Kritik an Ausgrenzung Singers

Der Trierer Philosoph Anselm Müller fordert inhaltliche Auseinandersetzung

180 Mitglieder der "Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland" veröffentlichten 1989 eine "Erklärung deutscher Philosophen zur sog. 'Singer-Affäre'", in der die Unterzeichneten ihre Sorge darüber äusserten, "dass ..... an mehreren Universitäten der Bundesrepublik öffentliche Diskussionen über die vor allem den Bereich der neonatalen Intensivmedizin berührenden Thesen des australischen Phi-losophen Peter Singer verhindert bzw. stark beeinträchtigt wurden... Wir äußern diese Sorge, ohne damit für oder gegen die Singerschen Thesen selbst Stellung zu nehmen".

Der in Trier Philosophie lehrende Anselm Müller stellt in seinem Beitrag diese die Philosophen einigende Toleranz in Frage. Hinter dieser Erklärung, so Müller, stehe eine Haltung, die sich so formulieren läßt: "Eine Gesellschaft soll die öffentliche Diskussion auch solcher Aufassungen zulassen oder gar fördern, die in wichtigen Punkten ihrer bisherigen Moral wider-streiten; denn die öffentliche Diskussion ist in entscheidenden moralischen Fragen der einzig angemessene, weil rationale Weg einer Antwort." Eine Auffassung, die ähnlich auch in dem Buch Should the Baby Live? von Helga Kuhse und Peter Singer vertreten wird. Präziser analysiert, sieht Müller dahinter vier Annahmen:

1. Es kann nicht richtig sein, der mit Argument und Anstand vorgetragenen These, behindert geborene Kinder dürfe bzw. solle man unter gewissen Umständen umbringen, anders als mit Gegenargumenten entgegenzutreten, die tendenziell die These widerlegen und die eigene Position begründen.

2. Für das Recht auf freie Meinungsäußerung und speziell für die akademische Freiheit spielt der Unterschied zwischen öffentlicher und fachinterner Debatte keine Rolle.

3. Eine öffentliche Euthanasie-Debatte kann und soll man unabhängig von der eigenen Stellungnahme zur Sache selbst bejahen.

4. Die Kundgebung einer moralphilosophischen Meinung ist an sich moralisch neutral.

Von grundlegenden moralischen Forderungen ist man nicht irgendwelcher Argumente wegen überzeugt. Diese Forderungen bilden - für eine ganze Tradition oder für einen einzelnen - als feste Gewissheiten Angel-punkte der Vergewisserung in weniger grundlegenden moralischen Fragen. Dabei wissen wir, dass Natur, Sozialisation und Verhaltensgewohnheit eine entscheidende Rolle spielen, während Reflexion und Argu-ment dazu geeignet sind, auf dieser Basis Stabilisierungen, Ergänzungen und Korrek-turen an weniger zentralen Stellen des Netzes unserer Auffassungen vorzunehmen und so unsere eigene Moral zu stützen. Nicht weiter begründete Orientierung an grund-legenden moralischen Gewissheiten muss nichts Irrationales an sich haben: Schlösse der Maßstab der Rationalität solche Orien-tierung aus, wie sollte verwirklichte Ratio-nalität dann aussehen?

Es ist durchaus nicht unvernünftig, von bisherigen Überzeugungen nicht zu lassen, auch wenn man gegen Prämissen und Strukturen der Argumente, die dagegen sprechen, nichts einzuwenden hat. Oder ist es vernünftig, einem von jenen Rechenkunststücken zu trauen, die "beweisen", dass 1 + 1 = 3, nur weil man den Fehler in der Herleitung nicht identifizieren kann? Sollte es weniger vernünftig sein, in ähnlicher Weise auf die "Widerlegung" der eigenen feststehenden moralischen Überzeugung zu reagieren? Insbesondere ist es unvernünftig, eine Überzeugung aufzugeben, wenn mir die Elemente, d.h. die Prämissen und die Schlussweise des Gegenarguments zwar plausibel, aber weniger gewiss sind als die Überzeugungen oder wenn ich den Gang des Arguments nicht überblicke? Auch Argu-mente fußen letztes Endes auf Überzeu-gungen und Argumentationsmustern, für die es weitere stringente Argumente nicht gibt. Wer in der Überzeugung aufwächst, dass Lügen nicht in Frage kommen, wird an dieser Überzeugung vielleicht mehr Freude finden, nachdem er den Kategorischen Im-perativ kennengelernt hat. Dagegen sind kaum Fälle vorstellbar, in denen man zu recht sagen könnte, nun halte er die Lüge wegen Kants Argument für unerlaubt. Auch ein Moralphilosoph geht beispielsweise mit der Überzeugung, dass man vor Gericht nicht falsch aussagen soll, an seine Arbeit; von dieser Norm überzeugt er sich nicht durch Nachdenken. Daher auch die gelegentlich mit Spott bedachte bemerkenswerte Tatsa-che, dass erheblich divergierende Moraltheo-rien in der von ihnen vertretenen Moral sehr weitgehend übereinstimmen. Sie teilen den Ausgangspunkt. Und der liegt nicht in moralphilosophischen Axiomen und Annah-men, sondern in einer gemeinsamen mora-lischen Kultur.

