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Kant-Studien 2006-2010

KANTSTUDIEN

2/2006

Obwohl Kant die moralische Selbsterkenntnis zum „ersten Gebot aller Pflichten gegen sich selbst“ erklärt, beschäftigt er sich kaum mit der Frage, wie moralische Selbsterkenntnis erreicht und wie moralische Selbsttäuschung vermieden werden kann. Sven Bernecker hat die über das kantische Werk verstreuten Bemerkungen zu diesem Thema gesammelt und daraus eine kohärente Position entwickelt. Dabei zeigt sich nicht nur, dass Kant zwar die moralische Selbsterkenntnis nur en passant behandelt, seine Betrachtungen zu diesem Thema jedoch überaus differenziert sind und auf einer genauen und komplexen Phänomenbeschreibung beruhen. Bernecker geht noch weiter: Er hält die kantische Theorie der moralischen Selbsterkenntnis für überzeugend, da sie einen Standpunkt zwischen der Skylla des Cartesianismus und der Charybdis Behaviorismus bezieht.

3/2006

Johannes Lenhard verteidigt Kants Philosophie der Mathematik (partiell). Für Kant war es die Anschauung, die den gegenständlichen Bezug ermöglichen sollte, und in dieser Funktion ist sie auch von einem anwendungsbezogenen Standpunkt aus keineswegs überholt. Allerdings ging Kant von einem apriorisch fixierten Anschauungsbegriff aus, und diesen gilt es für Lenhard (er kommt aus Bielefeld) durch einen „naturalisierten“ Begriff zu ersetzen.
Luigi Caranti (Rom) untersucht und identifiziert die verschiedenen Argumente, mit denen Kant in den „Reflexionen zum Idealismus“ Descartes kritisiert und geht der Frage nach, warum Kant zum Thema des Skeptizismus zurückkehrt.
Verena Mayer geht in einem herausragenden Beitrag dem Paradox des Regelfolgens in Kants Moralphilosophie nach und verteidigt Kant gegen die Vorwürfe der Tugendethiker.

4/2006

Im Zentrum des Heftes steht die von Margit Ruffing nachgeführte KantBibliographie. Sie hat für das Jahr 2004 1090 Eintragungen. Gregg Osborne (Beirut) setzt sich mit der Interpretation von Paul Guyer der Zweiten Analogie der KrV auseinander. Paul Muchnik legt dar, warum Kants Konzeption des Bösen fragwürdig ist. Attila Ataner (Toronto) untersucht wieder einmal Kants Darlegungen über Todesstrafe und Selbstmord.

