Die Folgen des 11. Septembers

Weitere Stellungnahmen von Philosophen

Slavoj Zizek erinnerte in der Basler Zeitung (20.9.2001) daran, dass die Welt durch die Katastrophenfilme Hollywoods - von "Escape From New York" bis zu "Independence Day" bereits libidinös auf die Katastrophe vorbereitet war: "Das Undenkbare, das geschah, war das Objekt der Phantasie, so dass Amerika in bestimmter Weise das bekommen hat, wovon es träumte, und das war die grösste Überraschung". Durch die Anschläge ist uns bewusst geworden, dass wir in einem isolierten künstlichen Universum leben, das die Vorstellung wachruft, dass irgend ein ominöser Agent uns fortwährend mit totaler Zerstörung droht. Die faktische Wirkung dieser Anschläge sei ist denn nach Zizek auch viel mehr symbolisch als real: "In Afrika sterben jeden Tag mehr Menschen an Aids als alle Opfer des WTC-Einsturzes zusammengenommen, und die Zahl dieser Todesfälle hätte mir relativ geringen finanziellen Mitteln relativ leicht verringert werden können".

Auch Martin Seel (Giessen) kam im Rahmen der Vorlesungsreihe "11. September 2001 - Umstände und Wirkungen" in der Aula der Universität Giessen auf die Hollywood-Filme zu sprechen. Er widersprach aber der vielfach geäusserten Meinung, dass die Fiktion von der Wirklichkeit lediglich nachgeahmt worden sei und zeigte anhand des Filmes "Interdepence Day", dass im Kino Rythmen und Figuren die Gewalt in Ordnung halten: "Der reale Terror ist jedoch mit nackter Plötzlichkeit da". Mit den Anschlägen, so Seel, haben die Terroristen das größte "Media-Event" aller Zeiten geschaffen und dies sei auch geplant gewesen. Prekär war die Lage der Medien: Sie mussten berichten, aber genau damit machten sie sich quasi zu Komplizen der Terroristen.

Wilhelm Vossenkuhl (München) kritisierte im Ethik-Rat der Zeit (vom 15. November) den Chef der New Yorker Polizei, Bernard Kerik, wegen "übler Vermarktung des Grauens", hatte dieser doch kurze Zeit nach dem Anschlag seine Memoiren, die bereits fertig geschrieben waren, um vierzig weitere Seiten, angereichert mit exklusiven Photos von der Unglückstelle, ergänzt und eiligst auf den Markt gebracht. Vossenkuhl gibt, mit Blick auf Wittgenstein, zu bedenken, dass wir die Katastrophe nur in verarbeiteter Form und dann auch nur gedanklich erfassen können.

In einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine (vom 2.10.) sah der Zürcher Philosoph Hermann Lübbe die fortdauernde politische Gegenwart der Religion - allerdings nicht in Afghanistan, sondern in den USA. In dem Konflikt geht es Lübbe zufolge nicht um Religion, sondern einzig um den Terror. Es ist daher nur folgenrichtig, dass sich Amerika mit den ihrerseits vom islamistischen Terror bedrohten Länder verbündet habe. Der Terror der Islamisten fordert also keineswegs allen den Westen heraus, die politischen Konfliktlinien, die er aufbricht, durchkreuze die Welt des Islam selber.

Eine normative Überlegenheit der westlichen liberalen Kultur bei Problemlösungen sah Christoph Menke in einer Podiumsdiskussion der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam. Gleichzeitig werde die westliche Kultur von anderen Völkern als dominant und überheblich wahrgenommen.