Die von Singer debattierte Frage gehört für viele der irgendwie Beteiligten zu den grundlegenden moralischen Fragen. Wer der festen Überzeugung ist, die gesundheitliche Verfassung bzw. die mutmaßliche Lebens-perspektive eines Menschen dürfe unter keinen Umständen ein Grund sein, ihn zu töten, wird diese Gewissheit im allgemeinen nicht auf Argumente gründen. Deshalb kann in dieser Frage die moralphilosophische Argumentation nur von begrenzter Be-deutung sein, ob sie nun für oder gegen Singer Partei ergreift. Kuhse, Singer und die "Erklärung" übersehen, dass für die über-wiegende Mehrheit des Publikums in der umstrittenen Frage die eigene Position weder Begründung noch Widerlegung zuläßt und dass es deshalb keineswegs irrational ist, wie Rainer Hegselmann gemeint hat, wenn für diese Position und gegen ihre Konkurrentin diejenigen Wege beschritten werden, wie sie in der Auseinandersetzung um Fundamente einer Lebensform zu Gebote stehen. Und, so fragte Müller, könnte es für einen Philo-sophen nicht auch ein Zeichen von Charak-ter sein, wenn er auf argumentative Euthana-sie-Vorschläge eines anderen primär mit Entsetzen oder sprachlos reagiert, anstatt das Unglaubliche durch zahme Gegenargumente als diskutabel zu behandeln?

Nur wenige Menschen können appellieren-de, nicht-begründende Argumente als solche verstehen, richtig einordnen oder gar ein-setzen. Und wenn es keine Forderung der Rationalität ist, dass die Auseinandersetzung um die Früheuthanasie rein argumentativ geführt wird, dann ist die geforderte Tole-ranz nicht selbstverständlich. Nicht-Philosophen sind besonders da, wo Argu-mente nicht eigentlich zur Begründung oder Widerlegung taugen, der Auseinander-setzung mit Philosophen kaum gewachsen. Geht es jedoch um grundlegende Über-zeugungen, die nicht auf gewisseren Grün-den aufruhen, ist nicht einzusehen, dass fachliche Qualifikation ein mehr an Kom-petenz vermittelt. Kurz: Die Selbstverständ-lichkeit, mit der sowohl die "Erklärung" als auch Kuhse und Singer für die Euthanasie-Debatte Öffentlichkeit verlangen, vermag der Ambivalenz der Öffentlichkeit von ethischen Diskussionen nicht gerecht zu werden.

Wenn für das Eintreten für eine grund-legende moralische Überzeugung andere Mittel als der Begründung eingesetzt werden, ist von vornherein damit zu rechnen, dass die Öffentlichkeit der Debatte selber ebenso wie ihre Unterbindung zu diesen Mitteln gehören. Im Normalfall ist damit zu rechnen, dass (vernünftigerweise) für die öffentliche Debatte der eigenen Posi-tion plädiert, wer mit ihr einer etablierten Auffassung entgegentritt, nicht aber, wer diese etablierte Auffassung bejaht und durch Werbung für eine konkurrierende Position bedroht sieht. Wer die Kuhse-Singer-These für falsch und die Eindämmung entsprechend falscher moralischer Auffas-sungen für wichtig hält, hat also gute Gründe, einer öffentlichen Erwägung und Diskussion dieser Position entgegen-zuwirken. Umgekehrt ist es von ihrer inhalt-lichen Position her nur konsequent, wenn Kuhse und Singer in der Öffentlichkeit für die Tötung "mancher schwerstbehinderter Neugeborener" eintreten, wo ihnen die Ge-legenheit dazu geboten wird. Merkwürdig ist nur ihr Befremden darüber, dass andere sie daran zu hindern suchen. Sie verhalten sich darin nicht viel anders als ein monar-chistischer Revisionist, der Kränkung und Ressentiment darüber empfindet, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland seine Partei nicht zuläßt.

