PhilosophiePhilosophie

STUDIUM

Deleuze lesen

Deleuze lesen
Hinweise von Marc Rölli



Zur Rezeption

Wenn der Schein nicht trügt, so befinden wir uns heute in einer Zeit der allgemeinen Her-meneutik: „Alles ist verständlich“, so lautet das Motto. Kämpferisch geführte Diskussionen sind selten geworden, die großen Frontlinien existieren kaum mehr, niemand möchte der „Ideologie“ bezichtigt werden. Das hat unter anderem zur Folge, dass analytische PhilosophInnen heute Deleuze lesen können und sich DifferenzphilosophInnen mit mo-derner Sprachphilosophie und ihren Wurzeln bei Wittgenstein und Austin beschäftigen: in beiden Richtungen haben sich die Scheuklappen gelockert, hier und da sind sie ganz verschwunden. Selbst die (lange Jahre kaum beachteten) philosophiehistorischen Arbeiten von Deleuze werden aktuell breit rezipiert, und dies zunehmend in allen hier relevanten akademisch geprägten Forschungsfeldern, nicht nur im Kontext Nietzsche.

Damit wird behauptet, dass es einmal anders war. Der „Aufklärungsstreit“ zwischen Frankfurt und Paris wurde als solcher eigentlich nur in Frankfurt inszeniert und ausge-fochten. Er führte dazu, überpointiert gesagt, dass sich viele Studierende an deutschen Universitäten vor die Wahl gestellt sahen, sich entweder der „modernen“ oder der „postmodernen“ Fraktion anzuschließen. Wird danach gefragt, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze (1925-1995) ge-genwärtig rezipiert wird, so steht die Antwort im Schatten dieser mehr oder weniger vergangenen Probleme. Auch Deleuze wurde der so genannten „neueren französischen Philosophie“ zugerechnet und mitsamt einer Handvoll „Neostrukturalisten“ als Vertreter der „Gegenaufklärung“ kritisiert bzw. vielmehr beschimpft.

Seinen eigentlichen Austragungsort hatte der „Aufklärungsstreit“ allerdings wohl doch nur im Feuilleton. In der Chronologie der Rezeption philosophischer Arbeiten von Deleuze markiert er eine Übergangsphase. Bis weit in die 90er Jahre hinein dominierten außeraka-demische Lektüren vor allem des berühmt-berüchtigten Anti-Ödipus (1972) die Rezeption, ein von Deleuze gemeinsam mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari geschriebenes Buch. Neben die revolutionär gestimmten politischen und anti-psychiatrischen (später in Subkulturen abgesunkenen) Anknüpfungsversuche, verlegte sich die Rezeption dann auf den Bereich der Ästhetik. Die vielfältigen Arbeiten von Deleuze zur Literatur und zum Film initiierten Projekte im kunst- und kulturwissenschaftlichen Betrieb.

Im Unterschied zur deutschsprachigen Philo-sophie, die sich erst am Leitfaden der Ästhe-tik zu den eigentlich philosophischen Texten von Deleuze hangelte und jahrzehntelang das Damoklesschwert des „rauschhaften“ Anti-Ödipus im Nacken spürte, verlief die französische und anglo-amerikanische Rezeption weniger sprunghaft, weniger einseitig und weniger getrieben von einem generellen, auf „Irrationalismus“ lautenden Verdachtsmoment. Das hat dazu geführt, dass in den letzten zehn bis zwanzig Jahren zahlreiche englischsprachige, aber auch französische Arbeiten über Deleuzes Philosophie erschienen sind. Vor allem in den USA existiert ein regelrechter „Boom“ in Sachen Deleuze – auf diversen Ebenen: Kongresse, Internetseiten, international agierende Netzwerke, Sammelbände etc.

