Spinoza als Marrane

In den Jahren 1411 und 1412 terrorisierte Vincent Ferrer, ein Religionsreformer und fanatischer Missionar in Spanien die Juden, indem er ihre Synagogen stürmte und sie zur Taufe zwang. Und der Gegenpapst Benedikt XIII. veranstaltete ein aufsehenerregendes Schauspiel, indem er zwischen 1412 und 1414 jüdische Rabbiner zwang, mit einem abtrünnigen Juden zu disputieren. Diese Demoralisierung der spanischen Juden ließ eine neue soziale Schicht entstehen: die vom Juden- zum Christentum Konvertierten und ihre Nachkommen, die Marranen. Viele von ihnen hielten heimlich an ihrem jüdischen Glauben fest. Die judaisierenden Marranen gaben oftmals wiederum Anlaß zu Verfolgungen, die auch auf die nicht judaisierenden Marranen übergriffen.

Die Konvertierten drangen bald darauf in alle Bereiche der spanischen Gesellschaft ein und erreichten eine hervorragende Stellung, nicht nur in Handel und Gewerbe, sondern auch in Bildung und öffentlichem Dienst, in Klerus und durch Einheirat in den Adel. Dabei behielten sie ihre für Juden typischen Verhaltensweisen bei, einschließlich ihrer Beweglichkeit und der Bereitschaft zur gegenseitigen Hilfe. Nach wenigen Jahrzehnten regten sich deshalb Neid und Konkurrenz der Altchristen. 1449 fand in Toledo das erste schwere Progromen gegen die "Conversos" statt. Man ging nun über, nicht mehr nach dem Glauben, sondern nach dem "Blut" zu fragen; Marranen galten als von vornherein befleckt. Unter Philipp II. erlangten die "Statuten der Reinheit des Blutes" in Spanien und später auch in Portugal Gesetzeskraft. Unter Ferdinand und Isabella setzte eine Welle der Verfolgung der Marranen ein, wobei andere Ketzer und Hexen gleich miterfaßt wurden: Marranen wurden auf Scheiterhaufen öffentlich verbrannt. Viele Marranen flüchteten, nach Venedig und Livorno, nach Altona und Hamburg, später nach London und vor allem nach Amsterdam. Dort nahmen sie wieder den ursprünglichen jüdischen Glauben an. Zu den letzteren gehörten auch die Eltern von Baruch Spinoza. In dem ausgezeichneten und lesenswerten Buch

Yovel, Yirmiyahu: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. 550 S., Ln., DM 48.--, 2. Auflage 1995, Steidl, Göttingen

beschreibt Yovel Spinoza als Marrane und sein Denken als ein typisches marranisches Denken. Spinoza war zwar schon von Geburt aus Jude, seine Umgebung bestand jedoch mehrheitlich aus ehemaligen Marranen, die auch ihre katholische Erziehung und Symbolik aus Iberien mitgebracht hatten. Sie vergaßen die speziellen Bräuche und Regeln des Mosaischen Gesetzes dort - von der übrigen jüdischen Welt abgeschnitten - nach und nach. Als einzige Informationsquelle über das Judentum blieb ihnen, was in polemischer Weise gegen das Judentum in der lateinischen Vulgata und anderen christlichen Zeugnissen enthalten war.