Auf die sozialen und zivilisationsdynamischen Ursachen des Fundamentalismus ging der emeritierte Darmstädter Philosophie-Professor Helmut Fleischer in der Kommune (Nr. 11) vom November ein. Zwar sei es richtig hier von Krieg und Kampf zu sprechen, ein Krieg habe ja das Ziel den Gegner kampfunfähig zu machen, aber dass es sich um einen Kampf zur Überwindung des internationalen Terrorismus handle, wie es die internationale Sprachregelung wolle, sei eine mehrfache semantisch-gewaltsame Verschiebung der Kategorien. Denn wo es sich um einen Kampf handle, müssten die Kontrahenten in personalen und kollektiven Termini benannt werden können. Die eigentlichen Gegner sind nicht die "Kompanien von Aktivisten", sondern die "Resonanz-Massen", die ihre traditionalen Lebensrahmen verloren haben und in keine modernen hineingelangen können. Als Modell für eine positive Kriegsüberwindung sieht Fleischer die zwar nicht uneigennützige, aber doch auf gegenseitigen Nutzen abgestellte und auch human rücksichtsbereite Hilfe, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem darniederliegenden Europa zuteil wurde. Die wichtige Frage wäre entsprechend: Wie wäre es möglich, etwas von dieser Art zur Maxime im "Kampf um die Zivilisation" zu machen?

Mit der "unzugänglichen Dimension des Bösen" beschäftigte sich der Fribourger Philosoph Jean-Claude Wolf in der Neuen Luzerner Zeitung (vom 15.9.2001). Terroristen sind für ihn deshalb böse, weil sie zu ihren eigenen Idealen zu wenig Distanz haben. Sie identifizieren sich ausschliesslich mit ihren Idealen nach dem Motto: Die Ideale sind nicht für die Menschen da, sondern die Menschen für die Erfüllung der Ideale. Bei ihnen sind hehre Ideale in falsche Hände geraten. Für den Umgang mit rationalen Terroristen sieht Wolf keine Rezepte und keine perfekten Sicherheitsdispositive. Allerdings: die Welt wird eher an den Übeltaten käuflicher Bösewichte und ihrer Mitläufer zugrunde gehen als an einer kleinen Zahl rationaler Fanatiker.

Annemarie Pieper, pensionierte Basler Philosophie-Professorin, erinnerte in einem Interview mit der Solothurner Zeitung zwei Tage später daran, dass beide Seite vom "Bösen" sprechen. Das zeige, das zwei unterschiedliche Vorstellungen von Gut und Böse aufeinander prallten. Aber wir können nicht anders, als unsere eigenen Maßstäbe, zu denen etwa die Menschenrechte gehören, anlegen. Allerdings sieht sie eine ethische Grundprämisse, die für alle gelte: Man soll niemals ein menschliches Wesen als blosses Mittel missbrauchen. Und genau das hätten die Terroristen gemacht. Annemarie Pieper sprach sich zudem gegen eine Bombardierung aus, die einzige moralisch verantwortbare Reaktion sei, sich auf dem Boden die verantwortlichen Leute zu greifen und sie vor ein ordentliches Gericht zu stellen.

Jede Entwicklung des Konflikts habe zu neuen Argumenten geführt, die sich immer weiter von den ursprünglichen Vorstellungen des Anti-Terror-Kriegs entwickelt hätten, führte der an der Hochschule für Philosophie in München lehrende Jesuit Dominik Finkelde im Neuen Deutschland vom 9. November aus. Aus dem Krieg gegen den Terrorismus sei unter Tolerierung einer humanitären Katastrophe ein Krieg gegen Afghanistan geworden. Der Terrorismus sei unsichtbar, aber die Taliban könne man sehen und greifen. Für den Krieg gegen die Taliban würden jetzt Argumente gefunden, die zuvor für eine Kriegserklärung nie befriedigend gewesen wären.

Ganz anders der amerikanische Philosoph Michael Walzer, einer der Wortführer der amerikanischen Linken, im Tagesspiegel vom 11. November: Aufgrund der ihm zugänglichen Informationen, aufgrund von dem, was wir über den Terroranschlag und die Existenz terroristischer Ausbildungslager wüssten, hält er den Krieg in Afghanistan für gerecht. Das Ziel sei aber nicht, bin Laden vor Gericht zu bringen, sondern die Verhinderung weiterer Terroranschläge. Denn die erste Verantwortung einer Regierung sei es, ihre Bürger zu schützen. Und genau das mache die amerikanische Regierung mit dem Eingreifen in Afghanistan. Im übrigen hält er gar nichts von der sog. "materialistischen" Erklärung des Terrorismus, also dass die tieferen Ursachen des Terrorismus in Armut und Unterdrückung liegen. Er bringt dafür ein Beispiel: die grösste Ausbeutung findet in Zentralamerika statt und genau diese Gegend ist frei von Terrorismus.