Inzwischen macht sich in der Gegenwartsphilosophie auch hierzulande das Gewicht von Deleuze deutlich bemerkbar. Dabei zeigt sich, dass anderswo ebenfalls diverse Rezep-tionshindernisse existieren. Im anglo-amerikanischen Raum beschäftigen sich zumeist nicht die philosophischen, sondern eher die literatur- und kulturwissenschaftlichen Fakultäten mit „kontinentaler“, d. h. „nicht-analytischer“ Philosophie. Das bedeutet für die Auseinandersetzung mit der Philosophie von Deleuze, dass in vielen Arbeiten ein der Sache äußerlich bleibendes Einführungsniveau nicht überschritten wird, da die entsprechenden Kenntnisse der philosophischen Klassiker, auf die sich Deleuze permanent bezieht, nicht sehr verwurzelt sind. In Frankreich leidet die Rezeption an der Präsenz der direkten Schüler und Anhänger, die nur zu oft dem Meister huldigen oder aber über recht engstirnige Kritiken nicht hinaus kommen. (Hier wie dort bestätigen Ausnahmen die Regel.)

Selbst in einer mehr als fragwürdigen Sammelrezension zu Deleuze in der Philosophi-schen Rundschau (3/2005) wurde der neueren Rezeption hierzulande gönnerhaft bescheinigt, den Anschluss an die internationale Deleuze-Forschung hergestellt zu haben. Dem „strengen Kritiker“ sei es gedankt!

Differenzphilosophie

Von Anfang an hat sich die Philosophie von Deleuze um den Gedanken der Differenz herum konstituiert, und hier liegen ihre wesentlichen, aufgrund ihrer Radikalität häufig provozierenden Einsichten. Will man daher ihre Relevanz in den gegenwärtig geführten philosophischen Diskussionen herausstellen, so wird man sich erstens auf die von Deleuze entwickelte Differenztheorie beziehen. Ihre systematische Ausführung findet sich in dem Buch Differenz und Wiederholung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Unterschied zu Derrida, Lyotard oder Levinas einen positiven Begriff der Differenz entwickelt. Das hat Konsequenzen im Feld der politischen Philosophie, im Kontext der Debatten um sexuelle oder kulturanthropologische Differenzen (Postcolonial-Studies, Feminismus) sowie in der Metaphysikkritik. Mit Blick auf die systematischen Nietzschelektüren kann man hier etwa von einer Ontologie ohne Me-taphysik, von Immanenz ohne Transzendenz sprechen. Dabei zeigt sich, dass Deleuze an einem starken Begriff der Philosophie festhält, den er gegen Übergriffe aus den Sozial- und Naturwissenschaften profiliert. Es gelingt ihm, mittels einer neuartigen Theorie philosophischer Begriffe zwischen dialektischen und empiristischen Vorstellungen eine Brücke zu bauen. Der in diesem (begriffstheoretischen) Zusammenhang in der Philosophie herrschende „Schlaf der Vernunft“ wird nachhaltig gestört. Das hat Auswirkungen auf methodologische Fragen der Begriffsgeschichte und, allgemeiner, der Philosophiegeschichte überhaupt.

Empirismus

Die von Deleuze entwickelte Differenzphilosophie ist im Kern ein radikaler Empirismus. Anfang des Philosophierens ist eine nicht begrifflich vermittelte Erfahrung, der flux of experience als Prozess des Werdens. Dieses „Außen“ wird philosophisch als Differenz auf den Begriff gebracht, ohne es doch im selben Atemzug zu tilgen oder aufzuheben im Sinne eines „identifizierenden Denkens“ (in der Tradition der idealistischen Aufklärungskritik). Hiermit schafft Deleuze eine Verbindungslinie zwischen einer „alten“ Theorietradition, die häufig nur noch als Wissenschaftstheorie und logischer Empirismus firmiert, und einem „neuen“, auf strukturalistischen und phänomenologischen Verfahren aufbauenden Immanenzdenken. Die Aktualität von Deleuze zeigt sich hier zum einen darin, bislang unentdecktes Potential überlieferter Positionen (z. B. des Humeschen Empirismus) aufzuschlüsseln, zum anderen darin, Phänomenologie und Strukturalismus mit einem empiristisches Ansatz her-auszufordern und weiterzuentwickeln. In diesem Zusammenhang bewegen sich viele der neueren Forschungen zu Deleuze. Die Ausarbeitung einer Zeitphilosophie steht dabei im Mittelpunkt. Zwischen Hume und Deleuze erscheinen eine ganze Reihe von philosophischen Vermittlungsgestalten, die sich auf produktive Weise an die skeptische Methode des klassischen Empirismus anschließen: einerseits der klassische Pragmatismus, andererseits Bergson und Nietzsche, aber auch diverse Spielarten des Postkantianismus und Neoleibnizianismus. So zeigt sich, dass die mit Reid, Kant und Hegel einsetzende Disqualifizierung des Empirismus als eine Denkrichtung, die sich selbst (im Sinne eines „ruinösen“ Skeptizismus) aufhebt, äußerst produktive Entwicklungen in der Philoso-phie, v. a. im Laufe des 19. Jahrhunderts, verdunkelt und ignoriert hat.

