Rechtskultur

Der Terminus "Rechtskultur" taucht zur Zeit in verschiedenen Kontexten auf, die sich von der rechtswissenschaftlichen Literatur über politikwissenschaftliche und politische Diskurse bis in die Feuilletons der anspruchsvolleren Presse erstrecken. Er ist einer der Komposita, die das Wort "Kultur" enthalten, auf die derzeit vielfach zurückgegriffen wird. Diese Tatsache erklärt sich nicht zuletzt durch die Konjunktur, die der Kulturbegriff seit seiner ersten Hochblüte vor etwa hundert Jahren gegenwärtig zum zweiten Mal erlebt. Die maßgeblich vom südwestdeutschen Neukantianismus geprägte Kulturphilosophie der letzten Jahrhundertwende war eine Innovation im Kanon der philosophischen Disziplinen. Damals ging es um eine geltungstheoretische Fundierung der Kulturwissenschaft und damit um deren methodologische Profilierung gegenüber der Naturwissenschaft. Neben die Natur trat die Kultur als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis.

Heute ist die Konjunktur des Kulturbegriffs eher Ausdruck einer weitreichenden Zurücknahme neuzeitlicher (Letzt-)Begründungsansprüche und daran häufig gebundener Hierarchisierungen von epistemischen, normativen und evaluativen Standards insgesamt. Dies gilt auch – was die Zuständigkeit der praktischen Philosophie angeht – für die Bewertung von Moralen und Rechtsordnungen. Politik- und theoriegeschichtliche Entwicklungen der jüngsten Geschichte veranlassen heute viele, sich von der Vorstellung zu verabschieden, alle Normsysteme müssten sich an denselben, vermeintlich allgemeingültigen Prinzipien messen lassen. Solche Wertungen von Normsystemen als besseren versus schlechteren, richtigen versus unzulänglichen stehen unter dem Verdacht, unvermeidlich bloße, unzulässige Projektionen der Grundsätze des jeweils eigenen Normsystems auf andere Normsysteme (die auf anderen Grundsätzen beruhen) und als solche schlecht begründet und ungerechtigfertigt zu sein. An die Stelle der Hierarchie von richtigen und unzulänglichen Moralen oder Rechtsordnungen tritt die – zunächst wertungsindifferente – Differenz von Normkulturen und damit die grundsätzliche Anerkennung des interkulturellen Pluralismus als eines Faktums. Diese Anerkennung geht einher mit der immer wieder erinnerungsbedürftigen Einsicht, dass Normsysteme keine Produkte homogener Kulturen sind, sondern auch intern, intrakulturell pluralistisch verfaßt sind. Die Rede von "Normkulturen" akzentuiert diesen Umstand des doppelten, inter- und intrakulturellen Pluralismus.

Konjunkturen sind häufig nicht bloße Modeerscheinungen, sondern sagen etwas über Theorielagen und Erklärungsdesiderate aus. Dies ist der Fall beim Begriff der Rechtskultur. Obwohl er inzwischen verschiedentlich verwendet wird und in der Rechtssoziologie auch terminologisch eingeführt ist (siehe unten), fehlt es an einer philosophischen Begriffserörterung. Im folgenden sollen dafür einige Ansatzpunkte genannt und die bislang noch nicht eruierte systematische Relevanz des Begriffs der Rechtskultur für die gegenwärtige Rechtsphilosophie soll zumindest skizzenhaft ersichtlich werden.

(1) Warum macht es generell Sinn, den Rechtsbegriff mit dem Kulturbegriff in Verbindung zu bringen? Zunächst ist es nahezu trivial festzustellen, dass Recht immer Teil, "Sphäre", einer Kultur ist. Aber eine genauere Betrachtung dieses allgemeinen Sachverhalts ergibt einigen weiteren Aufschluss. Recht bildet und entwickelt sich im Kontext einer "Normkultur". Es ist ein Produkt des Umgangs einer mit normativen Fragen. Als Teilgebiet einer Normkultur steht das Recht in einem Wechselverhältnis mit anderen Teilgebieten dieser Kultur: Moral, Politik, Religion, Geschichtsbewusstsein etc. Eine Rechtsordnung ist daher kein isolierter Normkorpus. Recht ist kulturgeprägt, aber auch seinerseits kulturprägend. Mit der Gestaltung und Fortbildung von Recht wird diese Normkultur (und mit ihr die Kultur als ganze) weiterentwickelt, in ihrem Charakter fortgestaltet oder verändert. Eine Rechtskultur umfasst nicht nur Normen (sanktio-nierte Norminhalte) und Prinzipien, sondern auch Merkmale und Anforderungen, die nicht als solche Bestandteil einer positiven Rechtsordnung oder des Naturrechts sind. Wesentlich sind auch bestimmte Praktiken, wie die der öffentlichen Meinungsbildung, der öffentlichen Austragung von Normkollisionen und Normwandeldiskursen, öffentlich zugängliche Debatten im Parlament und in höchsten Gerichten. Eine Rechtskultur verweist auf die allgemeine politische Kultur einer Gesellschaft (R. Dworkin, J. Habermas, C. Varga) und bietet ihrerseits den normativen Rahmen für die Entwicklung der "Kultur eines politischen Gemeinwesens" (P. Häberle). Nur wenn eine Rechtsgemeinschaft ihre Rechtsordnung als ein "Rahmen-werk für den Ausdruck ihrer eigenen Kultur" auffassen kann (M. Walzer), wird sie sie als legitime Repräsentation ihres Willens verstehen und ihr aufgrund eines entsprechenden Rechtsbewusstseins soziale Wirksamkeit verschaffen. Recht ist zu verstehen aus einem integrativen Gesamtzusammenhang menschlicher Praxis und der Dynamik ihrer Normengenerierung. Von daher kann Recht als eine Selbstinterpretation der Kultur, in der es steht, verstanden werden.