Ähnlich wie Walzer argumentierte der konservative Vittorio Hösle im Ethik-Rat der Zeit vom 22. November. Er gab den Grünen vor deren Parteitag den Ratschlag, falls diese prinzipielle Pazifisten seien, sich aus der Politik zurückzuziehen. Denn, so das Argument, moralische Politik habe zentral mit dem Schutz von Unschuldigen zu tun, Pazifisten jedoch seien gegenüber Aggressoren wehrlos. Hösle äusserte den Verdacht, Terrorismus könnte in Zukunft der Normalfall gewaltsamer Konflikte werden und die Politik hat sich seiner Meinung nach darauf einzustellen.

Richard Rorty, zu dieser Zeit gerade auf Besuch in Berlin, antwortete auf die Frage der Berliner Zeitung (24. November) auf die Frage, ob dieser Krieg ein gerechter Krieg sei: "Der Krieg wird jedenfalls nicht geführt, um Territorien oder Märkte zu erobern". Die Bereitschaft zu sagen, das Risiko eines weiteren Anschlages reiche als Grund nicht aus, den Tod afghanischer Zivilisten zu rechtfertigen (und das höre man in Deutschland oft), hat für Rorty etwas mit dem zu tun, was der Spiegel den "guten alten deutschen Anti-Amerikanismus" genannt habe. Diese Haltung macht es einem leicht und man braucht nicht darüber nachzudenken, was man selbst als amerikanischer Präsident tun würde. Allerdings sei seine Haltung zum Krieg zwiespältig: er sei auch eine Bedrohung für die Bürgerrechte in Amerika. Er halte, so Rorty weiter, die Kirchen für eine Gefahr und es wäre langfristig für die Demokratie besser, wenn sie verschwinden würden. Dass sie wie gegenwärtig in den USA eine Renaissance erleben, ist für ihn desaströs. Rorty ist für seine patriotischen Äusserungen in der Presse heftig angegriffen worden. Er habe, schrieb etwa Tobias Peter im Kölner Stadt-Anzeiger vom 28. November, "große Teile der postmodernen Lehre und damit seines eigenen Lebenswerkes..... in den Papierkorb geworfen. Kein Wort mehr von der Gleichheit der Kulturen oder von moralischer Offenheit". Damit sei Rorty von einem Extrem ins andere gefallen: "von der grenzenlosen Toleranz und Beliebigkeit in Engstirnigkeit und Arroganz". In einem am 2. Dezember in einem in der Welt am Sonntag veröffentlichten Interview ging Rorty noch weiter. Auf die Frage: "Sollen die USA nun weitermachen und auch den Irak angreifen?" antwortete er: "Ja, das wird Zeit. Niemand hat verstanden, warum Bush senior im Golfkrieg kurz vor Bagdad Halt gemacht hat". Auch glaubt er nicht, dass Ben Laden in den USA vor Gericht gestellt werde: "Er wird tot aufgefunden, und niemand weiß genau, wie das passiert ist". Und als der Interviewer kritisch nachfragte "Und das soll richtig sei?", gab Rorty zur Antwort: "Was sollte so ein Verfahren bewirken?" Der Interviewer liess nicht locker und meinte, Rorty hätte gezeigt, dass Wahrheit eine Sache der Perspektive sei. Das würde aber auch heißen, dass die radikalen Islamisten auf ihre Weise recht haben. Rorty’s Antwort: "Es ist nicht so, dass Gott auf unserer Seite wäre oder auch nur die Vernunft. Aber die historische Erfahrung, wie man menschliches Leid verhindert, ist es. Liberale Demokratie hat nachweislich viel größere Erfolge als Demokratie..... Je mehr unserer Bücher, Zeitschriften und Fernsehsender wir in diese Länder hineinschmuggel können, desto besser."