Mikropolitik

Ein weiteres aktuell lebendiges Forschungs-feld konstituiert sich um die Ansätze zu einer politischen Philosophie, die sich vor allem in den mit Félix Guattari publizierten Arbeiten der 70er Jahre finden lassen. In negativer Hinsicht steht die Abgrenzung von psycho-analytischen und marxistischen Positionen im Mittelpunkt des Interesses, in positiver Hinsicht die Idee von einem immanent kon-struierten „Begehren“ oder „Leben“, das sich in sog. „kollektiven Gefügen“ (assemblage, agencement) oder „Maschinen“ gesellschaft-lich und historisch konkretisiert und differenziert. Einschlägig ist hier u. a. der Begriff des „Rhizom“, der auf komplexe Verflechtungen und Strukturen verweist, die hierarchischen Ordnungsmodellen in sozialen Kontexten etc. zugrunde liegen. Das Konzept des kollektiven Gefüges ist in unterschiedlichsten Bereichen anschlussfähig: die in ihm liegenden begrifflichen Möglichkeiten, komplexe Sachverhalte und Vermittlungen zu denken, haben z. B. in der Wissenschaftsgeschichte Bruno Latours oder in der „politischen Phänomenologie“ Donna Haraways ih-re Spuren hinterlassen. „Mikropolitik“ macht es möglich, Prozesse und Bewegungen un-terhalb der Oberfläche der großen Institutionen positiv zu fassen: sie bietet sich daher an, die von Foucault entwickelte Analytik der Macht so zu ergänzen, dass nicht nur die Phänomene der „Machtwirkungen“ (Disziplinierung, Kontrolle, Normalisierung etc.) sondern auch die Phänomene der „Widerstandslinien“ in den Blick kommen. Diese sind dann allerdings nicht mehr nur als das Andere oder Negative der Macht, sondern positiv in ihren eigentümlichen Prozessstrukturen zu begreifen.

Ästhetik

Für die philosophische Auseinandersetzung mit der Kunst liefert Deleuze neue Impulse mit seiner metaphysikkritischen Position, die die „ästhetische Erfahrung“ aus dem Geraune eines Mystisch-Eigentlichen heraushält. Mit seinem Bekenntnis zu den extremen „Perzepten“ und „Affekten“, die nicht mehr länger unter der Form des Gemeinsinns funktionieren, hält er einerseits das Pathos der großen, echten Kunst aufrecht, verpflichtet aber andererseits die in ihr wirksamen Erfahrungsformen auf einen durch und durch profanen, unmittelbar gesellschaftlichen Kontext. Keineswegs bezieht er das Wesen der Kunst auf eine „Idee“ des Absoluten, die eine religionsgeschichtliche Kontinuität zum Ausdruck bringt. Ebenso wenig wird die Kunst philosophisch instrumentalisiert, indem sie zum Statthalter einer begrifflich unerreichbaren Wahrheit (z. B. authentische Gefühle, Stimmungen, Artikulationen des beschädigten Lebens, des Seinsgeschicks etc.) gemacht wird. Vielmehr werden die Bereiche der Kunst und der Philosophie „systematisch“ getrennt, so dass ihre im Prinzip jeweils eigentümliche Tätigkeit, aber auch ihre faktischen Interferenzen herausgestellt werden können. Schwerpunkte seiner Auseinandersetzung mit Kunst liegen im Kino, dann aber auch in der modernen Malerei – es gibt eine Monographie zu Francis Bacon – und in der modernen Literatur: Carroll, Proust, Kafka, Beckett u. v. m.

