Ernst Cassirer in Hamburg

Gut einen Monat nach der offiziellen Gründung der Hamburgischen Universität ernennt am 18. Juni 1919 der Senat der Stadt den Philosophen Ernst Cassirer zum ordentlichen Professor. Nach 13 produktiven Jahren als Privatdozent in Berlin, nach ertragreichen Studien zur Erkenntnistheorie, zur Wissenschaftstheorie und zur Ideengeschichte, ist mit dem Wechsel nach Hamburg der Aufbruch in sein selbständiges Philosophieren markiert, das ganz im Zeichen der Frage nach der Kultur als der funktionalen Wesensbestimmung des Menschen steht: In dem Jahrzehnt von 1920 bis 1930 entwickelt Cassirer - von Anfang an bei exzessiver Nutzung der beispiellosen Kulturhistorischen Bibliothek Warburg und in intensivem Austausch mit ihrem Gründer Aby Warburg - seine Philosophie der symbolischen Formen, die sich als eine bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen versteht.

Nach Cassirers tragender Einsicht ist die Kultur die ganze Wirklichkeit des Menschen. Denn der Mensch ist das Wesen, für das alles - von der einfachen Wahrnehmung bis zu den höchstentwickelten Werken mit - in letzter Instanz selbsterzeugtem - Sinn verbunden ist: Der Mensch ist das animal symbolicum, das symbolerzeugende Wesen. "Kultur" meint aber nichts anderes als den Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch Symbolisierung.

An diesem Programm fallen zwei bemerkenswerte Eigenheiten auf: Cassirer vertritt einen aufs Grundsätzliche und aufs Ganze gehenden, weiten Begriff von der Kultur. Die Beschränkung des Kulturbegriffs auf das, was in den Konzertsälen, in den Museen und Galerien, auf den Bühnen, in den Hochschulen, zwischen Buchdeckeln und in den Feuilletons stattfindet, mit anderen Worten: die Beschränkung auf die Spitzenprodukte der Hochkultur, findet in dieser Theorie keinen Rückhalt - sie könnte allenfalls als methodische Konzentration auf exemplarische Fälle von Kultur gerechtfertigt werden. Diese Weite des Kulturbegriffs, die alles umfasst, was der Mensch im Laufe seiner Geschichte aus den vorgefundenen Verhältnissen und aus sich selbst macht, hat ihre methodische Grundlage in der Weite des Symbolbegriffs. Cassirer begreift Symbolisierung generell als Ort (und Akt) der Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem, einer Vermittlung, die sich in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien ab-spielen kann - in artikuliertem Laut, in Bildern, in materiellen Dingen, in Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in Handlungen aller Art, in Institutionen, in Formeln. Ein Symbol liegt demnach in jeder Art der Verkörperung von Sinn, und die symbolische Selbsttätigkeit des Menschen hält sich durch von der elementaren Wahrnehmung bis zu den höchstentwickelten Werken. Dieses elementare Verständnis unterscheidet sich zunächst deutlich von jedem spezifischen, z.B. kunsthistorischen oder literaturwissenschaftlichen Ansatz und soll sich gerade dadurch - wie Cassirer sagt, als "systematisches Zentrum" - interdisziplinär für jedes spezifische Verständnis als anschlussfähig erweisen.

Es ist dieser Symbolbegriff, auf den Cassirer seine Theorie der Kultur gründet. Nach der Philosophie der symbolischen Formen, die in drei Bänden 1923, 1925 und 1929 erscheint, können wir nur insofern begreifen, was der Mensch ist, als wir an seinem Wirken nachvollziehen, was er tut. Und was der Mensch tut, läßt sich in allem als Symboltätigkeit begreifen, als Gestaltung und Verstehen von Bedeutung.

Mit diesem grundsätzlichen und ganz allgemeinen Programm wäre jedoch wenig gewonnen zum Verständnis der Komplexität und Differenzierung, in der uns die Kultur immer schon vorliegt, wenn ihm nicht von Anfang an auch ein Konzept der ganzen Vielfalt kultureller Formen beigegeben wäre. Eine Vorentscheidung für den angemessenen Umgang mit dieser Vielfalt ist bereits mit dem funktionstheoretischem Zugang getroffen: Das Wesen des Menschen, nach dem hier gefragt ist, hat nichts Ominöses, es ist nichts Statisches, keine geheime Substanz - nach Cassirers Einsicht ist das Wesen des Menschen vielmehr rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als das, was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt. Dieses Wesen ist somit andauernd in Aktion - und damit im Wandel begriffen. Insofern ist von vornherein klar, dass das anthropologische Erkenntnisinteresse der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Menschen nicht im Wege stehen kann - eine Vereinigung der Gesichtspunkte, die in der Philosophie der symbolischen Formen auch durch Cassirers unermüdliche historische Darstellung seiner systematischen Erkenntnisse dokumentiert ist.