1/2007

Wirklich wichtig, so Kants tiefste Überzeugung, ist nur das moralische Wohlverhalten eines Menschen. Dieser Trost blieb ihm im hohen Alter angesichts seiner schwindenden Kräfte. Die Moral allein gibt unserem Leben Bedeutung, und sie allein ist der Maßstab, mit dem wir unser Wollen und Handeln bewerten müssen.
Aber auch ein schlechter Mensch hat einen Wert: er bleibt eine Person, die insofern unsere Achtung verdient, als wir sie nicht als bloßes Mittel zu unseren Zwecken gebrauchen dürfen. Wie Heiner F. Klemme ausführt, unterscheidet sich Kant hier wohltuend von Christian Wolff. Denn für diesen gibt es keinen Grund, einen Menschen, der ein großes Verbrechen begangen hat, weiterhin als eine Person zu behandeln. Aber auch Kant hat nicht immer die These vom unbedingten Wert eines jeden Menschen vertreten. Bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts war er der Meinung, nur der Forscher, der Künstler und der Gebildete verdienten unsere uneingeschränkte Achtung. Doch dann vollzieht Kant eine entscheidende Wende in seinem Denken: Solange es um die Erkenntnis des moralisch Guten geht, kann der Gelehrte für sich keine besondere Kompetenz reklamieren. Alle Menschen verfügen in der gleichen Weise über Einsicht in ihre moralischen Verpflichtungen und fühlen sich in Gestalt eines Gefühls der Achtung subjektiv an das Moralgesetz gebunden. Kant selbst hat diese seine Wende auf die Lektüre von Rousseaus Emil zurückgeführt, den er beinahe verschlungen hat. Kant lernt von Rousseau, dass alle Menschen Würde haben, weil sie frei handelnde Wesen sind, die sich durch diese Fähigkeit von allen anderen Lebewesen auf Erden unterscheiden.
Klemme sieht in Kants Kritischer Philosophie ein Paradox: Der oberste Naturzweck des Menschen ist zwar seine empirische Glückseligkeit. Aber es gibt etwas, was uns wichtiger als unsere eigene Glückseligkeit sein sollte, weil es ein Zweck ist, den die reine Vernunft uns selbst gibt: die Idee der Menschheit als Selbstzweck.
Sowohl beim kategorischen wie auch beim hypothetischen Imperativ ergehen Forderungen an die Vernunft. Doch, so Konstantin Pollok (er ist Träger des Nachwuchspreises des Internationalen KantPreises der „Zeit“ Stiftung), es ist alles andere als klar, in welcher Beziehung diese beiden Sollensforderungen zueinander stehen. In welchem Verhältnis steht die praktische Vernunft zu den unterschiedlichen Formen des Sollens? Kant folgert die Analytizität des hypothetischen Urteils aus einem deskriptiven Satz über das menschliche Wollen, und Pollok fragt: Welche normativen Ressourcen werden beansprucht, damit aus einer handlungsbezogenen ZweckMittelRelation ein Sollen der einschlägigen Handlung erfolgen kann? Seine Antwort: Es ist die Rationalitätsklausel, die für die Umwandlung des analytischen Urteils in einem Imperativ verantwortlich ist. In ihr liegt die Quelle der Normativität hypothetischer Urteile und ihr Aufgehen im Imperativ lässt sich formulieren als: „Gestatte der Vernunft entscheidenden Einfluß auf deine Handlung“. Die Verknüpfung dieser Aufforderung mit der ZweckMittelRelation ergibt einen hypothetischen Imperativ, d.h. eine Aufforderung, das ZweckMittelPrinzip zu realisieren. Aufgabe hypothetischer Imperative ist es demnach, zu verhindern, dass ein aufgrund eines gesetzten Zwecks bestehender Wille zum bloßen Wunsch degradiert wird.
Kant geht davon aus, dass Wesen, die ihre Neigungen unter rationaler Kontrolle hätten, stets sittlich handeln würden. Menschen, die auch von Neigungen bestimmt werden, können dem Sittengesetz gemäß handeln, können ihm aber auch zuwider handeln. Der kategorische Imperativ verknüpft das Wollen einer bestimmten Handlung „mit dem Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens“, er ist ein Aufruf zur Subsumtion subjektiver Handlungsgrundsätze unter das Sittengesetz. Die gemeinsame Wurzel der Imperative, die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Sollens, sieht Pollok in der praktischen Vernunft des Adressaten. Was im Fall hypothetischer Imperative mit dem Verweis auf den selbstgesetzten Zweck begründet wird, findet im Fall des kategorischen Imperativs die Begründung in einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung, d.h. die Vernünftigkeit der Handlungen besteht in dem von Kant festgesetzten Wert des Intelligiblen selbst.