Die wichtigsten Texte

Will man die Philosophie von Deleuze von ihren Grundlagen her rekonstruieren, so kommt man nicht darum herum, sein einerseits systematischstes und andererseits schwierigstes Buch zu studieren: Différence et Répétition erscheint 1968 in Paris, Differenz und Wiederholung erscheint 1991 in München: die gelungene Übersetzung ins Deutsche von Joseph Vogl. In diesem Buch führt Deleuze die Ergebnisse seiner philosophischen Arbeiten der 60er Jahre zusammen, indem er konstruktiv und eigenständig seine Idee der Philosophie – unter der Bezeichnung: „Transzendentaler Empirismus“ – zur Ausführung bringt. Das Buch hat sieben Teile: fünf Kapitel, eine Einleitung, die das Programm von Differenz und Wiederholung umreißt, sowie einen Schluss, der eine komprimierte Darstellung des Ganzen enthält. Das erste Kapitel situiert den Begriff der Differenz in der Geschichte der Philosophie (v. a. der Ontologie) von Platon bis Heidegger, mit den Schwerpunkten Aristoteles, Spinoza und Hegel. Das zweite Kapitel behandelt die Philosophie der Wiederholung in Anlehnung an Kierkegaard, Nietzsche, Bergson, Phänomenologie (Husserl und Heidegger) und Psychoanalyse (Freud und Lacan). Während das erste Kapitel noch stärker historisch-kritisch ausgerichtet ist, wird im zweiten – im Kontext einer dreistufigen Entfaltung der Zeittheorie – die eigene Position deutlicher herausgestellt. Das dritte Kapitel gönnt der Leserin und dem Leser eine Atempause: in ihm wird im Rückgriff auf Nietzsche eine generelle Kritik am „moralischen Bild des Denkens“ geübt, die sich strategisch auf die bereits 1963 von Deleuze vorgelegten Kant-Interpretationen stützen kann. Hier wird gezeigt, wie sich der Begriff des Transzendentalen verändern muss, wenn er mit der ungeschminkten, rohen oder auch erhabenen (d. h. nicht a priori auf eine „harmonische“ und „wohlgeformte“, in der Einheit des Selbst-bewusstseins verankerte) Erfahrung vereinbar bleiben will. Dieses Kapitel eignet sich besonders gut zum Einstieg in die Lektüre. Das vierte Kapitel verfährt schematischer und begriffslastiger, indem es einen neuartigen (genetischen, nicht formalistisch starren) Strukturalismus in die Wege leitet. Hier präsentiert sich Deleuze als abstrakter Denker, der sich nicht scheut, mit vielen neu konzipierten, z. T. manieriert klingenden Begriffen zu hantieren, um ein differenztheoretisch begründetes Strukturdenken zu entwerfen – in steter Diskussion mit den Heroen der „strukturalistischen Bewegung“: Saussure, Lévi-Strauss, Barthes, Lacan, Althusser u. a. Hier lassen sich Parallelen zu Derrida beobachten, allerdings distanziert sich Deleuze entschiedener von der Metaphysiktradition, der er nicht länger (und sei es ex negativo) anhängen will. Wiederum im Rekurs auf Kant, dieses Mal mit Bezug auf die transzendentale Dialektik, interpretiert er die transzendentale Idee als problematische oder „virtuelle“ Struktur. Ihre raum-zeitlichen Aktualisierungsformen und -dynamiken werden dann im fünften Kapitel verhandelt. Hier schlägt Deleuze einen Bogen zurück zum zweiten Kapitel und dem dort entfalteten Zeit- und Wiederholungsbegriff. Im Zuge einer philo-sophischen Auseinandersetzung mit der Energetik und Thermodynamik wird an zentraler Stelle der Begriff der Intensität eingeführt, der einen implikativen Seinsmodus konkretisiert, der stets hinter den extensiv qualifizierten Resultaten der Aktualisierungsvorgänge zurückbleibt. Die Referenzautoren dieses Kapitels sind vor allem Leibniz, Kant, Bergson und Nietzsche.