Die Vielfalt der Kultur zu begreifen, ist aber nicht bloß im Blick auf die Geschichte, sondern auch im Blick auf jede Aktualität der Anspruch, den sich Cassirer gestellt hat. Ihm geht es dabei ebenso sehr darum, dass sich die Tätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen läßt, sondern sich in einer Pluralität von Hervorbringungen auslegt - wie um die Einsicht, dass diese Pluralität nicht in einer chaotischen und beliebigen Unendlichkeit, sondern in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang besteht. Eine der Pointen seiner Theorie, die Cassirer als Zeitgenossen unserer heutigen Fragen qualifiziert, liegt darin, dass er im Grunde schon das Problem der Kulturen begreiflich macht, indem er diejenige Pluralität zu ermessen sucht, die im Kollektivsingular Kultur immer schon wirksam ist - und ohne dass er sich dabei von der Frage nach der Einheit in dieser Vielheit abbringen läßt.

Die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet gleichsam institutionalisieren, nennt Cassirer "symbolische Formen". Diese terminologische Prägung, die sich von unserem alltäglichen Sprachgebrauch auffällig abhebt, verdient eine besondere Hervorhebung: Als symbolische Form wird nicht der einzelne Bedeutungsträger bezeichnet, also etwa das Kreuz, das Herz, der Anker oder der Stern an der Halskette. Symbolische Formen sind die geistigen Energien, durch die es zur Symbolisierung kommt; Cassirer spricht auch von "Energien des Bildens" und meint damit regelmäßige, typische Weisen des Verstehens und Erzeugens von Bedeutung. Er nennt als Beispiele symbolischer Formen meistens die mythisch-religiöse Welt, die Sprache, die Kunst und die Wissenschaft und erläutert, dass sich in ihnen allen "das Grundphänomen" ausprägt, "dass unser Be-wusstsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, son-

dern dass es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt." Wenn man aufmerksam liest, so wird man schon hier, an einer der frühesten Stellen, an denen Cassirer seinen grundlegenden Terminus erläutert, das praktische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur erkennen: Die symbolische Leistung ist auf die Freiheit, und zwar auf die Freiheit des tätigen Geistes bezogen: Cassirer spricht vom "Tun des Geistes", von der "freien Tätigkeit" des Bewusstseins und vom

"Grundprinzip freien Bildens"' - lauter Einschärfungen seines Grundsatzes, dass das Verhältnis des Bewusstseins zum Äußeren in einer im weitesten Sinne gestaltenden Leistung besteht, dass das, was wir unsere Wirklichkeit nennen, sich bereits dieser Leistung verdankt und: dass dies immer schon eine Form der Freiheit ist. Darin ist auch die letzte Antwort auf die Frage zu sehen, mit der Cassirer in seinem ganzen Werk ringt - auf die Frage des systematischen Zusammenhangs, also: der Einheit von Kultur, die nach seiner Einsicht nicht in einem fixierbaren Inhalt, sondern in einer gemeinsamen Funktion zu suchen ist. Und Cassirer spricht immer wieder aus, was sich bereits in der Rückführung aller Kultur auf das freie Bilden des Geistes ankündigt: Die gemeinsame Funktion aller symbolischen Formen ist in der Befreiung zu sehen.

Genauer sind diese als Formen der Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulierten Ausdruck zu verstehen. Jede kulturelle Form verdankt sich, so Cassirer, einer "ursprünglichen Tat des Geistes": In allen äußert sich "die Freiheit des geistigen Tuns". Mit anderen Worten: Alle Kultur ist Form der Freiheit. Kultur ist "der Prozess der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen".