Die Erfahrung, die die Marranen in Iberien machten, führte zu einer Mischung von christlichen und jüdischen Elementen und damit zu verschiedenen Formen des Skeptizismus, zu Säkularismus, Neopaganismus, rationalistischem Deismus oder (in den meisten Fällen) zu einem ziemlich kruden Durcheinander von Symbolen und Traditionen. In Holland blieb diese alte Dualität verinnerlicht als Riß innerhalb des wirklichen Selbst - zwischen dem ersehnten Judentum und dem verbliebenen Christentum. Das Ergebnis war religiöse Ambivalenz und eine Bereitschaft zum Dissens. Prado und Spinoza bildeten die Extremfälle dieses Dissens, indem sie über jede Offenbarungsreligion hinausgingen. Andere blieben auf dem Boden der Offenbarung, interpretierten sie aber neu. Ein bekannter Fall ist Uriel Da Costa. Er war Neuchrist aus Porto in Portugal, ehemaliger Student des Kanonischen Rechts an der Universität von Coimbra. Als er nach Amsterdam kam und sich wieder zum Judentum bekannte, erlebte er, wie er sagt, eine herbe Enttäuschung. Statt der ursprünglichen Religion der Bibel fand er eine Religion voll unwichtiger Vorschriften und Regeln. Er kam zum Schluß, daß weder die jüdische noch die christliche Religion ewige Wahrheiten besäßen, sie seien lediglich Glaubensüberzeugungen, Meinungen und Vorschriften, die sich aus menschlichen Bedürfnissen und sich wandelnden Umständen entwickelten hätten, und wesentlich Menschenwerk sei. Die Amsterdamer Judenschaft belegte ihn dieser Ketzerei wegen mit dem Bann. Jahrelang lebte Da Costa in Isolation und Elend. Schließlich war sein Widerstand gebrochen, und er widerrief nach aussen hin. Damit wurde er zu einer Art Marrane in einer ehemals marranischen Gemeinde. Völlig gebrochen, verbittert und entmutigt, schoß er sich schließlich eine Kugel in den Kopf, allerdings nicht ohne zuvor seine Lebensgeschichte und seine Gedanken über Religion niedergeschrieben zu haben - einschließlich der Feststellung, daß alle Religionen reines Menschenwerk seien.

In der Forschung ist man über den Einfluß von Da Costa auf Spinoza uneinig. Spinoza war acht Jahre alt, als sich Da Costa umbrachte. Reaktionen auf den Skandal und die Tragödie müssen unter den Schülern das Tagesgespräch gewesen sein. Der Spinoza-Forscher Israel S. Revah ist überzeugt, daß Spinoza viel über den Fall Da Costa nachgedacht hat, und sagt, die Durchsicht der von ihm entdeckten Quellen ergebe, daß so-gar wahrscheinlich entfernte Familienbande zwischen den beiden bestanden haben.

Spinoza und der Arzt Juan de Prado waren die Hauptfiguren eines Skandals, der um die Mitte des 17. Jahrhunderts die Amsterdamer Gemeinde erschütterte und schließlich in der Exkommunizierung beider seinen Höhepunkt fand. Man spricht sogar von einer "Prado-Spinoza-Affäre", denn in beiden Fällen ging es um ähnliche Dinge, und beide bildeten einen Ereigniszusammenhang. Prado hatte in Spanien als Marrane Theologie studiert, war aber nicht nur zum Judentum zurückgekehrt, sondern gewann als militanter Marrane unter seinen Freunden manche Seele zum jüdischen Glauben zurück. Verraten, mußte er nach Holland fliehen und kehrte dort offen zum Judentum zurück. Hier begegnete ihm aber auf einmal das ganze Gewicht des offiziellen, normativen Judentums mit seinen Traditionen, seinen Rabbinern, seinem Geflecht von bis ins einzelne festgelegten Glaubensinhalten und Riten, die man nun von ihm als bindende und endgültige Doktrin zu akeptieren verlangte. Angesichts dieser neuen Situation kamen nun Prados ketzerische Ideen, die in der Zeit des marranischen Untergrunds in seinem Geiste teils geschlummert, teils bereits gegärt hatten, zum Ausbruch.

Spinozas Vater, ein angesehenes Mitglied der Gemeinde, war 1654 gestorben und hatte sein Handelsunternehmen Baruch und dessen jüngerem Bruder Gabriel hinterlassen. Die beiden Söhne gründeten zusammen unter dem Namen "Bento y Gabriel d'Espinosa" eine Gesellschaft zum Import und Export von Früchten. Zu dieser Zeit spendete Baruch regelmäßig großzügig der jüdischen Gemeinde. Das Geschäft ging jedoch mittelmäßig, einmal verlor die Gesellschaft ein Handelsschiff auf hoher See.

Spinoza kannte die Bibel auswendig und fand viele Widersprüche in ihr. Die Vorstellung von Wundern beispielsweise schien ihm sowohl der Vernunft als auch den Naturgesetzen zu widersprechen, und bei den Propheten fand er Zeichen großer Einbildungskraft, aber kein geregeltes, vernünftiges Denken. Spinoza gelangte zu der Überzeugung, Gott, der Gegenstand der menschlichen Liebe, sei das Universum selbst, sofern es als ein einziges Ganzes verstanden werden kann. Natur und Gott sind eins, und die Erkenntnis der Natur ist folglich die Erkenntnis Gottes.