Neben die Texte, die sich explizit mit der theoretischen Ausarbeitung einer neuen Dif-ferenzphilosophie beschäftigen (auch die Logik des Sinns (1969) und Was ist Philosophie? (1991) wären hier zu nennen) treten die philosophiehistorischen Arbeiten. Diese sind allesamt auf eigenwillige Weise der (unzeitgemäßen) Aktualität ihres Gegenstands verpflichtet, halten die Begriffe von Philosophie und Geschichte in Bewegung und etablieren einen durchaus neuartigen Stil der historischen Auseinandersetzung. Zum einen bilden diese Arbeiten daher einen integralen Teil des Deleuzeschen Philosophierens, zum anderen wird durch die vom Gängigen abweichende Perspektive bei den behandelten Autoren Neues sichtbar und so die Forschungslandschaft stimuliert. Dieses „innovative Potential“ hat man bei den Mono-graphien über Nietzsche (1962), Bergson (1966) und Foucault (1986) bereits vielfach anerkannt. Anders liegen die Dinge noch bei den als „Einführungen“ geltenden Büchern über Hume (1953) und Kant (1963), wie auch bei den eher schwierigen, aber mit großer Kunst und auf hohem Niveau geschrie-benen Studien über Spinoza (1968) und Leibniz (1988). Zum Studium der beiden zuletzt genannten Texte sind entsprechende philosophiehistorische Kenntnisse und ein Wissen um das Selbstverständnis des Deleu-zeschen Denkens kaum entbehrlich.

Den „soliden“ Monographien hat Deleuze auch populärere Bücher zu Nietzsche (1965) und Spinoza (1980) an die Seite gestellt. Sein durchgängig politisch motivierter, popu-larphilosophischer Zug bricht sich dann vor allem in den Kooperationen mit Guattari in den 70er Jahren Bahn. Bezogen aufs „gesell-schaftliche Milieu“ zeigt sich die Differenz-philosophie im Anti-Ödipus (1972) als eine Philosophie des immanenten Begehrens, der sog. „Wunschmaschinen“. In revolutionärer Laune und provokativer Stimmung setzen sich die Autoren vom „Freudo-Marxismus“ der Entfremdungs- und Unterdrückungsdis-kurse ab. Das Buch wird ein Verkaufsschla-ger. Als erste Übersetzung ins Deutsche (1974) definiert der Anti-Ödipus einen („anarchistischen“) Jargon, der in der Folgezeit an allen später übersetzten Texten von Deleuze haftet. Auch das hat den Zugang zu den akademischen Seminaren erschwert. Das zweite große Buch von Guattari und Deleuze erscheint 1980 unter dem Titel Mille Plateaux (Tausend Plateaus). In ihm findet sich eine weitere Ausarbeitung der Mikropolitik, Konzeption und Durchführung eines „transdisziplinären“ Verfahrens, die Darlegung einer im Zeichen des Pragmatismus stehenden Kritik des Strukturalismus u. a. Im Rückblick erscheinen Deleuze nunmehr sei-ne Arbeiten in den 60er Jahren allzu theoretisch und praxisfern: die Rede von den „Dif-ferenzen“ entflieht vollends dem ontologischen Bezugsrahmen und konkretisiert sich in einem gleichursprünglich gesellschaftlichen Unbewussten. Die „kulturwissenschaftlichen“, politischen, aber auch viele der auf Kunst bezogenen Herangehensweisen der Deleuze-Rezeption kaprizieren sich auf diese Texte.