Untersuchen wir diese Bestimmung genauer, so finden wir darin das Kantische Erbe Cassirers. Kant spricht von Freiheit als Spontaneität und meint damit die unvorhersehbare Fähigkeit, etwas aus eigenem Antrieb, von sich aus, zu tun, und er spricht von Freiheit als Autonomie und meint damit die Selbstbestimmung, durch die wir uns in der Durchführung dieses ursprünglichen Impulses nur an solche Gesetze halten, die wir uns selbst geben und voreinander rechtfertigen können. Beide Elemente, Spontaneität und Autonomie, meint auch Cassirers Begriff der Freiheit, durch den die gesamte Kultur nicht allein als selbsttätige menschliche Hervorbringung, sondern zugleich als das Projekt der menschlichen Selbstbestimmung begriffen ist. Dass der Begriff der Kultur dadurch zwischen poiesis und praxis, zwischen einer ästhetisch-technischen und einer ethischen Grundlegung schillert, macht aber nicht schlechtweg eine begriffliche Schwierigkeit im Umgang mit seinem Werk aus, sondern birgt auch ein sachhaltiges Faszinosum: Hier verschränken sich zwei Elemente des humanen Selbstverständnisses, die wahrscheinlich ohnehin nur analytisch auseinanderzuhalten sind.

Es ist dieser Begriff von Kultur, und es ist vor allem die mit ihr verbundene Humanität, die Ernst Cassirer in der berühmten Davoser Disputation mit Martin Heidegger vor nunmehr fast 71 Jahren zu verteidigen suchte. In diesem philosophischen Streitgespräch, das die beiden Dozenten zum Abschluss eines vom 16. März bis zum 6. April 1929 gemeinsam geleiteten Ferienkurses für ein mit studentischen Schlachtenbummlern gut durchmischtes sportliches Bildungspublikum führten, ging es nur vordergründig um das Verhältnis zu Kant. Heidegger war hier, wie auch schon in seinem 2 Jahre zuvor veröffentlichten Werk Sein und Zeit als Herausforderer der Bewusstseinsphilosophie aufgetreten, die damals vor allem vom akademisch dominierenden Neukantianismus vertreten wurde, aus dessen Schulzusammenhang Cassirer hervorgegangen war. Doch die Frage, ob Kant als Denker der endlichen Vernunft nicht im Grunde der Kronzeuge für Heideggers Fundamentalontologie sei, führt rasch in eine tiefere praktische Dimension der Auseinandersetzung, deren Stichwörter sind: Kultur, Angst, Kampf, Humanismus. Wenn es Heidegger letztlich darum geht, "dass die Philosophie die Aufgabe hat, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals", dann ist das nur unter anderem eine maliziöse Spitze gegen das Arbeitsgebiet des Gegners: Für den rousseauistischen Fundamentalisten haftet der Kultur der parfümierte Geruch des allzu Komfortablen an. In dieser Alternative zwischen der Konfrontation mit der Härte des Schicksals - der "Nichtigkeit" des menschlichen Daseins, wie es auch heißt - und dem bloß parasitären Partizipieren an der Kultur überspringt Heidegger gerade das, worum es Cassirer geht: die produktive Aktivität, die den Kern seines grundlegend gefassten Kulturbegriffs bildet. Heidegger will "den Boden zu einem Abgrund machen", er will den Menschen radikal der Angst des nackten Daseins ausliefern, um ihn zu exponieren für die Transzendenz im Augenblick, und es sollte sich nur allzu rasch und deutlich zeigen, dass ihn dieses ästhetisierend-dezisionistische Element seines Denkens anfällig machte für die Faszination des revolutionären Aufbruchs im Jahre 1933. Für den Kantianer Cassirer gibt es keine Eigendynamik der Angst - und keine solche Augenblicksfaszination. Er, der den Sinn der Kultur geradezu in der Befreiung des Menschen von Angst und anderen Nöten sieht, weiß zugleich, dass es auch für den Willen zur Veränderung mit den großen Ausbrüchen und Aufbrüchen niemals getan ist, sondern nur mit der reformerischen Arbeit in den Institutionen der Kultur, auf die sich der Freiheitsanspruch stützen und verlassen muss und für deren Bestand und Funktion wir uns im Konfliktfall aber auch einsetzen müssen.

Es kann uns nicht überraschen, dass ein Denker, der den Begriff der Freiheit seiner gesamten Theorie der menschlichen Wirklichkeit zugrundelegt, auf Freiheit auch im engeren politischen Verständnis wert legt.