(2) An diesem Zusammenhang des Rechts mit der Kultur, aus und in der es sich formiert, setzt die "spezielle Rechtssoziologie" an. Der Begriff der Rechtskultur als Gegenstand der speziellen Rechtssoziologie ist ein empirischer Begriff. Er bezeichnet dort den "Inbegriff der in einer Gesellschaft bestehenden, auf das Recht bezogenen Wertvorstellungen, Normen, Institutionen, Verfahrensregeln und Verhaltensweisen" (Th. Raiser). Rechtsordnungen werden hinsichtlich signifikanter Merkmale konkreter Gesellschaften insoweit beschrieben, wie diese Merkmale sich in der juridischen Praxis dieser Gesellschaft und deren Geschichte sowie in den "kollektiven ‚kulturellen‘ Einstellungen zu Recht und Staat, Gericht und Polizei" manifestieren (M. Stolleis). Als vergleichende Rechtskulturforschung kann sie die Merkmale einer nationalen Rechtskultur hinsichtlich ihrer konkreten Unterschiede zu anderen nationalen Rechtskulturen untersuchen, wie sie auch deren gemeinsame historische Wurzeln und Vermittlungspotentiale zugunsten nationenübergreifender rechtlicher Homogenisierung offenzulegen vermag, die in die Integration nationenübergreifender Rechtskulturen münden können. Dies geschieht zur Zeit in verstärktem Maße im Hinblick auf eine "Europäische Rechtskultur". Aber auch für eine weltweite Rechtsfortbildung im Völkerrecht und die weitere Entwicklung einer globalen Menschenrechtspolitik ist eine vergleichende Rechtskulturforschung, die die verschiedenen Rechtskulturen sowohl auf ihrem gegenwärtigen Stand als auch mit Bezug auf ihre jeweilige Tradition untersucht, unverzichtbar.

(3) An diese Vorüberlegungen lassen sich einige rechtsphilosophisch aufschlussreiche Hypothesen anschließen. Durch die konsequente Deutung des Rechts im Lichte seiner Kulturalität wird erkennbar, dass das Recht wesentlich ist für das Reflexivwerden einer Kultur. Im Recht erkennt eine Kultur ihre normativen Standards nicht nur hinsichtlich bestimmter Norminhalte (der in ihr dominierenden Konzeption des Guten), sondern auch und vor allem hinsichtlich der in ihr anerkannten Verfahren der Setzung sowie der Maßstäbe ihrer Kritik von Normen. In ihrer Rechtskultur artikuliert eine Kultur ihre Selbstreflexivität, und dies sowohl als Selbstdeutung wie auch als Selbstkritik; es entsteht ein reflexives System der Legitimierung von Verbindlichkeitsansprüchen.

Die Fakten, die die Rechtssoziologie als "Erscheinungsformen des Rechts" unter der Bezeichnung "Rechtskultur" zunächst nur deskriptiv erhebt, sind normativ relevante soziale Fakten. Sie geben Aufschluss darüber, wie eine Kultur hinsichtlich ihrer normativen Standards verfasst ist. In einer philosophischen Theorie der Rechtskultur werden sie als Konstituentien einer Normkultur verstanden, anhand derer sich die in dieser Kultur geltenden allgemeinen und grundlegenden normativen Rahmenbedingungen für die Setzung und Sicherung von sozialen Handlungsregeln eruieren lassen.

Die normative Relevanz dieser Fakten erschöpft sich nicht darin, dass sie von den Teilnehmern dieser Kultur selbst intern als verbindlich anerkannt werden. Als Konstituentien einer Normkultur (und nicht schon als bloße Fakten) besitzen sie auch nach außen, gegenüber Teilnehmern anderer Kulturen, eine Dignität. Eine Rechtskultur als ganze beansprucht, auch aus externen Perspektiven differenter Normkulturen als für ihre Teilnehmer verbindlich geachtet zu werden und nicht jedweder externen Kritik unvermittelt zur Disposition zu stehen. Eine Rechtskultur hat aus mindestens zwei Gründen Anspruch auf Integrität. Ihre Teilnehmer (oder: Akteure) sind Moral- und Rechtsbildner und anerkennen sich als solche wechselseitig (M. Walzer); da eben dies den Akteuren aller Rechtskulturen gemeinsam ist, schulden sie sich auch interkulturell die wechselseitige Anerkennung als Moral- und Rechtsbildner. Und: als Produkt einer Kulturtradition ist sie "historisch geronnene praktische Vernunft"; dies gilt nicht von jeder Momentaufnahme einer Kultur, aber es gilt von dem, was als ihre Tradition zu identifizieren ist.