Die Anschläge in Amerika, so führte der in Jena lehrende Klaus-Michael Kodalle in der Thüringischen Landeszeitung aus, stellten uns vor die Frage, ob die "Ethik der Politik" nicht das verantwortungsbewusste Töten einschliessen müsse. Er erinnert dazu an Mogadischu, wo es durch einen gewagten Befreiungsakt gelang, die Terroristen zu töten und die Geiseln zu befreien. Die Politik ist für ihn jetzt gefordert und muss sich darauf einstellen, dass es Ausnahme-Situationen gibt, in denen der Politiker ohne Rückendeckung durch das gesetzlich verankerte Recht handeln müssen. Dabei sei es unübersehbar, dass solche Situation in einem hohen Masse die Gefahr schuldhafter Verstrickung der Politik in sich berge.

Für eine Enthysterisierung der Debatte plädierte Peter Sloterdijk in einem groß aufgemachten Essay in der Frankfurter Rundschau vom 17. November: der religiös aufgemachte Banden- oder Sektenterrorismus ist nach ihm seit jeher lediglich eine marginale Erscheinung gewesen. Terrorismus ist auch keine Kampfmethode, weshalb die Rede vom "Kampf gegen den Terrorismus" ein Nonsense-Ausdruck sei. Er hält es für allerhöchste Zeit, von der Semantik des Krieges abzugehen und auf die allein angemessene Sprache der Verbrechensbekämpfung auf umfassenderem Niveau zurückzukommen.

"Was würde Kant zum Krieg in Afghanistan sagen?" begann Volker Gerhardt seinen großangelegten Artikel in der Zeit vom 30. November, um einige Zeit später die Hoffnung auf eine Antwort aus dem prominentesten philosophischen Munde zu dämpfen: "Wer glaubt, er könne aus Kants Schriften mit Bestimmtheit ableiten, was der Autor heute sagen würde, der verkennt nicht nur die Natur politischer Handlungslagen, sondern auch die Reichweite einmal gewonnener Einsichten". Dennoch: Kant bietet uns Anhaltspunkte für eine Entscheidung. So sind die USA nach dem von Kant in seiner Rechslehre aufgenommenen "Kriegsrecht" legitimiert, sich gegen den Terrorangriff mit kriegerischen Mitteln zu wehren. Urheber den Angriffs ist kein Staat, sondern eine Mörderbande. Nach dem Völkerrecht muss den Verbrechern der Prozess gemacht werden. Der Staat, der ihnen Schutz gewährt, ja, mit ihnen paktiert, ist als Miturheber des Angriffs anzusehen. Zudem hatte auch der Sicherheitsrat Afghanistan bereits im Vorfeld aufgefordert, die von Ben Laden ausgehende Aggression zu unterbinden. Nach dem 11. September hatte er auch keine Zweifel an einer Mitschuld Afghanistan. Folglich ist der Krieg gegen das am Angriff wesentlich beteiligte Land legitim. Das Recht im Kriege gebietet schließlich, den politischen Gegner so zu behandeln, dass man mit ihm auch wieder verhandeln kann. Das setzt freilich die Akzeptanz elementarer Rechtsgrundsätze voraus, die bei den Taliban fehlen. Deshalb muss gleichzeitig der Kontakt mit anderen Vertretern des Volkes aufgenommen werden. Zu den Geboten der Klugheit gehört es, wie Kant an anderen Stellen ausführt, sich des größtmöglichen Beistandes zu versichern und Zweck und Mittel mit größter Behutsamkeit abzuwägen. Wobei man nicht vergessen darf, wie groß die Gefahr für den Weltfrieden wäre, würde man jetzt nicht alles daransetzen, den Terrorismus entschieden zu bekämpfen.

In eine ähnliche Stoßrichtung gingen die Argumente, die Bernhard-Henry Lévy in einem Interview mit dem Spiegel vom 3. Dezember vorbrachte: die Amerikaner bekämpfen mit ihren Eingreifen in Afghanistan nicht nur den Terrorismus, sondern befreien auch Afghanistan. Dieses werde "von einem der schlimmsten Herrschaftssysteme des Planeten erlöst". Lévy weiss auch, woher der von Rorty kritisierte Anti-Amerikanismus der europäischen Intellektuellen kommt: "Der Schmelztiegel, die Vermischung der Kulturen ist ihnen unheimlich. Und im Angesicht der amerikanischen Supermacht schlägt dieses alte Misstrauen in Anprangerung amerikanischer Arroganz um..... Heidegger, aber auch französische Ideologen... hielten Amerika für eine ontologische Katastrophe. Diese leidenschaftliche metaphysische Ablehnung, die im Herzen der europäischen Kultur wuchert, bricht sich auch heute bei jeder Gelegenheit noch Bahn".

