenfeindliche Phalanx an der Berliner Universität, und verhalf einer philosophisch hochbegabten Frau zur Nähe der von ihr begehrten akademischen Philosophiestudien.

In Berlin durften Frauen erst ab 1908 offiziell studieren, aber seit 1895 gab es für besonders hartnäckige Antragsschreiberinnen die Möglichkeit, Gasthörerinen bei Professoren zu sein, die die Anwesenheit von Damen in ihrem Hörsaal erlaubten. Es war eine Minderheit. Das Berliner Bildungsministerium hat schließlich das Frauenstudium gegen die Mehrheit der Professoren durchgesetzt.

Helene Stöcker durfte auch aktiv, und nicht nur als Zuhörerin, bei Georg Simmel studieren. Auf Empfehlung des Literaturhistorikers Erich Schmidt promovierte sie schließlich 1901 in Bern bei seinem Schüler Oskar Walzel zum Thema: Zur Kunstanschauung des XVIII.Jahrhunderts. Von Winckelmann bis Wackenroder.

Da es institutionsorganisatorisch weder in Deutschland noch in der Schweiz eine Möglichkeit für sie gab, bei einem Philosophieprofessor zu promovieren, ließ sie sich auf ein kulturästhetisches Thema ein, das ihr vorgegeben wurde.

Von 1901 bis 1905 war sie Dozentin an der neu gegründeten privaten Lessing-Hochschule in Berlin, wo auch Lise Meithner und Albert Einstein lehrten. Sie führte in die Philosophie von Nietzsche ein und trug ihre Studien zur Moral in der Frühromantik vor. Dabei berücksichtigte sie besonders auch die Frauen der Romantik. Diese Manuskripte sind kriegsbedingt verloren gegangen.

Helene Stöcker unterstützte Elisabeth Förster-Nietzsche beim Aufbau eines Nietzsche-Archivs und bei der Suche nach Professoren, die bereit wären, Nietzsches Arbeit an den Universitäten einzuführen. In Ihrer nicht veröffentlichten Autobiographie beklagt sie die Ignoranz der akademischen Philosophen um die Jahrhundertwende und das Leid, das die unstudierte Schwester des Nietzsche zu ertragen hatte, weil sie fachlich kaum in der Lage war, das Material zu sortieren und heraus zu geben. Noch in einem ihrer letzten Aufsätze versucht Helene Stöcker 1938 den Rezeptionsstreit um das Nietzschewerk zu befrieden.

Da es Helene Stöcker aus patriarchalen historischen Gründen nicht möglich war, ein ruhiges forschenden Dasein als Philosophieprofessorin zu leben, kämpfte sie Zeit ihres Lebens politisch und als Autorin für die Freiheit der Wahl in einem Frauenleben. Die Frau sollte idealerweise Mutter, Geliebte und Gelehrte gleichzeitig sein können. Sie verwahrte sich gegen jegliche Einschränkung auf ein bestimmtes Frauenleben. Damit setzte sie sich zwischen alle Stühle. Die bürgerliche Frauenbewegung beschimpfte sie als unsittliche Philosophin der freien Liebe.

Helene Stöcker gründete 1905 mit anderen Sexualreformerinnen und -reformern den "Bund für Mutterschutz" und gab bis 1933 ihre Zeitschrift "Die neue Generation" heraus. In dieser Zeitschrift wurden alle gesellschaftlich relevanten Themen philosophisch, ökonmisch,literarisch oder psychologisch erörtert. Siegmund Freud schrieb darin, Bertha von Suttner, Ludwig Quidde, Rosa Mayreder, Kurt Tucholsky, Alexandra Kollontai, Gerhard Hauptmann, Ricarda Huch, Hedwig Dohm, Lily Braun, Kurt Breysing, Lou Andreas-Salomè, Alexander Forel, Karen Horney, Käte Schirmacher und viele andere Autorinnen und Autoren, die sich um Reformen bemühten.

Helene Stöcker begründete die "Neue Ethik", die zum theoretischen Hintergrund der sexuellen Reformbewegung gehörte. Diese Konzeption einer Ethik muß aus ihren etwa 270 Veröffentlichungen, meistens Aufsätze, rekonstruiert werden. Ihr philosophischer Roman mit dem Titel "Liebe" erschien ab 1924 in mehreren hohen Auflagen.

Obwohl sie als Gründerin der radikalen Frauenbewegung gilt, arbeitete sie im Unterschied zur herrschenden Frauenbewegung in ihrem Bund mit Männern zusammen. Sie wehrte jede Geschlechtertrennung ab.

Die "Neue Ethik" von Helene Stöcker läßt sich in zwei Hauptstränge einteilen. Bis zum ersten Weltkrieg ging es um eine Umwandlung der Geschlechterliebe, die sich löst von der Lebensfeindlichkeit der christlichen Kirchenlehren. Hierbei versteht Stöcker unter "Liebe" nicht lediglich "freie Sexualität", wie damals fälschlich rezipiert wurde, sondern eine "seelisch-geistige" Verbindungsentwicklung, die zwei Persönlichkeiten eingehen können. Um aber "Persönlichkeit" zu sein, ist Selbsterziehung nach bestimmten philosophischen Idealen notwendig, die sie aus den Schriften von Nietzsche entlehnt und aus der Frühromantik ableitet. Dabei schwebte sie durchaus nicht in verklärenden Höhen, sondern bewirkt auch politisch durch ihren Bund Gesetzesänderungen zugunsten eines selbstbestimmteren Frauenlebens, besonders auch der alleinstehenden Mutter. Ihre Gedanken waren maßgeblich für die Sexualreformen nach der russischen Revolution. Alexandra Kollontai, die neben Lenin die Revolution anführte, brachte die "Neue Moral" ein, nach der auch alleinstehende Mütter durch staatliche Versicherungen geschützt wären.

