Rortys Kehre zum Patriotismus

Vordenker der Linken ist "stolz" auf sein Land

Zur Verblüffung seiner vielen meist politisch eher linken Verehrer in Deutschland hat sich Richard Rorty in seinem 1998 erschienen Buch "Achieving Our Country" zum Patrioten gewandelt und die linke Intelligenz grundlegend kritisiert. In dem nun auch auf deutsch vorliegenden Buch

Rorty, Richard: Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus. 166 S., Ln., DM 39.80, 1999, Suhrkamp, Frankfurt

argumentiert Rorty, eine Gefühlsbindung an das eigene Land sei notwendig, wenn das politische Denken phantasievoll und fruchtbar sein soll: "Und dazu kommt es wohl nur, wenn der Stolz die Scham überwiegt." In Amerika sei die einzige Form des Nationalstolzes diejenige eines einfältigen militärischen Chauvinismus. Dieser wird überschattet von dem Gefühl, dass Nationalstolz nicht mehr am Platze ist. Viele amerikanische Intellektuelle halten Nationalstolz für etwas Chauvinistisches, das nur für jene Amerikaner taugt, die sich darüber freuen, dass Amerika den Golfkrieg inszenieren und tödliche Gewalt einsetzen kann, wann und wo es will. Wenn in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ein Intellektueller die Geschichte seines Landes aus kritischer Distanz betrachtete, war zu erwarten, dass er eine politische Initiative vorschlagen würde. Heute kann, so klagt Rorty, sich ein amerikanischer Student am Ende seiner Studienzeit nicht mehr vorstellen, dass politische Initiativen Handlungsmöglichkeiten schaffen.

Die Geschichte eines Landes kann man nur mythologisch oder ideologisch erzählen. Einer solchen erzählten Geschichte kann keine "objektive" Geschichte entgegengestellt werden: Niemand weiß, worin ein Streben nach Objektivität bestehen könnte, wenn es darum geht, wie das eigene Land beschaffen ist oder was seine Geschichte bedeutet. Geschichten darüber, was eine Nation war und was zu werden sie versuchen sollte, wollen nicht exakt darstellen, sondern versuchen, eine Identität herzustellen. Der Streit zwischen Linken und Rechten über die Vergangenheit des Landes, auf welche Episoden man stolz sein kann, ist nie ein Streit über die richtige und falsche Darstellung, sondern eher ein Streit darüber, welche Hoffnungen wir uns zu eigen machen und welche wir aufgeben sollten. Die Rechte ist nie der Meinung, dass viel geändert werden muss, für sie ist das Land im Grunde in Ordnung und war es früher womöglich noch mehr. Für sie stiftet der Kampf der Linken um soziale Gerechtigkeit nur Unruhe, ist utopische Narretei. Die Linke ist definitionsgemäß die Partei der Hoffnung. Für sie ist Amerika noch nicht am Ziel.

