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Merkur

MERKUR

691

Die moderne Gesellschaft ist auf dem Weg zur Weltgesellschaft. Sie muss das Zusammenleben von sechs Milliarden Menschen unterschiedlicher Herkunft, Interessen, Sprache und Religion sicherstellen. Im Gegensatz zu anderen Autoren ist dies für Karl Otto Hondrich nicht durch Aufhebung von Grenzen zu bewerkstelligen. Denn in einer grenzenlosen Gesellschaft, wo der einzelne sich unmittelbar zum Ganzen verhalten müsste, wäre er ohne Halt und Orientierung unwägbaren Gewalten ausgesetzt. Staaten als überschaubare und legitime Gewaltmonopole schützen dagegen. Wo sie scheitern, wie mancherorts in Afrika, herrscht Chaos. Ihre Schutzfunktion können Grenzen dauerhaft aber nur erfüllen, wenn sie legitim, d.h. vom Zusammenfühlen derjenigen getragen werden, die ihrer Gewalt unterworfen sind. Diese Übereinstimmung muss nicht auf gemeinsamer Abstammung beruhen, also im strengen Sinne ethnisch sein. Sie kann eine gemeinsame Sprache oder Religion oder Zivilreligion der Chancengleichheit (wie in den USA) als ihr Herzstück empfinden. Nationalstaaten gewinnen ihre Stabilität nach innen und außen dadurch, dass sie ihre politischen Grenzen mit ihren kulturellen Grenzen zur Deckung bringen. In Deutschland ist man Hondrich zufolge für den Bedeutungszuwachs der Nationen blind: „Es ist der Hitlersche Nationalsozialismus, der uns bis heute blendet“ – im deutschen Kollektiv ist das Wort „national“ verbunden mit dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Volker Gerhardt wundert sich über die allerorts hörbare Klage über den mangelnden Nachwuchs in den deutschen Stuben. Er hält dagegen: „Wir sind zu viele“ und nimmt mit Erleichterung davon Kenntnis, dass Europa, von dem das weltweite Wachstum ausgegangen ist, nun auch den Anfang mit einer weltweiten Trendumkehr macht.


692

Otfried Höffe entwirft einen „globalisierungsfähigen Gerechtigkeitsbegriff“. Dabei geht er davon aus, dass die klassische Gerechtigkeitsphilosophie des Westens anderen Kulturen weitgehend fremd ist. Umgekehrt lässt sich – dem angeblichen Kampf der Kulturen zum Trotz – die gesamte Menschheit als eine grundlegende Gerechtigkeitsgemeinschaft ansprechen. Höffe unterteilt diese in personale und Justizgerechtigkeit. In letzterer Hinsicht ist eine Strafgerechtigkeit notwendig, die Diktatur und Völkermord ahndet und zwar neutral: Völkermord darf nicht mancherorts streng geahndet, anderorts dagegen achselzuckend hingenommen werden. Einen wichtigen Baustein für ein globales Strafgericht bildet das neue Weltstrafgericht. Personale Gerechtigkeit bedeutet Verbot von Willkür, Parteilichkeit und Korruption. Dies muss von der Führungselite in aller, also auch der Dritten und Vierten Welt eingefordert werden, alles andere wäre ein Paternalismus der Ersten Welt, der die Würde der einfachen Bevölkerung und der Führung missachtete.

Wegen der Gleichheit beginnt die politische Gerechtigkeit mit der Herrschaft von Regeln, dem Recht. Da die Regeln sich nicht selber zur Wirklichkeit bringen, braucht es, angefangen mit der Justiz, öffentliche Gewalten. Das dritte Gerechtigkeitsprinzip, die Demokratie, führt sie auf die Betroffenen, das Volk, zurück. Und das vierte geht über eine bloß justiziale Gerechtigkeit hinaus. Es erklärt die Menschenrechte, nicht zuletzt die demokratischen Mitwirkungsrechte, zu einem unverzichtbaren Maßstab der öffentlichen Gewalten.

Damit die Justizgerechtigkeit nicht nur innerhalb der Staaten wirksam wird, sondern auch zwischen den Staaten, die doch längst global vernetzt sind, braucht es ebenso eine globale Rechtsordnung mit elementaren Sozial und Umweltschutzkriterien und nicht zuletzt eine globale Entwicklungspolitik.