2/2007

Burkhard Liebsch ist darob irritiert, dass das geschichtsphilosophische Denken wieder auflebt, während das Echo vielfacher Abgesänge auf die Geschichtsphilosophie noch nicht verklungen ist. Er sieht in der Parole vom Ende der Geschichte als Ende der Philosophie der Geschichte genau deren Wiederkehr. Die durch Fukuyama populär gewordene Rede vom Ende der Geschichte hat die Bedeutung, dass ihr Sinn angeblich bereits erfüllt ist – und nur noch hier und da verbessert zu werden braucht. Das Ende der Geschichte wird mit der Fortgeltung ihres Sinnes begründet, von dem in Zukunft nichts Neues mehr zu erwarten ist. Für Liebsch werden dadurch die praktischen Energien gelähmt, da dem menschlichen Handeln nun nichts mehr zu bleiben scheint als die unaufhörliche, nie wirklich endende, aber auch nie völlig befriedigende Verwirk¬lichung des bereits Vorgedachten. Das zeigt sich nicht nur in der längst diagnostizierten „Erschöpfung der utopischen Energien“ der Moderne wie auch an einer gewissen Lähmung jeglicher Orientierungen an regulativen Ideen überhaupt, die über die Stabilisierung des bisher Erreichten hinausgehen könnten. Liebsch plädiert deshalb dafür, nach den Möglichkeiten einer „Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie“ zu suchen und sieht dazu eine Möglichkeit in kritischer Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie.

3/2007

Im DialektikTeil der Kritik der reinen Vernunft heißt es, der Begriff der praktischen Freiheit „gründe“ sich auf die transzendentale Idee der Freiheit und würde „zugleich“ mit deren „Aufhebung“ vertilgt. Im KanonKapitel der „Methodenlehre“ heißt es hingegen, „für die Vernunft im praktischen Gebrauch“ könne man die Frage der „transscendentalen Freiheit…. als ganz gleichgültig bei Seite setzen“. Diese beiden Passagen sind oft als einander widersprechend empfunden worden und man hat sie als aus verschiedenen Entwick¬lungsphasen stammend interpretiert.

Für Georg Geismann handelt es sich hier keinesfalls um zwei verschiedene Freiheits begriffe. Vielmehr geht es um ein und denselben Sachverhalt, der aber von verschiedenen Gesichtspunkten aus in den Blick genommen wird. Es geht um Freiheit in spekulativer und in praktischer Hinsicht. Nimmt man Freiheit in spekulativer (theoretischer) Hinsicht, d. h. will man sie in ihrer Möglichkeit begründen, dann kommt man ohne einen Rekurs auf die tran¬szendentale Idee von ihr nicht aus, mit der sie gleichsam steht und fällt. Nimmt man Freiheit hingegen bloß in praktischer Hinsicht (als praktischen Be¬griff), dann kann man diese Idee ignorieren, sie wird „praktisch“ nicht benötigt.

Der Kategorische Imperativ hat eine Doppelfunktion: Er ist einerseits das oberste Prinzip der Vernunftmoral und zugleich ein Test für Maximen des Handelns. Allerdings ist es sehr umstritten, ob der Kategorische Imperativ tatsächlich als Test funktioniert. Christian F.R. Illies (Bamberg) zufolge führen alle gängigen Versuche zur Rehabilitation des Tests zu unsinnigen Ergebnissen. Er schlägt eine neue Deutung des Tests vor. Danach bietet der Kategorische Imperativ dann ein erfolgreiches Verfahren zur Selektion moralischer Maximen, wenn die performative Voraussetzung der Wahl von Maximen, nämlich die Freiheit des Wollens, in dem Test Berücksichtigung findet.

Gemäß der gegenwärtig vorherrschenden Standardinterpretation (die u. a. von O. O’Neill, C. Korsgaard und A. Wood) vertreten wird, besteht der Universalisierungstest darin, sich eine Welt vorzustellen, die genau wie unsere ist mit der Ausnahme, dass in ihr jeder in einer entsprechenden Situation X nach der entsprechenden Maxime handelt. Eine Maxime ist genau dann nicht universalisierbar, wenn sie nicht von allen zugleich als Maxime des Handelns gewählt werden könne, weil die universelle Realisierung die Verwirklichung im Einzelfall verhindere (praktischer Widerspruch).
Für Illies scheitert diese Interpretation daran, dass sich mit ihr offensichtlich unmoralische Maximen widerspruchslos universalisieren lassen. Etwa die Maxime: „Wenn ich in Geldnot bin und mich jemand bestechen will, dann nehme ich die Bestechung an“.