Zuletzt sind die Bücher zu nennen, die sich hauptsächlich auf die Künste beziehen. Be-reits 1964 erscheint eine Studie zu Marcel Proust, die die zeitphilosophischen, auf eine differentielle Theorie der Vermögen ausgerichteten Überlegungen weiter vertieft. Die Arbeit über Sacher-Masoch (1967) und auch die Logik des Sinns (1969) beschäftigen sich intensiv mit dem Verhältnis der Philosophie zu Literatur und Psychoanalyse. Exemplarisch entwickelt Deleuze in der Logik des Sinns anhand der Texte Lewis Carrolls eine strukturalistische Literaturtheorie. In den 70er Jahren ist die Auseinandersetzung mit moderner Literatur allgegenwärtig, hervor-zuheben ist vielleicht das mit Guattari verfasste Buch zu Kafka (1975). Die Verschiebung hin zu einer deutlicher politischen Ästhetik lässt sich hier mit Händen greifen.

Die erste größere Arbeit, die Deleuze nach zehn Jahren gemeinsamer schriftstellerischer Tätigkeit mit Guattari 1981 publiziert, widmet sich Francis Bacon und der (neueren) Geschichte der Malerei. Verbindungen zur französischen Phänomenologie der Kunst (Dufrenne, Merleau-Ponty) werden hergestellt. Das große, zweibändige Werk zum Kino, das Bewegungs-Bild (1983) und das Zeit-Bild (1985), ist das Resultat einer lebenslangen Leidenschaft für den Film: in ihm entwickelt Deleuze seine Philosophie der Kunst auf den höchsten Stand. Dabei adaptiert er semiotische Theoreme (Peirce) und verbindet die Interpretation des Einzelwerks mit einer Geschichte des Mediums.

Aktuelle Diskussionen

Nachdem die Diskussionen um die Rationali-tät des modernen Differenzdenkens, aber auch die Auseinandersetzungen um Strukturalismus und Psychoanalyse abgeklungen sind, und die erste Überraschung, die die Kinostudien in kunst- und medienwissenschaftlichen Bereichen evoziert haben, auch vorbei ist, konzentrieren sich die Debatten gegenwärtig primär auf die politische Philosophie bzw. die Theorie des Kapitalismus von Deleuze und Guattari. Einigen Staub haben Michael Hardt und Toni Negri mit ihrem Buch Empire aufgewirbelt, das für Postmarxisten Neuartige ihrer Konstruktionen entleihen sie vielfach den Arbeiten von Deleuze und Guattari. Aus Tausend Plateaus übernehmen und vereinfachen sie z. B. die Entgegensetzung von Staatsapparat (als imperialer Herrschaftsform) und Kriegsmaschine (multitude). Gegen die Einschränkung von Deleuze auf Deleuze-Guattari spricht sich dagegen neuerdings Slavoj Žižek in seinem Buch Körperlose Organe aus. Dabei bedient er sich des bekannten Verfahrens, aus einem Verfasser zwei zu machen, d. i. einen „früheren“ und einen „späteren“ Deleuze. Der spätere wendet sich eindeutiger von Lacan ab, was für Žižek natürlich Schwierigkeiten aufwirft. Dabei kann er sich auf die viel diskutierten Interpretationen von Alain Badiou berufen, der in der Ontologie von Deleuze ein generelles Problem festgestellt haben will: einen Verlust von Differenzen angesichts der Hypostasierung der Einen Differenz (als „univokes“ Seinsprinzip). Anders gelagert ist die sich differenzierter auf Deleuze beziehende Kontroverse zwischen Paul Patton und Philippe Mengue, die sich um die Frage dreht, ob und wie die Philosophie von Deleuze (und Guattari) als politische produktiv gemacht werden kann. Während Patton das Konzept des Minoritär-Werdens als politisches Konzept begreift, stellt Mengue den „radikalen“ Deleuze heraus, der nicht innerhalb eines liberalen Demokratieverständnisses verortet werden kann.