694

Im Zentrum dieser Nummer steht das Thema „Atheismus“. Nach zwei eher mittelmäßigen Elogen auf den Atheismus von Burkhard Müller und Hubert Markl bringt der Wiener Philosoph Rudolf Burger eine fulminante Liebeserklärung an den präsentistischem Solipsismus Max Stirners vor. Der Liebe zu Einzeldingen durchaus fähig, lehnte Stirner aber alle abstrakten Kategorien und daraus hervorgehende Verpflichtungen ab. Nichts hätte Stirner mehr amüsiert als der Anblick eines kinderlosen Greises, der sich um die Zukunft der „Menschheit“ sorgt. Und die heutige Angst vor einer ökologischen oder atomaren Apokalypse, in der die Menschheit stirbt, hätte er abgetan mit den Worten, dass diese schließlich sei jeher stirbt, seit sie als Gattung existiert; nur nicht auf einmal, sondern sequentiell, was für den Einzelnen aber gleichgültig sei. Denn für Stirner ist, wie er schreibt, jeder „Einzelne für sich eine Weltgeschichte“.
Während Nietzsche im Glutkern seiner Philosophie Theologe geblieben, fast jeder seiner Texte eine Predigt ist, ist Stirners Atheismus so radikal und selbstverständlich, dass er auch noch die Säkularisation des Religiösen erfasst. Vielleicht herrscht deshalb in der Philosophie weitgehend Schweigen über Stirner.

695

„Es gibt keine Schichten in Deutschland“, sagte kürzlich Franz Müntefering, und Guido Westerwelle stimmte zu: „Wir haben eine klassenlose Gesellschaft“. Warum sind Klase und Schicht in Deutschland regelrecht tabu? Hanspeter Müller, Soziologieprofessor an der HumboldtUniversität zu Berlin, weiß warum: Deutschland sollte stets nach dem Idealbild einer Volksgemeinschaft aufgefasst werden.
Müller lenkt den Blick auf die Geschichte: Von Beginn an ging es in einer Art symbolischen Klassenkampf darum, dass Marx und Engels um jeden Preis unrecht behalten sollten. Es ging stets darum, die Klassengesellschaft abzuschaffen – sei es in sozialwissenschaftlicher Theorie oder politischer Praxis. Denn – lange vorbereitet durch Renaissance und Aufklärung, Urchristentum und protestantische Reformation – Egalitaritätsprämissen standen als unumstößliche Wahrheiten fest. Die Klassengesellschaft hingegen stand von Beginn an unter dem Zeichen von Unfreiheit, Ungleichheit und Unbrüderlichkeit und wurde als Synonym für Unterdrückung, Ausbeutung und Entfremdung verwendet.

Heftig umstritten waren hingegen die Wege, die zur Abkehr von der Klassengesellschaft führen sollten: im Westen wurde erfolgreich der Weg durch schrittweise Reformen beschritten, im Osten wurde mit hohen Kosten als Realexperiment der Weg der gewaltsamen Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse versucht. Das Schwanken zwischen Reform und Revolution hat die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung begleitet und die Feindschaft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten begründet. Analytisch gesehen sind revolutionärer Klassenkampf und gesellschaftliche Umwälzung Grenzfälle, die Regel sind vielmehr ständige Konflikte um relative Vorteile in der Klassenstellung einzelner Statusgruppen im bestehenden Rahmen der Klassengesellschaft.

Die Soziologie in Deutschland untersuchte im Gefolge von Theodor Geiger, der Webers Kritik an Marx ausarbeitete, eher Schichten als Klassen. Auch in der durch die Studentenrevolte ausgelösten Renaissance des Marxismus in den sechziger Jahren vermochte die Klassentheorie nie den Stellenwert zu erringen, den sie bei Marx hatte – im Gegenteil: die Idee der Volksgemeinschaft und das Ideal des primitiven Egalitarismus schien in Deutschland hüben wie drüben verwirklicht zu sein. In der Gegenwart setzt Ulrich Beck mit seiner grundlegende Neuorientierung der Soziologie: weg von der Klassengesellschaft hin zur ökologischen Frage, zur Frauenfrage, zur Kernenergiefrage und zur Demokratiefrage im Zeichen globaler Bedrohungen, die Themen der Debatte.

Keine bedeutende Philosophin, wohl aber eine große Essayistin sei Hannah Arendt gewesen. Hinter dieser für manche provokativen These steht Russell Jacoby, Professor emeritus für Geschichte an der University of California. Ihr Werk strahle mit seinen häufigen Bezugnahmen auf griechische oder lateinische Begriffe Gedankentiefe aus. Dies aber nur deshalb, weil sich die amerikanische Philosophie seit Dewey, dem letzten großen Philosophen, in reine Fachfragen vergraben habe, die uns nicht mehr animieren. Dabei leiden Arendts Hauptwerke erheblich an Unklarheit – sie sei paradoxerweise je unklarer geworden, je philosophischer sie sein wollte. Selbst nach mehrfacher sorgfältiger Lektüre falle es einem schwer, sie zu verstehen. Doch sie profitiere von dem weitverbreiteten Glauben, dass philosophische Dunkelheit auf philosophische Tiefe schließen lasse. Jacoby ortet den Grund dafür bei ihrem Lehrer und Geliebten, bei Martin Heidegger, mit dem sie inhaltlich nie gebrochen habe. Ihr Werk sei durchdrungen von einem quasireligiösen Heideggerschen Jargon von Angst, Einsamkeit und Wurzellosigkeit.