Kant selber lässt keinen Zweifel, dass es entscheidend um das Wollen geht: „Man muss wollen können, dass eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde“. Illies formuliert eine neue Fassung des Tests, die dies berücksichtigt: „Man kann eine Maxime dann nicht als ein allgemeines Gesetz wollen (universalisieren), wenn sie in ihrer Verallgemeinerung eine Einschränkung jener Freiheit menschlichen Wollens impliziert, die die performative Voraussetzung dafür ist, Maximen zu ergreifen“.

4/2007

Im 18. Jahrhundert hatte die Entwicklung des Naturrechtes in Deutschland zur Herausbildung eines auf äußeres Verhalten gerichteten sowie mit Zwang verbundenen „strikten“ Naturrechtes geführt, was allgemein als Fortschritt begrüßt wurde. Kants kontrastiert mit seiner Moralphilosophie des inneren Sittengesetzes der praktischen Vernunft dieses Naturrecht. Dietmar von der Pfordten vermutet, der große Erfolg der Kantschen Moralphilosophie sei nicht zuletzt dieser Verinnerlichung zu verdanken. Anders auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie: Kant musste sich mit dem nach wie vor mächtigen Naturrecht auf dessen ureigenstem und durch Konzentration auf äußeres Verhalten noch zusätzliche befestigtem Territorium messen. Er sah sich dabei vor einer doppelten Aufgabe: einerseits musste er die Rechtsphilosophie in sein stark auf die innere Quelle des Sittengesetzes gestütztes System der praktischen Philosophie integrieren, andererseits auf die genannten Grundannahmen seiner Zeit reagieren. Die These von der Pfordtens: Kant löst diese Aufgabe, indem er die allgemein favorisierte Restriktion des Rechts auf äußeres Verhalten akzeptiert, die Bedeutung dieser Restriktion aber im Sinne seiner eigenen Moralphilosophie interpretiert und ausgestaltet. Dies gelingt ihm, indem er den Rechtsbegriff wie die Naturrechtslehre auf „äußere Handlungen“ bezieht, gleichzeitig aber die Bedeutung dieser Bezugnahme aufweitet: Spezifisch für äußere Verhältnisse bzw. äußeres Handeln sind alle Veränderungen im Akteur, die keine rein apriorische Vernunftnatur aufweisen. Zudem wird die Verpflichtung zu „äußerem Handeln“ nur als spezifische Perspektive der generellen Handlungsverpflichtung durch das Sittengesetz aufgefasst. Die Diskrepanz zwischen dem heutigen Verständnis von „äußerer Handlung“ und Kants Verständnis war von der Pfordtens zufolge zum Teil für die Schwierigkeiten der Interpretation dieser Stelle verantwortlich.


1/2008

J. William Forgie (Santa Barbara) untersucht Kants Theorem, dass Existenz kein Prädikat ist; das es möglich ist, ein vollständiges Konzept von etwas möglichem zu haben, dass Existenz aber nicht dazugehört.
In der Speziellen Relativitätstheorie ist dasselbe, das in seiner Beobachterabhängig¬keit als räumlich charakterisiert ist, in seiner Beobachterunabhängigkeit raumartig. Der PraussSchüler Cord Friebe sieht hier eine Parallele zu Kant: Dasselbe ist auf zwei verschiedene Weisen betrachtbar – zum einen als Erscheinung und zum anderen „an sich selber“. Für Friebe ist dies mehr als eine Analogie: hier wie dort geht es letztlich um denselben Zweck, um die Charakterisierung empirischer Objekte als wirklicher. Ein wirkliches Objekt ist nach Kant subjektabhängig, aber nicht subjektiv. Weil subjektabhängig, ist es als Erscheinung betrachtbar; aber weil nicht subjektiv, auch immer an sich selbst. In der Speziellen Relativitätstheorie ist ein empirisches Objekt in seiner Wirklichkeit nur dann voll erfasst, wenn man es sowohl als räumliches wie auch als raumartiges betrachtet. Als bloß räumliches wäre es für verschieden bewegte Beobachter nicht zugleich gegenwärtig und nicht in allen seinen Teilen gleichzeitig; als bloß raumartiges hingegen wäre es noch gar nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt.