Wir finden in Cassirer denn auch insofern einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch in in der Haltung des liberalen Aufklärers mit den Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt hat: Er war zugleich ein wachsamer politischer Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für das universale politische Element der Kultur

hat Cassirer seit Freiheit und Form (1916) in einer Reihe von Schriften und Reden zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie gezeigt.

Im Sommersemester 1928 hatte Cassirer einen Ruf an die Universität Frankfurt erhalten und war angesichts eines sehr attraktiven Angebotes ernsthaft ins Überlegen gekommen. Da fühlte sich Aby Warburg genötigt, öffentlich einzugreifen und schrieb am 23. Juni 1928 im Hamburger Fremdenblatt den legendären Artikel Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf - eine nachdrückliche Anerkennung seines Werkes und eine bewegende Würdigung der Einheit von Person und Werk. Noch in die Zeit der daraufhin aufgenommenen Bleibeverhandlungen fällt die Einladung des Senators Paul de Chapeaurouge an Cassirer, die Rede bei der Verfassungsfeier 1929 zu halten, verbunden mit dem Ausdruck der aufrichtigen Hoffnung, der so geehrte Adressat möge seine "großen anerkannten Gaben unserer jungen Universität als einer ihrer führenden Gelehrten weiter erhalten."

"Ich schwöre Treue der Reichsverfassung" hatte der neuberufene Professor Cassirer am 17. Oktober 1919 vor dem Präses der Oberschulbehörde bekräftigt. Die Rede Die Idee der republikanischen Verfassung vom August 1928 läßt erkennen, dass dies keine leere Formel war. Sie ist ausdrücklich gegen die völkischen und antidemokratischen Be-wegungen jener Zeit gerichtet, die in der Demokratie eine westliche Verirrung sehen wollen, welche dem deutschen Nationalwesen fremd wäre. Cassirer zeigt hier durch die ideengeschichtliche Genealogie des modernen Verfassungsgedankens und der damit verbundenen Idee vom unveräus-serlichen Naturrecht des Individuums, dass es deutsche Philosophen waren - allen voran Leibniz und Wolff, die mit der Idee der Freiheit und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise die Befreiungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich beeinflusst haben, mit denen sich der kritische Kant im Zuge der Entfaltung seiner bis heute maßgebenden politischen Theorie wiederum auseinandersetzte. Auf diese Weise sucht Cassirer mitten in der Krise der Weimarer Republik den Nachweis vom Ursprung des modernen Verfassungsgedankens in der deutschen idealistischen Philosophie zu führen. Die als grundlegende Werbung für den Verfassungsgedanken mit dem Argument ihrer Naturwüchsigkeit im deutschen Denken eingesetzte Verteidigung mündet aber in eine subtile Überbietungspointe: Ein wesentliches Merkmal des deutschen Denkens, das auf diese Weise in Kontinuität mit dem der anderen europäischen Nationen gerückt wird, wäre demnach gerade der allen Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier entwickelten Ideen. Erkennbar sucht Cassirer damit den politischen Gegner zwingend in die Pflicht der Demokratie zu nehmen, vor allem aber gibt er sich damit selbst als Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese Weise artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke und mit ihm der Parlamentarismus in der Krise steckten, nachdrücklich als ein vom europäischen Gedanken durchdrungener Verfassungsdemokrat.

Es gehört zu den ermutigenden Aspekten in der Geschichte der Hamburger Universität, dass sie den Redner, der sich in düsteren Zeiten so exponiert hatte, ein Jahr später zu ihrem Rektor machte. Das Protokoll der Vollversammlung zur Wahl des Rektors für das Amtsjahr 1929/30 am Sonnabend, den 6. Juli 1929 hält ein Wahlergebnis fest, das die gelegentlich anzutreffende Behauptung, die Wahl Cassirers zum Rektor sei "umstritten" gewesen, nicht belegt. Umstritten war dann aber die Verfassungsfeier der Universität, für die Cassirer als Rektor im Sommer 1930 sorgte - die erste und einzige, die es an der Hamburgischen Universität überhaupt gegeben hat. Möglich war sie als Kompromiss, indem man sie verband mit der Feier zur Befreiung des Rheinlandes, und es hat um die Verbindung und Gewichtung der beiden Anlässe ein heftiges Ringen im Akademischen Senat und insbesondere mit der Studentenschaft gegeben. Die Feier fand schließlich am 22.7.1930 statt, und Cassirer hielt selbst die Rede über Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte. Im Anschluss an eine konzise historische Darstellung der Staatstheorien von Grotius und Leibniz über Fichte, Herder, die Romantik und Hegel appelliert er auch hier wieder an die Einsicht in die Notwendigkeit einer einigenden Gesetzgebung und lobt die Weimarer Verfassung als ein "Werk der Not", durch das bei allen Mängeln im einzelnen "das deutsche Volk in den Zeiten des furchtbarsten Druckes und der höchsten Gefahr seine innere Fassung bewahrt habe". Dem Plädoyer für die Freiheit im Staat, das er ausführlich in der Rede des Vorjahres begründet hatte, stellt er hier komplementär die Ermahnung zur Freiheit der Wissenschaft an die Seite - eine Ermahnung insofern, als er an die Bedingung erinnert, auf der diese Freiheit beruht: Die Universitäten dürfen keine Stätten des politischen Kampfes werden. Der Beitrag der Universität zum gesellschaftlichen Leben liegt allein in der Erkenntnis und im Verstehen.