Spinoza begann den Bekannten, denen er Vertrauen entgegenbrachte, seine Zweifel mitzuteilen. Die Gemeindevorsteher taten, was sie konnten, um ihn davon abzubringen. Er aber stand offen für seine Ideen ein und verfaßte eine nicht erhalten gebliebene Verteidigung.

Zweifellos standen Prado und Spinoza schon Ende 1655 miteinander in Kontakt. Zwar war Prado sicher nicht der "Verführer" von Spinoza, doch trug die Beziehung gewiß dazu bei, häretische Ideen zu fördern und zu artikulieren. Auf jeden Fall eröffnete die Gemeindeversammlung kaum ein Jahr nach Prados Ankunft in Amsterdam ein Untersuchungsverfahren gegen ihn und Spinoza. Die beiden Männer reagierten auf die Forderungen der Gemeinde völlig verschieden. Spinoza weigerte sich zu bereuen, wies alle Kompromißvorschläge von sich und hat vielleicht sogar den Bruch mit der jüdischen Gemeinde bewußt gewollt. Prado dagegen zog es vor, ein Doppelleben zu führen (wie er es von Spanien her gewöhnt war) und focht einen hartnäckigen Kampf um sein Recht auf Mitgliedschaft in der Gemeinde. Ungefähr vier Jahre nach Spinozas Exkommunizierung lag der erste Teils von Spinozas Ethik im Manuskript vor.

Prado war nicht der einzige Apostat, mit dem Spinoza Beziehungen unterhielt. Etwa um die gleiche Zeit erschien noch eine andere wichtige und buntschillernde Gestalt in Amsterdam: Isaac La Peyrére, "der größte Häretiker vor Spinoza". Er gelangte zu Berühmtheit durch den Skandal, den sein Buch über die Präadamiten hervorgerufen hatte. Darin vertritt er die Meinung, schon vor Adam und Eva habe es Menschen auf der Erde gegeben, die ohne göttliches Gesetz in einer Art Naturzustand gelebt hätten. Die Bibel setze dort ein, wo Gott die Juden zu Trägern seines Wortes auf Erden macht. Sie sei daher keine Geschichte der ganzen Menschheit, sondern nur der Juden. Adam sei nicht der erste Mensch der gesamten Menschhheit, sondern nur der erste Jude. La Peyrere wandte, um seine Thesen zu untermauern, als erster die Methode der Bibelkritik an, die Spinoza später auf eine feste Grundlage gestellt und erweitert hat.

Nach Yovel führt Spinoza Kultur und Sprache der Marranen ungebrochen weiter. Bei ihm finden sich die verschiedenen typisch marranischen Züge, insbesondere

Heterodoxie und das Transzendieren der Offenbarungsreligion;

ein Geschick, sich in Äquivokationen auszudrücken, sodaß man von einer doppeldeutigen Sprache reden kann

ein Doppelleben zwischen Innerem und Äußerem

einen durch einen Bruch gekennzeichneten Lebensweg

Toleranz contra Inquisition

ein brennendes Interesse an Erlösung, die auf anderen als traditionellen Wegen erreicht werden kann und damit verbunden: Diesseitigkeit, Säkularismus und die Leugnung von Transzendenz.

Spinoza war der große Meister von Äquivokation und Doppeldeutigkeit. Er redete je nach Publikum auf unterschiedliche Weise, verbarg vor manchen Leuten seine wahre Absicht und entdeckte sie anderen. Er verstand es, eine Ausdrucksweise zu benutzen, die ihrem Wortlaut nach das Gegenteil bedeutete, sodaß der arglose Leser irregeführt wurde. Diese Technik benutzte er etwa im Theologisch-Politischen Traktat und den Briefen, weniger aber in der Ethik. Weder Jude noch Christ, wehrte sich Spinoza vergeblich gegen den Ruf, Atheist zu sein. Er fand weder die äußere Freiheit, die für ein Leben ohne Versteckspiel nötig ist, noch die geistige Partnerschaft mit anderen, die imstande gewesen wäre, die Tiefe seines unbedingten, mystischen Glaubens an die Vernunft auszuloten oder dessen Intensität zu teilen. Im Unterschied zu anderen Marranen verließ Spinoza eine religiöse Gemeinschaft, ohne sich einer anderen anzuschließen. Noch gab es keinen sozialen Rahmen, der fähig gewesen wäre, Spinozas neues Denken aufzunehmen. Die Vorstellung von einem reinen Individuum, das durch nichts als die Kraft der Vernunft, also durch ein universelles Vermögen gekennzeichnet ist, ohne in einer bestimmten Religionsgemeinschaft verwurzelt oder mir ihr verbunden zu sein, war völlig neu. Spinoza verwirklichte diese Idee, ohne sie jedoch allgemein zu institutionalisieren: Er war ein lebendiges Beispiel dieses Prinzips, ein Einzelfall, der etwas Zukünftiges vorwegnahm, das jedoch noch keine gesellschaftliche Realität besaß.