Helene Stöcker heiratete aus Prinzip nicht, lebte aber in Lebensgemeinschaft mit einem Rechtsanwalt, der sich für ihre "Neue Ethik" einsetzte. Sie bedauerte bis an ihr Lebensende, daß sie kein Kind geboren hatte.

Mit dem ersten Weltkrieg zerbrach die "alte heile Welt", wie sie in ihrer Autobiographie schreibt. Nun erweiterte sie ihre "Neue Ethik" um die Dimension des Friedens und des Rechtes auf Leben für alle Menschen. Es ging nicht mehr um Mutterschutz und Sexualreform allein, sondern um Lebensschutz und Friedenssicherung. Sie galt als radikale Pazifistin ohne weltanschauliche Bindung. Gewählt in alle maßgeblichen internationalen Vorstände der Friedensbewegung versuchte sie, die Ideen der Selbstbestimmung für alle Menschen einzubringen und Ursachen für die "mörderische Kriegslust" zu finden.

1933, nach dem Reichtagsbrand, mußte sie Berlin fluchtartig verlassen, denn sie stand auf der Todesliste der Nazis.

Aus einer Akte der geheimen Staatspolizei von 1937 geht hervor, daß ihr die Reichszugehörigkeit und die Doktorwürde aberkannt wurden. Sie beschlagnahmten ihr Kontoguthaben sorgten für die Vernichtung ihrer Manuskriptkisten.

Als Helene Stöcker mit 74 Jahren krank und elendig verarmt in New York bei Friedensfreunden 1943 verstarb, begleitete niemand von den vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern Europas sie zu ihrem Grab. Auch diese waren oft schon erschossen, auf der Flucht oder versteckten sich vor den Nazideutschen.

In der akdemischen Philosophie gibt es bisher keine einzige Arbeit über Helene Stöcker. Es gibt zwei historische Dissertationen über sie, mit dem Schwerpunkt, sie als Friedenskämpferin und Gründerin der radikalen Frauenbewegung darzustellen. Ihr philosophischer Hintergrund bleibt dabei nur nebenher bemerkt.

Zur gegenwärtigen Situation der Philosophinnen in Deutschland.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern und den USA gibt es in Deutschland an den Universitäten fast keine Frauen auf Philosophielehrstühlen. Nicht ganz 2% Frauen lehren professoral Philosophie in Deutschland. In den USA sollen es um die 40% sein und in Frankreich 10%. Eine genaue Zählung ist aber für Philosophie in Deutschland noch nicht durchgeführt worden, es könnten auch noch weniger Punkte sein.

Ich gehe davon aus, daß seit 1933 das intellektuelle Leben in Deutschland betäubt ist. Das radikale Verschwinden und Vergessen einer Philosophin wie Helene Stöcker, die zu Lebzeiten zur internationalen Prominenz gehörte, erschüttert mich zutiefst. Philosophinnen scheinen nur dann dem patriarchalen Gedächtnis zu verbleiben, wenn sie mit einem berühmten Mann in einem Atemzug genannt werden können. Seien es Aspasia und Sokrates, Simone de Beauvoir und Sartre, Hannah Arendt und Jaspers/Heidegger, Luce Irigaray und Lacan.

In Berlin wird unter der Schirmherrschaft der Bundesministerin Bergmann eine Wanderausstellung "Philosophinnen" vorbereitet. Fachlich beraten wird dieses Vorhaben von den Philosophinnen Annegret Stopczyk und Marit Rullmann.

Kulturtip: Wer sich über den Zustand von "Geist und Materie" im Deutschland der letzten 100 Jahre ein Bild verschaffen möchte, sollte sich die Ausstellung "Geist und Materie", das XX.Jahrhundert - ein Jahrhundert Kunst in Deutschland in der neuen Nationalgalerie Berlin anschauen. 68 Männer werden hier großräumig ausgestellt und vier Malerinnen erhalten ein kleines Plätzchen dabei. Patriarchale Klischees von "Geist und Materie" als Metapher für "Mann und Frau" überquellen in etlichen Bildern ohne jegliche kritische Distanz die Rahmen. 1972 malt Gerhard Richter 48 Portraits für den "Kosmos des Geistes" unseres letzten Jahrhunderts. Eine riesige Wand voller Männerköpfe. Nicht eine einzige Frau dabei. Ein BesucherInnenbuch für Gästekommentierung lag wohlweislich nicht aus. Philosophinnen in Deutschland - es gibt sie.

 

Literaturtip:

Marit Rullmann: Philosophinnen, Von der Antike bis zur Moderne, 2 Bände, Suhrkamp 1998