Reinhardt Brandt untersucht die Träume eines Geistersehers im Hinblick auf die Umbruchsituation 17651766 in Kants politischer Biographie. In dieser Schrift will Kant den Fehler der Metaphysik bloßlegen. und es ist unklar, wen Kant im Medium der Swedenborgschen Träume kritisiert. Es sind zwei Vorschläge gemacht worden: Wolff oder Kants eigene Metaphysik. Klaus Reich etwa meinte, die Schrift bringe einer „Widerlegung der Rationalen Psychologie Wolffs“, Alison Laywine meint, es handle sich um eine Selbstkritik. Brandt ist weder von dem einen Vorschlag noch von dem anderen überzeugt. Keiner von beiden kann die moralische Empörung, die Kant in einem Brief an Mendelssohn gegen die Schulmetaphysik zeigt, erklären. Die alte Metaphysik, so Kant in dem Brief, stellt sich dem praktischen Wohl der Menschheit entgegen, deshalb wird ihr der Prozess gemacht. Die Schrift wendet sich gegen die traditionelle Metaphysik insgesamt; sie muss aus ihrer Methode destruiert werden, damit sie nicht die natürliche Moral durch Gelehrsamkeit verformt.


2/2008

Ulrich Thiele (Privatdozent am Institut für Politische Wissenschaften der Universität Heidelberg) beschäftigt sich mit den Interpretationen des ersten Definitivartikels der Kantischen Friedensschrift. Darin führt Kant aus, unter den drei Staatsformen sei „die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Wortes, notwendig ein Despotism“. Friedrich Schlegel meinte, man könne sich diese Rede von der notwendig despotischen Demokratie nur dadurch erklären, dass Kant ein Lapsus unterlaufen sei: „dass der Demokratismus notwendig despotisch sei, kann nicht richtig sein“. Thiele betrachtet das Verdikt in Zusammenhang mit den nachfolgenden Sätzen und macht deutlich, dass Kant den Begriff der Staatsform hier wider seine sonstige Gewohnheit in einem weiteren Sinne gebraucht. Gemeint ist eine Verfassung im organisatorischen Sinne, d. h eine spezifische Kombination einer Staatsform mit einer Regierungsform. Kant meint Thiele zufolge: überall dort, wo die Regierung von derselben moralischen Person gestellt wird, die auch die Gesetzgebung innehat, ist keine repräsentative Regierungsform vorhanden. In einer totalen Demokratie ist das Volk sowohl der höchste Gesetzgeber als auch der höchste Richter und Vollstrecker. Dabei hatte Kant die demokratischen Despotien der griechischen Antike vor Augen. Kant führt denn auch in den „Vorarbeiten zu ‚Zum ewigen Frieden“ aus: „Die Griechen kannten nicht das repräsentative System“. Auch Wolfgang Kersting sieht Kants Diktum als „auf die unmittelbare und plebiszitäre Demokratievariante“ gemünzt. Warum Kant die Demokratie ausschließlich im Sinne der nichtrepräsentativen Herrschaft erörtert, bleibt im Dunkeln. Bernd Ludwig hat dies so interpretiert, dass bei Kant eine „Affinität zur repräsentativen Demokratie als der ‚wahren‘ demokratischen Staatsform“ festzustellen sei – Thiele sieht allerdings keinen einzigen zweifelsfreien Beleg für diese Lesart, vielmehr spricht nach ihm alles gegen die Lesart, nach der „Repräsentation“ und „institutionelle Differenz von Souverän und Volk dasselbe wären“. Für Thiele ist vielmehr die Gewaltenteilung das Kriterium, das die despotische von der republikanischen Verfassung scheidet.