In ihrem TotalitarismusBuch vertrat Arendt die These, dass der Totalitarismus die Welt mit etwas gänzlich Neuem konfrontiere. Als sie zehn Jahre später über den EichmannProzess berichtete, gelangte sie zu einer ganz anderen Schlussfolgerung: Die menschliche Natur wurde nicht transformiert, das totalitäre Böse ist nicht radikal neu, sondern absolut prosaisch. Man könne, schrieb sei, Eichmann „beim besten Wille keine teuflischdämonische Tiefe abgewinnen“. Hannah Arendt hat sich nie bemüht, diesen Widerspruch aufzulösen. Scholem gegenüber gab sie ihren Positionswechsel auch zu: „Ich have changed my mind und spreche nicht mehr vom radikal Bösen“, schrieb sie ihm. Ihre Anhänger jedoch versuchen diesen Widerspruch mit interpretatorischem Scharfsinn zu überkleistern.

696

Für den inzwischen emeritierten Wiener Philosophen Rudolf Burger beginnt die Moderne mit einer Skepsis, für die die Namen Montaigne und Descartes stehen. Während aber Montaigne die Skepsis in der Schwebe lässt, so schlägt Descartes radikaler Zweifel um in apodiktische Gewissheit. Descartes teilte das am Vorbild der Mathematik orientierte Erkenntnisideal mit den großen Rationalisten seiner Zeit, ihm ging es aber nicht um eine kontemplative theoria, sondern um Wissen, das Macht ist. Die darauf folgende Quantifizierung und Mathematisierung der Natur führte zu einer intellektuellen Aufwerfung der sinnlichempirischen Welt auf Kosten einer imaginiert jenseitigen. Gleichzeitig vereinheitlichte die mathematische Naturwissenschaft das Weltbild und unterwarf es einer einzigen Gesetzmäßigkeit. Das führte dazu, was Nietzsche „den Tod Gottes“ und Lukàcs die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des modernen Menschen nannte.

Warum aber suchte Descartes absolute Gewissheit? Dies war – so Burgers Antwort – die einzig mögliche Antwort, um aus der tiefen geistigen und politischen Krise des 17. Jahrhunderts herauszukommen. Der Rationalismus verdankt sich, so Burger, nicht wie immer noch angenommen wird, einem Erlahmen der theologischen Energie, sondern ist – wie Hans Blumenberg und Carl Schmitt herausgearbeitet haben – eine Reaktionsbil dung auf die Verschärfung religiös angeheizter und theologisch legitimierter Konflikte zu verstehen, die große Landteile Europas geradezu entvölkerten. Was gesucht und partiell auch gefunden wurde, war eine kultur und konfessionsunabhängige Form von Wahrheit, über die „man sich verständigen, einigen und gegenseitig überzeugen konnte“. Es ist denn, so Burgers Fazit, das Abstrakte, dass die Menschen verbindet, nicht das Konkrete. Die Kulturen und Religionen trennen die Menschen in potentiell feindliche Großgruppen, die Zivilisation vereint sie.


700

Dieses Doppelheft hat „Kein Wille zur Macht. Dekadenz“ zum Titel und zeigt damit auch schon an, was unter Dekadenz verstanden wird: eine Außenpolitik etwa, die unter alle Umständen tote Soldaten zu vermeiden versucht. Der Herausgeber Karl Heinz Bohrer ortet fehlenden Willen zur Macht aber nicht nur im AfghanistanEngagement der Bundeswehr sondern auch in einer von ihm konstatierten „Reduktion der Politik auf Sozialhilfe“ und in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich „mit Essbarem und Trinkbarem wohlversehen in jeder Hand“ durch die Fußgängerzone bewegen, „auf dass die Gefahr eines auch nur kurzfristigen Stockens der Nahrungs¬aufnahme im Keim erstickt werden kann“.

Josef Joffe zeigt, wie weit es mit der von Bohrer beklagten Dekadenz im militärischen Bereich gekommen ist. Für Alexis de Toc¬que¬ville war es selbstverständlich, dass das Kriegsrecht erlaubt, „das Land zu verwü¬sten…. und mit rapiden Vorstößen die Erden zu vernichten und Menschen und Herden zu verschleppen“. Unvorstellbar, dass sich heute ein Intellektueller und selbst ein General so äußern würde. Doch die Haltung, dass zivile Opfer keinesfalls in Kauf genommen dürfen, stellt, so Joffe, ein unüberwindliches Hindernis für den Erfolg des westlichen Militärs in seinen diversen Einsätzen dar.