Auch Spinozas Philosophie spiegelt, in anderer Weise, seinen marranischen Hintergrund wider. Besonders deutlich wird dies in seiner Philosophie der Toleranz, einer klaren Antithese zur Inquisition. Auch stammt sein Erlösungsideal nicht aus der griechischen Philosophie (die er kaum gekannt haben dürfte), auch nicht direkt von den römischen Stoikern (die er kannte und rezipierte), sondern von seinen religiösen und mystischen Interessen, die er in die Sprache der Vernunft übertrug. Erlösung war immer ein zentraler Begriff für die judaisierenden Marranen, die erklärten, Erlösung sei im mosaischen Gesetz, nicht im Christentum zu finden. Als ein Marrane höheren Grades (ein Marrane der Vernunft, nicht irgendeiner Offenbarungsreligion), war er es, der allein den wahren Weg der Erlösung kannte: dieser Weg führte über die geistige Liebe zu Gott. Anders als die moderne Philosophie hat Spinoza die absoluten spirituellen Ziele der Mystiker nie aufgegeben, aber er glaubte, allein die Vernunft, in Gestalt einer "scientia intuitiva" und als stärkste geistige Kraft, könne zu diesen Zielen führen und sei der einzige Weg, sie zu erreichen.

Von besonderem philosophischem Interesse ist für Spinoza die Menge. Der Philosoph lebt in der Menge, ist von allen Seiten von ihrer mächtigen Präsenz umgeben. Spinoza betrachtet die Menge als eine eigene Kategorie. Einzelne können die Ebene der "imaginatio" überschreiten und das Leben der "ratio", der Vernunft, sogar die höchste Stufe der "scientia intuitiva" erreichen. Die große Mehrheit ist dazu nicht imstande - und die Menge steht für diese Mehrheit. Gewöhnlich erzeugt die Psychologie der "imaginatio" Streit, Uneinigkeit, Gewalt und Krieg, auch Fanatismus und die verschiedenen Formen der Intoleranz. Sie ist die Quelle der Lebensunsicherheit und der gesellschaftlichen Instabilität. Die Frage, ob es einen natürlichen Weg gibt, die Imagination umzugestalten, sodaß ihre zerstörerischen Elemente neutralisiert werden und ein gesellschaftlich nützliches Verhalten aufkommt, ist das Thema im Theologisch-politischen Traktat. Spinozas Lösung besteht nicht darin, die Menge auf die Ebene der Vernunft zu heben, das hält er für unmöglich. Er sucht vielmehr die Wirkungen dieser "imaginatio" in quasi rationale Muster abzuändern und sie zu institutionalisieren. Dieser zivilisierende Eingriff in die Natur erfolgt durch zwei Mechanismen, einen religiösen und einen politischen. Eine bereinigte Religion und der vernünftige Staat sind so eingerichtet, daß sie in der Menge dasselbe Verhalten hervorrufen, das der rationale Entwurf verlangt, auch wenn es durch nichtrationale Kräfte und inadäquate Ideen motiviert ist. Das heißt, der Philosoph muß Sprache rhetorisch einsetzen, damit seine Rede beim Adressaten die gewünschte Wirkung erreicht.