Generell kann man aber sagen, dass sich die Deleuze-Rezeption in ihren aktuellen For-schungen und Diskussionen in einer „Orientierungsphase“ befindet: in den letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten entstanden, die Deleuze philosophiehistorisch zu situieren suchen. Seine Bezüge zu Kant und Hegel, zur Kritik und zur Dialektik, zu Phänomenologie und Strukturalismus, zu Lacan und Foucault, zu Nietzsche und Heidegger, zu Empirismus, Pragmatismus und Transzendentalphilosophie, zur Tradition der philosophischen Ästhetik: in allen möglichen und unmöglichen Bereichen wird derzeit geprüft, welche Konsequenzen sich aus der von Deleuze praktizierten Umwandlung des Philosophierens ziehen lassen.

LITERATURHINWEISE

Textausgaben

Sämtliche Texte von Deleuze liegen inzwi-schen in zumeist überzeugenden Über¬setzungen vor. Die kleinen, z. T. verstreut publizierten Aufsätze, wurden von David Lapoujade in zwei Bänden gesammelt und für die deutschsprachige Ausgabe von Eva Moldenhauer neu übersetzt:

Die einsame Insel. Texte und Gespräche 1953-1974. 438 S., Ln., € 34.90, 2003.

Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995. 384 S., Ln., € 32.—, 2005, beide Suhrkamp, Frankfurt.

Hiermit sind die alten, im Merve-Verlag er-schienenen, teils recht fragwürdigen Über-setzungen überholt.

Weitere lieferbare Texte (Auswahl):

Das Bewegungs-Bild. Kino 1, übersetzt vvon0 U. Christians u. U. Bokelmann. 332 S., kt., € 13.--, stw 1288, 3. Auflage 2002, Suhrkamp, Frankurt.

Das Zeit-Bild. Kino 2 (frz. 1985), übers. v. K. Englert. Frankfurt 1997

David Hume, übers. v. P. Geble u. M. Wein-mann. 194 S., Ln., € 12.90, 1997, Campurs, Frankfurt.

Die Falte. Leibniz und der Barock. Übersetzt von U. J. Schneider. 240 S., kt., € 10.—, stw 1484, 3. Auflage 2006, Suhrkamp, Frankfurt.

Differenz und Wiederholung, übersetzt von Jo-seph Vogl. 408 S., kt., € 35.90, 2., korrigierte Auflage 1997, Fink, München.

Foucault. Übersetzt v. H. Kocyba. 189 S., kt., € 10.—, stw 1023, 2001, Suhrkamp, Frankfurt.

Francis Bacon - Logik der Sensation. 2 Bde (frz. 1984), übers. v. J. Vogl. München 1995

Henri Bergson zur Einführung. Übersetzt von M. Weinmann. 176 S., kt., € 12.50, 3. verbesser-te Auflage 2001, zur Einführung 236, Junius, Hamburg.

Kants kritische Philosophie. Übersetzt von M. Köller. 160 S., kt., € 9.50, Internationaler Merve Diskurs 153, 1990, Merve, Berlin.

Kritik und Klinik. Übersetzt von Joseph Vogl. 205 S., kt., € 10.—, Edition Suhrkamp 1919, 2000, Suhrkamp, Frankfurt.

Logik des Sinns. Übersetzt von Bernhard Dieckmann. 400 S., kt., € 14.50, 2003, Edition Suhrkamp 1707, 4. Auflage 2003, Suhrkamp. Frankfurt.

Nietzsche. Ein Lesebuch. Übersetzt von Ronald Voullié. 128 S., kt., € 7.50, Internationaler Mer-ve Diskus 84, 1979 Merve, Berlin.

Nietzsche und die Philosophie. Übersetzt von Bernhard Schwibs. Kt., € 14.50, 2002, Europäi-sche Verlagsanstalt, Hamburg.

Proust und die Zeichen. Übers. von H. Beese. 176 S., kt., € 10.50, Internationaler Merve Dis-kurs 170, 1993, Merve, Berlin.

Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Übersetzt von U.J. Schneider. 316 S., € 35.90, 1993, W. Fink, München.

Spinoza. Praktische Philosophie. Übers. v. H. Linden. 176 S., kt., € 10.50, Internationaler Merve Diskurs 139, 1988, Merve, Berlin.