Rorty wirft der Linken vor, sie habe es zugelassen, dass Kulturpolitik an die Stelle der eigentlichen Politik getreten ist. Die akademische Linke in Amerika, so Rortys Klage, entwickle keine Vision eines Landes mehr, das vervollkommnet werden soll und sei nicht mehr in der Lage, konkrete Reformen vorzuschlagen. Als Lichtgestalten dieser untergegangenen Linke sieht Rorty Whitman und Dewey. Whitman war es, der den Gedanken der "Erfüllung des namerikanischen Traumes als Apokalypse, als ein endzeitliches Ereignis, das dem menschlichen Leben seinen letzten Sinn verleihen würde", erfand. Dabei sagte er ausdrücklich, er wolle "die Worte Amerika und Demokratie austauschbar gebrauchen" und der Kampf für soziale Gerechtigkeit sollte Lebensquell und Seele der Nation sein. Für Dewey wiederum ist die Demokratie weder eine Regierungsform noch bloß ein nützlicher gesellschaftlicher Behelf, sondern eine Metaphysik der Stellung des Menschen und seiner Erfahrung in der Natur. Demgegenüber hat heute die Linke, und insbesondere die von Foucault beeinflusste Linke, einen unglücklichen Rückschritt zur marxistischen Fixierung auf wissenschaftliche Strenge unternommen. Sie verwendet ihre Kraft auf ausgefeilte theoretische Analysen der Bedeutung aktueller Ereignisse. Diese sind für die aktuelle Politik noch nutzloser als Engels dialektischer Materialismus. Große Theorien - Eschatologien wie die von Hegel oder Marx, negative wie die von Heidegger und Rationalisierungen der Hoffnungslosigkeit wie die von Foucault und Lacan - befriedigen die Bedürfnisse, die die Theologie zu befriedigen pflegte und von denen Dewey hoffte, dass sie den Ameri-kanern fremd bleiben würden. Er wünschte ihnen eine gemeinsame Bürgerreligion anstelle eines utopischen Strebens nach theologischen Wissensansprüchen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts befindet sich der Marxismus in der Lage des römischen Katholizismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Damals waren alle Schrecken des Renaissance-Papsttums und der Inquisition bekannt geworden. Viele Christen hielten es für das beste, wenn der Bischof von Rom seinen Laden schließen würde. Das Christentum sei viel älter als das Papsttum und habe ohne es nur zu gewinnen. Viele heutige Ost- und Mitteleuropäer sehen den Marxismus ähnlich: Die Ideale der sozialen Demokratie und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit seien viel älter als der Marxismus und wären besser vorangekommen, wenn der "Marxismus-Leninismus" nie erfunden worden wäre. Eine Analyse, der Rorty zustimmt: "Wir Amerikaner brauchten keinen Marx, um zu erkennen, dass Umverteilung not-wendig oder dass der Staat oft kaum mehr als das ausführende Organ der Reichen und Mächtigen ist." Der Marxismus war eher eine Religion als ein säkularistisches Pro-gramm zum sozialen Wandel, während die amerikanische Linke eine lange und ruhmreiche Geschichte hat. Und es würde die Bemühungen um soziale Gerechtigkeit sehr fördern, wenn sich jede neue Generation Amerikas einer Bewegung zugehörig fühlen könnte, die seit mehr als hundert Jahren besteht und der menschlichen Freiheit gute Dienste geleistet hat und wie Whitman und Dewey im Kampf für soziale Gerechtigkeit den Mittelpunkt der moralischen Identität ihres Landes sehen könnte. Man sollte sich Rorty zufolge von dem mar-xistischen Gedanken lösen, nur Initiativen von unten nach oben, von Arbeitern und Bauern, die sich von Ressentiments und Vorurteilen befreit haben, könnten Amerika vervollkommnen. Die Geschichte der linken Politik in Amerika sei vielmehr eine Geschichte des Zusammenwirkens von Initiativen von oben nach unten und von unten nach oben. Initiativen von oben nach unten kommen von Leuten, die selbst genug Sicherheit, Geld und Macht haben und sich trotzdem Sorgen um Menschen machen, die weniger haben. Initiativen von unten nach oben hingegen gehen von Menschen aus, die wenig Sicherheit, Geld und Macht haben und sich gegen die unfaire Behandlung wehren, die sie oder ihresgleichen erfahren.

Die kulturelle Linke unserer Zeit macht sich hingegen nicht viel Gedanken darüber, worin die Alternativen zu einer Markwirtschaft bestehen könnten oder wie politische Freiheit mit planwirtschaftlichen Entscheidungen zusammengehen könnte. Sie braucht sich auch nicht groß den Kopf darüber zu zerbrechen, ob in Amerika die Steuern zu niedrig sind und wieviel Wohlfahrtsstaat sich das Land leisten kann. Ihr Hauptfeind ist eine geistige Denkweise, kein Wirtschaftssystem. Und um diese auszuhebeln meint die akademische Linke, müssten die Amerikaner lernen, das Anderssein anzuerkennen. Dazu haben sie akademische Disziplinen wie Geschichte der Frauen oder Geschichte der Homosexuellen geschaffen, und sie hatten damit außer-ordentlichen Erfolg. Der Ton, in dem gebil-dete Männer über Frauen sprechen und gebildete Weiße über Schwarze, ist ein ganz anderer als vor sechzig Jahren. Zwar ist die Situation der Homosexuellen noch immer schlecht, aber sie hat sich doch wesentlich verbessert. Parallel zur Verringerung des so-zial anerkannten Sadismus sind jedoch wirtschaftliche Ungleichheit und Unsicherheit stetig gewachsen. Es ist, als könnte sich die amerikanische Linke immer nur auf eines konzentrieren - als müßte sie die Stigma-tisierungen ignorieren, um sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren, oder umgekehrt.

Es sind mehrere Gespenster, von denen die Linke gegenwärtig heimgesucht wird. Das schrecklichste davon heißt "Macht". Macht ist bei Foucault ein Etwas, das einen untilgbaren Abdruck auf jedem Wort unserer Sprache und jeder Institution unserer Ge-sellschaft hinterlassen hat. Doch der Macht im Foucaultschen Sinne kann man nichts entgegensetzen. Ihre Allgegenwart erinnert an die Satans und damit an die Erbsünde. Und die Hingabe der Linken an diese "Macht" erinnert nur allzudeutlich an die Religion. Auch der von Levinas stammende Begriff der "unendlichen Verantwortung" mag bei unserem individuellen Streben von Nutzen sein, doch wenn wir uns unserer öffentlichen Verantwortung stellen, dann ist eine so aufgefasste Verantwortung ein ebenso großes Hindernis für eine wirksame politische Organisation wie das Sünden-bewusstsein. Auch ist die kulturelle Linke oft davon überzeugt, dass sich der Nationalstaat überlebt und keine Zukunft habe, was jedoch für diejenigen, denen durch die Globalisierung die Verelendung droht, kein großer Trost ist. Die Mode der heutigen Linken, auf einen Weltstaat zu blicken, ist so nutzlos wie der Glaube an Marxens Geschichtsphilosophie, für den sie ein Ersatz geworden ist.