Auf der ersten Stufe geht es darum, geschichtliche Religion als "vana religio" zu unterminieren. Der Ersatz ist die "religio catholica", die allgemeine Religion, die im theologischen Teil des Theologisch-politischen Traktats behandelt wird. Sie ist eine volkstümliche Version der Vernunftreligion, die in Leidenschaft und Imagination verwurzelt bleibt und die nur äußerlich oder als Nachahmung rational ist. Sie setzt kein wirkliches Wissen, sondern nur Gehorsam voraus. Damit der Inhalt der Bibel dieser neuen Religion entspricht, muß er uminterpretiert werden, eine Aufgabe, die der biblischen Hermeneutik zukommt. Die zweite - politische - Stufe in Spinozas Programm für die Menge ist als Ergänzung der theologischen Stufe notwendig. Die zentrale Lehre von Gerechtigkeit, Solidarität und gegenseitiger Hilfe, auf die Offenbarungsreligion und Gotteswort reduziert werden, sind als Grundlage des Handelns viel zu vage. Die Prinzipien müssen in einer besonderen Gesetzgebung ausformuliert und auf den sozialen Kontext zugeschnitten werden, für den sie passen sollen. Der Staat wird daher bei Spinoza nicht nur zu einem Machtmechanismus, sondern auch zu einem Mittel der Zivilisation, zum Instrument der Erziehung.

Da der Mensch der Imagination den rationalen Standpunkt des Philosophen nicht zu teilen vermag, wird sich der Philosoph auf die Sprache und das Niveau seines Gesprächspartners einstellen, um ihren Sinn zu verändern und schließlich ihre Autorität gegen sie selbst zu kehren. Das erfordert dialektische Fähigkeiten und den großzügigen Gebrauch von Metaphern, Allegorien und Äquivokationen. Mit der Verwendung mehrdeutiger Sprache kann der Philosoph seine Rede der Menge anpassen und trotzdem immer eine Diskursebene beibehalten, auf der seine Aussagen philosophisch wahr sind.

Dies zeigt Yovel zufolge, daß Spinoza wie die Marranen auf der Suche nach einer alternativen Erlösung war, die sich von den in der etablierten Kultur akzeptierten Wegen abwandte. Doch während die Marranen diesen Weg in einer anderen geschichtlichen Religion, dem Judentum, zu finden hofften, suchte Spinoza ihn jenseits aller geschichtlichen Religionen. Durch ein rational-intuitives Verfahren, das an keinen überlieferten Kult, an keine Offenbarung geknüpft ist, sollten die Philosophen schließlich fähig sein zu erlangen, was die großen Mystiker und die religiösen Sucher immer erstrebt und unweigerlich verfehlt haben, weil sie sich auf abergläubische Überzeugungen und Praktiken verließen. Spinoza war kein Mystiker, aber erkannte in der Mystik eine fehlgeleitete Form einer Sehnsucht und eines Strebens. Werden sie von der Vernunft nur richtig verändert, so wird daraus der Erlösungsweg des rationalen Philosophen, ein Gewinn, der ebenso selten und schwer zu erreichen ist wie der, den Mystiker mit irrationalen Mitteln zu erreichen suchen.

Ungeachtet der Legenden war Spinozas Einsamkeit nicht sozialer Natur. Im Gegenteil, er war ein geselliger Mensch, und ihn umgaben Freunde wie auch wißbegierige Intellektuelle. Einige kümmerten sich sogar um seinen Lebensunterhalt, was eine weitere Legende widerlegt, Spinoza habe, um diesen finanzieren zu können, Linsen schleifen müssen. Daß die Welt ihn als Juden ansah, prägte Spinozas existentielle, nicht aber seine soziale Isolation. Er war ein Einsamer, das Individuum par excellence, das einzig nach seinem privaten Dasein und seinen Überzeugungen beurteilt werden will, nicht nach irgendeinem sozialen oder historischen Rahmen, der ihm die wesentlichen Bestandteile seiner Identität zu liefern hätte. Wie viele Juden war Spinoza polyglott, ohne eine bestimmte Sprache zu haben, in der er ausschließlich und ursprünglich zu Hause gewesen wäre und die sein Leben und sein semantisches Universum beherrscht hätten, so wenig, wie es eine bestimmte Gesellschaft gegeben hätte, der er angehörte. Nachdem er aus der jüdischen Gemeinde ausgeschieden war, hat er in der niederländischen Republik niemals ganz Fuß gefaßt. Seine Zugehörigkeit war mehr ein abstrakt politischer Zustand als wirkliche Lebenserfahrung. In einer Zeit, in der es praktisch für niemanden möglich war, außerhalb des bestehenden religiösen Rahmens zu leben und dort seine Identität zu finden, verließ Spinoza, das Individuum par excellence, die jüdische Gemeinde, ohne jedoch irgendeiner anderen beizutreten. Selbst unter den rationalistischen Philosophen war Spinoza einzigartig bis zur Einsamkeit. Die Folge war, daß er nicht nur vom traditionellen philosophischen Establishment, sondern auch von den kartesischen Neuerern und Revolutionären zurückgewiesen und verachtet wurde.