Kant führt weiter aus, wenn in einer Republik, „wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann“, „die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ‚ob Krieg sein solle oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich beschließen müssten…, sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“. Volker Gerhardt und Otfried Höffe haben dies umstandslos auf die existierenden liberaldemokratischen Staaten des Westens bezogen. Dies erklärt aber nicht, warum westliche Staaten in erheblichem Ausmaß Kriege gegen nichtdemokratische Staaten führen: Wenn „Demokratien nicht durchweg gewaltabgeneigt sind, stimmt entweder die Hypothese nicht, oder die Demokratien sind (noch) keine Demokratien“ (ErnstOtto Czempiel). Czempiel entscheidet sich für letztere Option und macht das Kantische Theorem als Kritikmaßstab fruchtbar, der die mehr oder weniger große Distanz der heutigen Liberaldemokratien zur republikanischen Idealverfassung festzustellen erlaubt. So lässt sich beispielsweise zeigen, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten zentrale Kriterien, an denen die Friedensschrift die Republik festmacht, nicht erfüllten. Besonders die aus der Mitgesetzgeberschaft der Republik resultierende Souveränitätsteilung verhindere, dass die Kriegsentscheidung den Repräsentanten des Volkes vorbehalten bleibe. Georg Cavallar meint dazu aber, es sei ungeklärt, wie Kant sich diese Partizipation der Untertanen vorstellt“, als gesichert könne aber gelten, „Kant denkt nicht an eine direkte Demokratie“. Wolfgang Kersting wiederum interpretiert Kants „Beistimmung“ als „mehr oder minder begründete Zuschreibung von Einverstandenseins“ seitens des faktischen Herrschaftsinhabers. Damit, so kritisiert Thiele, verflüchtigt sich die Beistimmung zu einem bloßen Gedankenexperiment, dass jeder beliebige Souverän anstellen kann und das damit seiner Option nachträglich eine pseudodemokratische Legimitation verleiht. Thiele überzeugen diese Interpretationen nicht, und er wirft ihnen vor, nicht bedacht zu haben, dass Kant in dem Sinne Rousseauist gewesen sein könnte, dass er für die Gesetzgebung je nach ihrer Materie unterschiedliche Grade der Annäherung der tatsächlich gewählten Prozeduren an das identitätsdemokratische Vernunftideal gefordert haben könnte. Thiele geht darüber hinaus und behauptet: „Kant hat je nach der freiheitsrechtlichen Relevanz der Gesetzgebungsmaterie für das jeweils angemessene Willensbildungsverfahren unterschiedliche Grade der Annäherung an das Autonomieideal vor Augen gehabt.“

Weitere Abhandlungen: Manchester, P.: Kant’s Conception of Architectonic in its Philosophical Context; C.W. Dyck: The Subjective Deduction and the Search for a Fundamental Force; M. Schöningh: Bruno Bauchs kulturphilosophische Radikalisierung des Kriegsnationalismus. Ein Bruchstück zum Verständnis der Ideenwende von 1916; G. Mannion: Kant and the Defeat of Egoism: Schopenhauerian Concerns and Some Reappraisals and Rejoinders.

4/2008

 

Der dänische Naturforscher Hans Christian Orsted (1777-1851) war wohl der erste, der den Ausdruck „Gedankenexperiment“ benutzt hat.  Allerdings ohne Wirkung; die     eigentliche Begriffsgeschichte des Ausdrucks beginnt erst mit Ernst Mach.  Der in Tartu lehrende Daniel Cohnitz zeigt, was Orsted mit diesem Ausdruck gemeint hat: „Gedankenexperiment“ heißt bei ihm, das Betreiben von Mathematik durch Konstruktion in der Anschauung und Operation mit physikalischen Begriffen.