Was die Industrialisierung für Amerika am Ende des 19. Jahrhunderts war, das ist gegenwärtig die Globalisierung. Sie führt zu einer Weltwirtschaft, in der jeder Versuch eines Landes, die Verelendung seiner Arbeiter zu verringern, nur zur Arbeitslosigkeit führt. Bald wird diese Weltwirtschaft in den Händen einer kosmopolitischen Oberschicht liegen, die sich ebensowenig mit irgendwelchen Arbeitern in irgendeinem Land verbunden fühlt wie die amerikanischen Großkapitalisten des Jahres 1900 mit den Einwanderern, die ihren Unternehmen zuarbeiteten. Der neue wirtschaftliche Kosmo-polismus läßt eine Zukunft erahnen, in der der Lebensstandard von drei Viertel der Bevölkerung ständig sinkt. Das Ergebnis des internationalen Freihandels sieht für Rorty so aus: Wohlstand für Manager und Aktionäre, Verbesserung des Lebensstandards für Arbeiter in den Entwicklungsländern und eine starke Verschlechterung für die amerikanischen Arbeiter. An diesem Punkt wird es einen Bruch geben: Die armen Wähler kommen zu dem Schluss, dass das System versagt habe, und werden einen starken Mann wählen wollen und wenn dieser einmal im Sattel sitzt, wird niemand voraussagen können, was geschieht, außer einem Punkt: Die Fortschritte in der Situation der schwarzen und braunen Amerikaner sowie der Homosexuellen in den letzten vierzig Jahren würden weggefegt, und der hypothetisch starke Reiche würde sich rasch mit den Superreichen einigen.

Rorty gibt der Linken zwei Rätschlage. Zum ersten das Theoretisieren vorläufig einzustellen und ihre philosophische Pose zum Teufel zu jagen. Zum zweiten sollte sie die Überreste des Stolzes der Amerikaner mobilisieren und an die Öffentlichkeit die Frage stellen, wie das Land vervollkommnet werden kann.

Bereits vor der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung hat die Frankfurter Allgemeine einen Vorabdruck aus dem Buch publiziert und dazu unter dem Titel "Abgesang. Richard Rortys Kehre" hämisch kommentiert, "der sonst eher vorsichtige Denker verwandelt sich in einen Verkünder unangenehmer Wahrheiten, der postmoderne Philosoph wird Prophet". Rorty hat danach in Interviews korrigiert, der Kommentar sei irreführend, es gehe keinesfalls um Prophetie. Irreführend ist aber auch der deutsche Titel des Buches, derjenige des Originals lautet nämlich Achieving Our Country, also eher "Verbessern wir unser Land".

Dennoch hat dieses Buch den linksliberalen Intellektuellen Deutschlands, eine Rorty traditionell gewogene Leserschaft, Unbehagen bereitet. Das komme daher, räsonniert der Tugendhat-Schüler Harald Köhl in der Frankfurter Rundschau, "dass uns die Frage nach unserer nationalen 'Bestimmung' derart fremd (geworden) ist, dass wir sie kaum einmal aufwerfen. Schon gar nicht haben wir eine Antwort darauf." Und Dirk Knipphals erklärt in DS. Das Sonntagsblatt: "In den USA sind viele fortschrittliche Elemente des nationalen Denkens nicht so verschüttet wie bei uns." Jürgen Habermas warnte schon vor Erscheinen der deutschen Übersetzung in der Südeutschen (27.2.1999) vor Analogien und erklärte, die Nationalkonservativen würden an diesem Buch keine Freude haben: "Sein Patriotismus ist frühromantischer Herkunft, nicht von der traditionalistischen Art der alt und fromm gewordenen Romantiker." "Wenn Rortys patriotisches Manifest", so das Fazit von Habermas, "für uns überhaupt eine Botschaft enthält, dann die Aufforderung zum öffentlichen Streit über das politische Selbstverständnis der europäischen Bürger, die eine europaweite Demokratie auf die Beine stellen müssen, wenn sie die sozialen Sprengsätze eines gewiss hoch produktiven gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Währung durch gemeinsame Politiken entschärfen wollen."