Gemeinsam mit Félix Guattari:

Anti-Ödipus. Übersetzt v. Bernd Schwibs.
592 S., kt., € 15.—, stw 224, 9. Auflage 2000, Suhrkamp, Frankfurt.

Kafka. Für eine kleine Literatur. Übersetzt von B. Kroeber. 144 S., kt., Edition Suhrkamp 807, 6. Auflage 2004, Suhrkamp, Frankfurt.

Tausend Plateaus. Übersetz von G. Ricke u. R. Voullié. 716 S., kt., € 40.—, 3. Auflage 1997, Merve, Berlin.

Was ist Philosophie? Übersetzt von B. Schwibs u. J. Vogl. 272 S., kt., €10.—, 2. Auflage 2001, stw 1483, Suhrkamp, Frankfurt.


Deleuze im Internet

Im Netz findet man zahlreiche von Deleuze in Paris (Vincennes, St. Denis) gehaltene Vorle-sungen, eine umfangreiche Bibliographie (vgl. www.webdeleuze.com), Texte von und über De-leuze und Guattari (vgl. www.uta.edu/english/ apt/d&g/d&gweb.html;www.langlab.wayne.edu/CStivale/D-G/index.html), sowie Auszüge aus dem Video „L’Abécedaire de Gilles Deleuze“ (www.agitkom.net/index.php3?page=deleuze.php).
Murphy, Timothy S.: Deleuze – Bibliographie. www.webdeleuze.com

Einführungen

Von den zahlreichen Einführungen empfehle ich zwei auf Deutsch geschriebene: zum einen die schon etwas ältere und bewährte Arbeit

Balke, Friedrich: Gilles Deleuze 185 S., kt., € 13.90, 2998 Campus Einführungen, Campus, Frankfurt

zum anderen der erst kürzlich erschienene Band

Ott, Michaela: Gilles Deleuze, 160 S., kt., € 11.50, 2005 zur Einführung 303, Junius, Ham-burg

Weitere Einführungsliteratur und Bibliographien

Badiou, Alain: Deleuze. 'Das Geschrei des Seins', übers. v. Gernot Kamecke. Zürich, Berlin 2003
Bogue, Ronald: Deleuze and Guattari. London 1989
Parr, Adria: The Deleuze Dictionary. Edinburgh 2005
Rajchman, John: The Deleuze Connections. Cambridge 2000
Stivale, Charles J.: Gilles Deleuze: Key Con-cepts. Chesham 2005
Williams, James: Gilles Deleuze’s Difference and Repetition: A Critical Introduction and Gui-de. Edinburgh 2004

Beaubatie, Yannick (Hg.): Tombeau de Gilles Deleuze. Paris 2000 (enthält eine ausführliche Bibliographie)
Forschungsliteratur

Boundas, Constantin V.: Deleuze and Philo-sophy. Edinburgh 2006
Patton, Paul: Deleuze and the Political. London, New York 2000
Pearson, Keith Ansell (Hg.): Deleuze and Philo-sophy. The Difference Engineer. London, New York 1997
Schaub, Mirjam: Gilles Deleuze im Kino. München 2003
Smith, Daniel W.: Gilles Deleuze and the Phi-losophy of Difference. Chicago 1997

UNSER AUTOR

Marc Rölli ist Assistent am Seminar für Phi-losophie an der Universität Darmstadt. Von ihm ist zum Thema erschienenen:

Gilles Deleuze. Philosophie des transzenden-talen Empirismus. 441 S., kt., € 26.—, 2003, Turia & Kant, Wien.

(Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Berg-son bis Deleuze. 464 S., kt., € 66.—, 2004, Wilhelm Fink Verlag, München.

Krause, Ralf und Rölli, Marc: „Politik auf Abwegen. Eine Einführung in die Mikropoli-tik von Gilles Deleuze, in: Andreas Hetzel et al. (Hg.): Die Rückkehr des Politischen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004 Darmstadt 2004, S. 257-292