Slavoj Zizek entsetzte sich in der Zeit vom 6. Dezember über in Amerika vorgebrachte Empfehlungen, die Folter könnte in diesem Fall, "zum Überleben", durchaus gerechtfertigt sein. Die Obszönität derartiger Aussagen ist für ihn offensichtlich, aber warum werde gerade der Anschlag auf das World Trade Center zur Rechtfertigung benutzt? Es hat doch, so Zizek, die ganze Zeit überall auf der Welt noch entsetzlichere Verbrechen gegeben. Schlimm sind für ihn auch die Argumente, die für die Einführung der Folter angeführt werden. So führte der Staranwalt Alan Dershowitz an, die Folter würde die Rechte des Gefangenen nicht mindern, weil die erlangten Informationen im Prozess nicht gegen ihn verwendet werden. Nach dieser Logik, so Zizek, könnte man auch das Foltern von Kriegsgefangenen legalisieren. Denn sie könnten immerhin über Informationen verfügen, die Hunderten von Soldaten das Leben retten können. Der Gedanke, man könnte die Folter auf einem "vertretbaren Maße" halten, wenn der Geist aus der Flasche gelassen ist, sei eine liberale Illusion - "und zwar die schlimmste".

Interessant sei, gab der Wiener Philosoph Paul Liessmann zwei Tage vor Weihnachten in der Berliner Tageszeitung zu bedenken, dass es keiner rhetorischen Kunstgriffe bedurfte, um diesen Krieg zu rechtfertigen, keiner besonderen Moral und keiner fortgeschrittenen globalen Ethik - und dies, obwohl die stärkste Militärmacht der Welt gegen das ärmste Land dieser Erde zu Felde zog. Aber ob es ein gerechter Krieg gewesen sei? Wer so frage, drohe hinter Hugo Grotius zurückzufallen und eine Retheologisierung des Krieges zu betreiben - und sei es im Namen der Säkularisierung. Denn gerechte Kriege müssen immer mit der Dichotomie von Gut und Böse operieren. Aber man kann nicht gegen das Böse, gegen den Terror, sondern nur gegen bestimmte Terroristen, Institutionen usw. Krieg führen. Unter der Hand ist der "Krieg gegen den Terror" für Liessmann zum wohlfeilen Mäntelchen für kühle Interessenpolitik mutiert. Und wer gegen das Böse Krieg führt, muss nicht zimperlich sein, Verletzungen der Menschenrechte und Kollateralschäden sind in der Formel schon inbegriffen.

In Frankreich provozierte Jean Baudrillard in Le Monde auf zwei Doppelseiten mit der These, dass der vierte Weltkrieg nur noch als Austausch von Immoralitäten stattfinden könne. Er beschrieb den Terrorismus als Reaktion auf die "unmoralische Globalisierung", die von einer einzigen Supermacht vorangetrieben werde. Die Folge sei die Errichtung einer weltweiten Zirkulation, die durch eine einzige Macht geleitet wird, was alle Singularitäten mit ihrem Tod bezahlen müssten. Doch wer immer mächtiger werde, werde zum Komplizen seiner eigenen Zerstörung und die zahlreichen Katastrophenfilme zeigten, wie sehr sich dies bereits in den bilderträchtigen Phantasmen zu erkennen gegeben habe. Der Zusammenbruch der Twin Towers wurde bei ihm zu einem "symbolischen Ereignis", ja zum "absoluten Ereignis" und gar zur "Mutter aller Ereignisse", das alle nie stattgefundenen Ereignisse in sich konzentriert. Nach ihm existiert eine Allergie gegen jede definitive Ordnung und diese Allergie ist universell und im World Trade Center ist diese Ordnung verkörpert.

Autor

Peter Moser, Journalist; Mitherausgeber von "Information Philosophie im Internet"