Zwei Jahrhunderte lag Spinozas Einfluß auf das europäische Denken weitgehend im Dunkeln und Verborgenen. Er blieb in dieser Hinsicht ein Marrane über seinen Tod hinaus. Erst seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts gewann er in Deutschland für Dichter-Philosophen wie Lessing, Goethe und Heine sowie in den Hauptströmungen der nachkantischen Philosophie von Fichte bis Hegel und darüber hinaus an Bedeutung. Heute wird Spinoza wie Descartes, Hume und Kant als Klassiker der modernen Philosophe angesehen und gelesen. Doch trotz seiner Anerkennung blieb er im Grunde marginal; seine Theorien wurden niemals dem engeren philosophischen Kanon zugezählt, und weiterhin übt er auch auf Nichtphilosophen eine große Anziehungskraft aus. Es ist kein Zufall, daß einige der innovativsten und am wenigsten orthodoxen Geister der letzten zweihundert Jahre (Goethe, Marx, Nietzsche, Freud, Einstein und andere) tief verwurzelte Spinozisten gewesen sind. Mit Spinoza verband sie ein gemeinsamer systematischer Kontext:

Immanenz ist der einzige, alles umfassende Horizont des Seins;

ebenso ist sie die einzige Quelle von Werten und Normen;

diese Erkenntnis in sein Leben aufzunehmen ist Auftakt und Vorbedingung gleich welcher Befreiung oder Emanzipation des Menschen.

Die Anerkennung der absoluten Immanenz Gottes und seiner Identität mit der Gesamtheit der Wirklichkeit - das ist Spinozas erste und wichtigste Idee, zugleich ein höchst gewagter und ketzerischer Gedanke, nicht nur für Theologen, Spinozas gewöhnliche Gegner, sondern auch in der Geschichte der Vernunftphilosophie selbst. Unter den großen Philosophen vertrat nur Hegel eineinhalb Jahrhunderte später einen ähnlichen Standpunkt, wobei er versuchte, Spinozas Gedanken in eine kohärentere und seiner Ansicht nach geistigere Perspektive umzuformen. Hegel leugnet nicht nur die Idee der Transzendenz, sondern sieht darüber hinaus das Reich der Immanenz als göttlich an, was der größte Streitpunkt zwischen Hegel und Spinoza bildet. Denn ist der immanente Gott erst einmal als absolute Totalität etabliert, kommt die Frage auf: Wie ist diese Totalität geartet? Ist sie als Substanz oder Geist aufzufassen? Soll man sie als einen absoluten Anfang oder als Resultat verstehen? Hegels Kritik an Spinoza ist dialektisch, denn sie zielt darauf ab, in einem anderen und "höheren" System das Wesentliche der spinozistischen Lehre zu erhalten. Wichtiger noch, für Hegel bildet Spinoza mit seiner Auffassung, das Objekt, das Universum selbst, sei inhärent von der Vernunft strukturiert und beherrscht, den Kulminationspunkt traditioneller, objektorientierter Metaphysik. Hegel nannte diesen Standpunkt "objektive Logik", seine eigene, etwas ungewöhnliche Umbennenung dessen, was Kant als "dogmatische Metaphysik" bezeichnet hatte. Hatte Kant in seinem Vorläufer Christian Wolff den "größten unter allen dogmatischen Philosophen" gesehen, beansprucht Hegel diesen Titel für Spinoza. Es ist das System Spinozas, das in Hegels Wissenschaft der Logik, entsprechend abgewandelt, den ganzen Gang der traditionellen Philosophie zu einem Höhepunkt führt und in der "objektiven Logik" kristallisiert. Für Hegel ist das Absolute weder eine dingähnliche Substanz (wie bei Spinoza) noch ein bloß subjektives "Ich denke" wie, Kant folgend, bei Fichte, sondern umfaßt beide Momente in einer höheren Synthese, die er "Begriff" nennt. Aus Hegels Sicht ist es die dialektische Verbindung von Spinoza und Kant, die seine eigene Synthese möglich macht. Wie Kant die einseitige, dingorientierte Metaphysik Spinozas korrigiert, so verhilft Spinoza mit seinem Begriff der absoluten Totalität Hegel dazu, die Hauptmängel, die er bei Kant sieht, zu beseitigen, besonders dessen radikalen Dualismus und die Ansicht, die menschliche Vernunft sei endlich und von der tatsächlichen Wirklichkeit (dem "Ding an sich") getrennt. Das Ergebnis bei Hegel ist eine idealistische Version des Spinozismus: dialektisch, dynamisch und historisiert.