Wo Ernst Cassirer sich als politischer Philosoph und Zeitgenosse äußert, da geschieht dies stets in der Absicht, einen Beitrag zur Sicherung der Freiheit des einzelnen in einer freiheitlichen Verfassung des Ganzen zu leisten. Doch obwohl er in der Rede zur Verfassungsfeier 1930 Konsequenz in der Freiheit der Wissenschaft einfordert, sehen wir auch, dass diese Gedanken für ihn keine bloße Theorie sind. Es gibt, um es mit einem von Goethe übernommenen Lieblingsausdruck Cassirers zu sagen, einen "prägnanten Punkt" in der Biographie dieses Denkers, an dem sich zweifelsfrei erweist, dass diese Position der politischen Philosophie getragen ist von einem vitalen und je-derzeit praktischen Sinn für die politischen Verhältnisse, von einer wachsamen Urteils-kraft, an der wir den Philosophen als selbstbewussten Bürger erkennen. Ich meine da-mit die geistesgegenwärtige Einsicht, mit der Cassirer Abschied nahm von seiner Uni-versität und der Stadt Hamburg. Nach der Wahl im Januar 1933 gab es für Ernst und Toni Cassirer, die den Antisemitismus im universitären und im städtischen Alltag der 20er Jahre erfahren hatten, kein Zögern in der Frage, was zu tun war. Sie verließen Hamburg am 12. März 1933 und waren so schon etwa einen Monat außer Landes, als am 7. April das Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in Kraft trat. Bereits am 5. April ersuchte Cassirer den Rektor um die Aufhebung aller Verpflichtungen bis zu einer allgemeinen Regelung. In einem Brief an den Hochschuldezernenten heißt es dazu am 27. April: "Ich denke von der Bedeutung und Würde des akademischen Lehramtes zu hoch, als dass ich dieses Amt ausüben könnte zu einer Zeit, in der mir als Juden, die Mitarbeit an der deutschen Kulturarbeit bestritten oder in der sie mir, durch gesetzliche Maßnahmen, in irgend einer Hinsicht geschmälert oder verkürzt wird."

Bereits am 27. Juli 1933 wurde Cassirer mit Wirkung zum 1. November in den Ruhestand versetzt.

Die Emigration führte ihn und seine Frau über England nach Schweden, wo er als Professor an der Universität Göteborg wirkte und 1939 schwedischer Staatsbürger wurde. Nach produktiven Jahren in Göteborg und Yale starb Ernst Cassirer als Gastprofessor der Columbia University am 13. April 1945 in New York.

 

Auszug aus der Rede zur Einweihung des Ernst-Cassirer-Hörsaals im Rahmen des 80. Jahrestages der Gründung der Universität Hamburg am 11.5.1999. Der vollständige Text und die erwähnten Reden von Ernst Cassirer liegen vor in dem Band Zum Gedenken an Ernst Cassirer, Hamburger Universitätsreden. Neue Folge 1, hrsg. von der Pressestelle der Universität Hamburg 1999, Dölling und Galitz Verlag.

Autorin

Birgit Recki ist Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg und Herausgeberin der zu Lebzeiten veröffentlichten Werke von Ernst Cassirer (ECW, Hamburger Ausgabe im Felix Meiner Verlag). Bislang sind drei Bände erschienen, "Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grund- lagen" und "Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit" (Band 1 und 2).