Bei fast allen Befürwortern der öffentlichen Euthanasie-Debatte ist die erstaunliche An-nahme anzutreffen, dass sich hier die Wahr-heit aufgrund der besseren Argumente durch-setzen wird. Wer allen Ernstes glaubt, die öffentliche Euthanasie-Debatte werde durch das Abwägen von Argumenten zu fundierten persönlichen Überzeugungen oder gar zu einer vernünftigen "öffentlichen Meinung" führen, muss nach Müller naiv sein. Nicht viel weniger naiv als jemand, der die Popularität der Abtreibung darauf zurückführt, dass sich so viele Menschen im Verlauf der öffentlichen Diskussion durch Argumente davon haben überzeugen lassen, dass Föten keine Menschen oder keine Personen sind. Nicht, als hätten Argumente in diesem Fall keine Rolle gespielt. Im Gegenteil, sie haben allzu oft, ob schlüssig oder nicht, das "rationalisiert", was man gerne glauben wollte.

Befürworter der öffentlichen Euthanasie-Debatte reden über deren Bedeutung, als wären Menschen (die Gesellschaft und viel-leicht unmittelbar Betroffene) nicht ganz einfach der verständlichen Versuchung ausgesetzt, sich der Sorge und Mühe um schwer behinderte Kinder zu entledigen; und als würden philosophische Argumente für deren Tötung nicht, ziemlich unabhängig von ihrer epistemischen Qualität und ihrer Intention, die willkommene Möglichkeit eröffnen, dass man der Versuchung nachgibt, ohne sich dem bitteren Beigeschmack des Selbstvorwurfes auszu-setzen.

Warum sollte speziell das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht ebenso der Ein-schränkung unterliegen wie das weniger spe-zifische Recht, zu tun, was man will? Weil freie Rede nicht schaden kann? Jeder weiß, dass sie schaden kann. Und tatsächlich ak-zeptiert wird, dass ihre Freiheit z.B. an der Ehre anderer ihre Grenze findet. Warum nicht u.a. auch am Wohl der Gesellschaft oder einzelner Betroffener? Müller geht noch weiter und fragt: Welche Art Toleranz der öffentlichen Debatte wird hier gefordert? Und über welche Formen der Intoleranz beklagt man sich? Klagt man über Angriffe auf Singers Unversehrtheit oder Ehre, so ist der Anlaß der Klage zwar äußerst ernst, aber trivial: Fast jeder wird zustimmen. Klagt man indessen über einen Mangel an Bereitschaft, der Kuhse-Singer-These Gehör zu schenken oder zu verschaffen, also zu ihrer Verbreitung beizutragen oder über Demonstrationen gegen ihre öffentliche Darstellung, so scheint die Klage seltsam. Bedeuten diese Formen der Ablehnng Into-leranz, so erscheint das entsprechende Toleranz-Verlangen völlig unbegründet. Denn solche "Intoleranz" tangiert noch nicht einmal das Recht auf freie Meinungs-äußerung. Zum Vergleich: Das Recht einer Firma, für ihre Produkte zu werben, wird nicht dadurch missachtet oder einge-schränkt, dass niemand hinschaut oder dass jemand für konkurrierende Produkte Reklame macht.

Nehmen wir den Fall, jemand fordere die Einführung von Sklaverei. Wir würden uns nicht auf eine Diskussion des Für und Wider einlassen, obwohl es vielleicht gute Argumente für deren Einführung gibt. Denn wir sind nicht bereit, unsere Überzeugungen wirklich zur Disposition zu stellen und den Ausgang der Debatte abzuwarten. Warum, so fragt Müller, wollen wir Kuhse und Singer in einer Weise Gehör schenken, die wir dem Anwalt der Sklaverei verweigern?