Auch das linkshegelianische Milieu kennzeichnet eine besondere Affinität zu Spinoza. Sie führten den Menschen von dem, was sie für die abstrakten Höhen des Hegelschen "Geistes" hielten, zu Spinozas "natura" zurück und verkündeten die Einheit von Geist und Materie. Diese wurde für sie zu einem wesentlichen Prinzip, von dem aus manche von ihnen zu sozialistischem Linkshegelianismus gelangten. Attraktiv für die Linkshegelianer war Spinoza zum Teil, weil er in seiner Religionskritik die transzendente Welt als illusorisch brandmarkte. Religionskritik war für sie eine Hauptvoraussetzung für die Emanzipation des Menschen. Die religiösen Vorstellungen waren auf das Reich der Immanenz zurückzuführen und als Verkehrung, als auf dem Kopf stehende und nach außen projizierte Welt zu erklären. Die Linkshegelianer bemühten sich um eine durch Hegelsche Kategorien und Techniken bereicherte Religionskritik, die über Spinozas aus dem Geist der Aufklärung geborene Kritik hinausging. Aber auch Spinozas Pantheismus war für die Linkshegelianer attraktiv, schien dieser doch dem irdischen, diesseitigen Leben und dem Menschen als natürlichem Leben wieder Wert und Bestand zu geben. Die Einheit von Materie und Geist war ein linkshegelianisches Schlagwort, das wohl Spinoza, aber nicht Hegel erfüllte.

Auch Marx bediente sich der Philosophie Spinozas weit mehr, als er zugab. Spinoza war vor allem ein Gegengewicht und Korrektiv zu Hegel und restituierte den Begriff der Natur und des Menschen als konkretes Naturwesen, das sich sonst, so schien es Marx, in die luftigen und quasi religiösen Höhen des Hegelschen "Geistes" verflüchtigte. Marx tat diesen Schritt als ein gelehriger Sohn des "Zeitgeistes" im linkshegelianischen Milieu, in dem er aufwuchs. Zur selben Zeit, als Marx Spinozas Theologisch-Politische Traktate durcharbeitete, übersetzte Feuerbach Spinoza in den Hegelschen Entfremdungsbegriff und aktualisierte ihn gemäß der damaligen deutschen Situation. Damit vollendete Hegel, nach Marxscher Einschätzung, das Werk der Linkshegelianer, das nicht nur theoretisch, sondern auch eine Form des Handelns, eine Art sozialer Praxis war. Das machte den Weg frei für eine noch tiefere und radikalere Verschmelzung von Kritik und Praxis, die in Gang zu setzen, Marx als seine Aufgabe ansehen sollte.

Marx unterscheidet sich jedoch in zwei wichtigen Punkten von Spinoza. Zum einen lehnte er Spinozas Verständnis der Menge als einer unteren Schicht ab, die zur wahren Erlösung unfähig sei und einer Art religiöser Illusion bedürfe, beziehungsweise nur einen niedrigeren Wissensstand vertrage. Bei Marx ist es die Menge selbst, ins Proletariat verwandelt, die der übrigen Menschheit Erlösung bringen soll. Zum zweiten besteht Marx darauf, daß Theorie, um in Praxis übertragen werden zu können, nicht bloß eine zeitlose Wahrheit ausdrücken dürfe (wie bei Spinoza), sondern daß sie den Massen ihre wirkliche Lage, die sie erfahren, zu Bewußtsein bringen müsse, und zwar indem ihre tatsächlichen Bedürfnisse sie zu dieser Einsicht bereit machen. Als Kind des 17. Jahrhunderts und dessen wissenschaftlicher Revolution versteht Spinoza alle Naturkausalität nach dem quasi mechanistischen Modell der Physik, während Marx, Hegel folgend, sozialen Wandel dialektisch sieht, das heißt an Geschichte gebunden und von ihr bestimmt.

Peter Moser