Ein solches philosophisches Verständnis von Rechtskulturen lässt sich demnach durch zwei allgemeine theoretische Eigenschaften charakterisieren. Einmal durch einen methodischen Internalismus. Maßstab für Begründung und Kritik von Recht ist kein neutraler, überkultureller und überhistorischer Standpunkt. Es ist grundsätzlich fraglich, ob es einen Standpunkt außerhalb einer betreffenden Kultur, von dem aus etwas für diese Kultur Relevantes formulierbar wäre, überhaupt geben kann. Für den methodischen Internalismus sind die Maßstäbe der Kritik an Normen und Verfahren (hier insbesondere der Rechtskritik) innerhalb der kritisierten Kultur selbst zu identifizieren, sie müssen aus allgemeinen Rechtfertigungsstandards der betroffenen Rechtskultur selbst hergeleitet werden können. Um den Rechtfertigungszusammenhang als ganzen geht es, aus dem sich – auf basale Institutionen des modernen Rechtsstaats bezogen – Gesetzgeber, vollziehende Gewalt und Verwaltung vor den Normadressaten zu legitimieren haben, deren Willen als Normautoren (Moral- und Rechtsbildner) sie repräsentieren. Nur hier, in einer angemessenen philosophischen Interpretation dieses für eine Rechtskultur relevanten Zusammenhangs von Rechtfertigungsstandards, kann eine Lösung der immer wieder aporetisch anmutenden Kontroverse zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus liegen.

Ein zweites Charakteristikum der unter dem Stichwort "Rechtskultur" anvisierten philosophischen Theorie ist der normative Pluralismus. Er versteht Kulturen im allgemeinen und Rechtskulturen im besonderen als normativ differenzierte soziale Gemeinschaften, die bereits intern pluralistisch, nicht homogen, verfasst sind und als solche die Anerkennung vernünftiger Meinungsverschiedenheiten vorsehen. Dem korreliert die Anerkennung des externen Pluralismus differierender Normkulturen. Teilnehmer einer Kul-tur verstehen sich als solche, wenn sie sich wechselseitig als Moral- und Rechtsbildner anerkennen und wenn sie zugleich Teilnehmer anderer Kulturen als eben solche anerkennen. Die strukturelle Universalisierung der Anerkennung von Moral- und Rechtsbildnern ist wesentliches Moment einer als Rechtskultur reflexiv gewordenen Kultur. Eine Kultur, die sich als Kultur versteht, versteht sich als eine Kultur unter anderen Kulturen. Aus dem normativen Pluralismus folgt gerade nicht, dass es unmöglich wäre, differente Rechtskulturen in Verständigungsprozesse und in Rechtsbeziehungen eintreten zu lassen.

Der im Begriff der Rechtskultur gedachte intrinsische Zusammenhang von internem und externem normativem Pluralismus ist die Voraussetzung für einen interkulturellen Rechtsdiskurs. Im Sinne des methodischen Internalismus gilt auch hier wieder: die Maßstäbe, auf die sich die Teilnehmer eines solchen Diskurses nur beziehen können, müssen in ihm entwickelt werden, müssen Resultate eines sich real vollziehenden Prozesses der Verständigung zwischen den Rechtskulturen sein. Nur als solche können sie die Funktion von Grundsätzen der Rechtfertigung von Geltungsansprüchen erfüllen, die in einer die interkulturelle Rechtsfortbildung begünstigenden Verständigung über die Vereinbarkeit der betroffenen Rechtskulturen von allen für verbindlich angesehen wird.

Literatur zum Thema:

Häberle, Peter, Europäische Rechtskultur, 410 S., kt., st 2662, 1997, Suhrkamp, Frankfurt/M.

Mock, E./Varga, C. (Hg.), Rechtskultur - Denkkultur, 175 S., kt., DM 72--, 1989, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 35, Steiner, Stuttgart.

Mohr, Georg, "Die Idee der Integrität einer Rechtskultur", in: Geschichtsphilosophie und Ethik, hg. v. Domenico Losurdo, Frankfurt/M: Lang, 1998, S. 411-425

Mohr, Georg, "Zum Begriff der Rechtskultur", in: Dialektik 1998/3, S. 9-29

Mohr, Georg, "Menschenrechte, demokratische Rechtskultur und Pluralismus", in: Plümacher, Martina u. a. (Hg.), Herausforderung Pluralismus (Festschrift H. J. Sandkühler), 2000. Lang, Frankfurt/M.

Raiser, Thomas, Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland. 416 S., kt., DM 49.--, 3. Auflage 1999, Nomos, Baden-Baden.

Autor

Georg Mohr ist Professor für Philosophie an der Universität Bremen.