 

Eine „Vernunft“, welche die „Möglichkeit der Erkenntnis oder den Gebrauch derselben a priori untersucht“, muss schließlich zu der Erkenntnis gelangen, dass eine „moralische Selbsterkenntnis“ das Ziel des Philosophen  ist. Das ist die These, die der bis vor kurzem in Wuppertal, nun in Wien lehrende Peter Trawny verteidigt. Trawny vermutet, „Kritik“ bedeute bei Kant letztlich nichts anderes als eine radikale Selbstkritik, welche das    „oberste Erkenntnisvermögen“ der „Vernunft“ als Philosophie an sich selbst vollzieht.

Das Heft enthält des weiteren neben einem Rezensionsteil  die Kant-Bibliographie des Jahres 2006 mit 840 Einträgen  und den Artikel Frischbier, Reinhard: Kant und der Stoß.

 

1/2009

Wenn einem Ereignis eines Typ A immer eines von Typ B zeitlich folgt, glauben wir, dass A die Ursache von B ist. Wir haben, konstatiert Hume, die Angewohnheit, solche ursächlichen Verknüpfungen anzunehmen, ohne dass es dafür wirklich eine Rechtfertigung gibt. Kant hat dieses Problem sehr beunruhigt und er rühmt sich der „vollständigen …. Auflösung des Humeschen Problems“. Hat er aber Humes Problem wirklich gelöst? Andreas Kamlah ist dem Thema mit dem Termini der heutigen analytischen Wissenschaftstheorie nachgegangen.

 

Für Kant gehört der Ursachenbegriff zum Werkzeugkasten unseres Verstandes, mit dem wir ausgerüstet sind und den wir nach bestimmten methodischen Regeln dieses Verstandes anwenden. Der Ursachenbegriff liegt „im Gemüt“, er ist sozusagen im Gehirn fest verdrahtet. „Erfahrung wird allererst durch (den) Zusatz des Verstandesbegriffes (der Ursache) zur Wahrnehmung erzeugt“ (Prol. § 22, AA 04: 305 Fussn.). Aber Kant weiß natürlich, dass man mehr beweisen muss, um eine Kausalbeziehung als notwendig zu erweisen. Damit aus Ursachen notwendig die Wirkung erfolgt, müssen Naturgesetze notwendig sein. „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori“ (KrV, B4). Sind also Naturgesetze a priori gültig? Das wäre nahezu absurd. Tatsächlich gibt es nach Kant auch empirische Gesetze. Wie reimt sich das zusammen? Die Frage wird von verschiedenen Kant-Forschern verschieden beantwortet.

Kamlahs Lösung: Kant verwendet das Wort „notwendig“ in verschiedener Weise, ohne das jeweils zu kennzeichnen: zu einen als „denknotwendig“ (a priori gültig oder in moderner Spache „epistemisch notwendig“) und zum anderen als „naturnotwendig“ (auf Grund von empirischen Naturgesetzen gültig, bzw. „ontisch notwendig“).

 

Werner Stark berichtet, dass man unter den Kunstwerken und Archivalien auf dem nahe Königsberg gelegenen Schloss Friedrichstein der Grafen von Dönhoff eine studentische Nachschrift einer Vorlesung Kants über Physische Geographie gefunden hat. Der Text bietet eine in sich geschlossene und vollständig erhaltene Darstellung der Vorlesung, wie sie zu Beginn der 1780er Jahre gehalten worden sein kann. Das „Ms Dönhoff“ schließt eine empfindliche Lücke in der Überlieferung, die nach 1945 durch den Verlust der Königsberger Handschriften entstanden ist. Mit rund 89´000 Worten ist es die bei weitem umfangreichste der erhaltenen Nachschriften.

 

Frode Kjosavik argumentiert, dass geometrische Intuition, wie Kant sie versteht, unabdingbar für eine epistemologische Begründung der Mathematik ist. Simon Shengjian Xie zeigt, dass die Unterscheidung zwischen Kompatibilismus und Inkompatibilismus in kantischer Terminologie nicht möglich ist, doch der Inkompatibilismus liegt den Intuitionen Kants näher. Anna Marta Ganzalez untersucht Kants Beitrag zu den Sozialwissenschaften.