Mit Bohrer darin einig, dass die westliche Gesellschaft dekadent ist, sind viele Muslime. Wie Jörg Lau anhand der engli¬schen Gesellschaft zeigt, reagieren dort ins¬be¬sondere junge Muslime damit, dass sie sich abkapseln und religiöse Gegen¬gesellschaften aufbauen. Diese Religiosität ist nicht als Rückkehr zur traditionellen Lebens¬weise ihrer Eltern zu verstehen, deren Religion ist vielmehr hochpolitisiert und das Anderssein wird bewusst durch strenge islamische Kleidung akzentuiert – wobei das Kopftuch ein besonders wichtiges Element der Symbolpolitik ist. Lau sieht die Religion hier als Me¬dium der Identitätspolitik. In der Sprache des Kulturrelativismus wird erst das „Recht auf kulturelle Differenz“ erstritten. Ist dies erreicht, wird verlangt, dass der de¬kadente Westen an dem moralischen Abso¬lutismus der islamischen Kultur genesen soll. Gerade bei Intellektuellen stößt die islamische Kritik am Westen auf Ver¬ständnis. Man sieht im Schleier eine Art Bollwerk gegen westlichen Sexismus.

Siegried Kohlhammer mokiert sich über die Intellektuellen. Obwohl diese nirgends so materiell abgesichert und vor Verfolgungen geschützt leben konnten wie im Westen, vertrat doch eine Mehrheit von ihnen lange Zeit einer Fundamentalopposition gegen den Westen mit seinen kapitalistischen Werten und gab sich einer Art „Tyrannophilie“ (Mark Lila) hin. Allerdings meint er damit weniger Mahmud Ahmadinedschad als Mao Zedong und Fidel Castro.

Uwe Simson gibt zu bedenken, dass Deka denz, „Verfall“, immer eine Sache der Sicht weise ist. Aus der Sicht der katholischen Kirche ist Aufklärung Verfall und aus der Sicht des adligen Offiziers das Auftauchen von bürgerlichen Kollegen.

701

Jeder Aufbruch in der Ideengeschichte Europas artikuliert sich in Rückgriffen: im Rückgriff auf die griechische Philosophie und Dichtung oder im Rückgriff auf die jüdische Religion. Thomas Macho nimmt diese These in seinem Essay „Europas Zukunft“ auf und führt sie weiter aus: Europa konnte das Alte immer wieder neu begreifen, mit frischem Leben erfüllen, weil es gar nicht das eigene Alte war. Um auf diese Quellen zurückgreifen zu können, mussten sie aber schlicht und einfach vorliegen, die „Aufschreibesysteme“ (Friedrich Kistler) fungierten zunächst als Abschreib und Konvertiersysteme in Form. Macho sieht die Geschichte Europas als eine Geschichte stets erneuerter Vermittlungen und Übersetzungen. Nicht zufällig wurden denn auch die wichtigsten technischen Medien – vom Buchdruck bis zum Computer – in Europa erfunden.

Gegenwärtig sieht Macho die europäische Kraft zur Renaissance, zur kreativer Selbsterfindung aus exzentrischer Identität nachhaltig erschöpft. Dies erklärt, warum die Suche nach europäischer Identität beinahe reflexartig auf verlorene Traditionen, auf das „Weltkulturerbe“ Europas rekurriert und Europa von einem Jubiläum und Gedenktag zum anderen taumelt. Macho zufolge brauchen Erinnerungen aber Zukunftsvisionen, die „Zukunft Europas entscheidet sich an der Erneuerungs und Renais¬sancefähigkeit des Kontinents“.

Viele beharren darauf, dieser oder jene Sachverhalt oder Ereignis sei unvergleichlich. Logisch gesehen, so Egon Flaig in einer „Reflexion über die moralische Verdingung“ sei dies Unsinn. Den Hohepriestern des Unvergleichen gehe es darum, diesem Hyperabsoluten eine absolute Geltung zu schaffen. Ob es gelinge, hängt davon ab, wie wuchtig die moralische Einschüchterung wirkt. Flaig wirft uns vor, wir hätten uns angewöhnt, den Unsinn stehen zu lassen und ihn für Sinn zu nehmen, als sei Sinn derjenige Unsinn den man lässt. Dies sei bequem für die wissenschaftliche Karriere, für den publizistischen Erfolg und für die abgenickte Zustimmung im öffentlichen Diskurs.

Flaig zufolge ist nichts unvergleichlich, nicht einmal die Ideen sind absolut, denn sie stehen in Beziehung zu anderen Ideen, und diese Bezogenheit macht sie relational. Einen Vorgang oder eine Sache zu verabsolutieren, heißt sie von ihren Kontexten zu isolieren und heißt der Wissenschaft verbieten, sie als Gegenstände zu behandeln. Dann kann man, spottet Flaig, nur noch andächtig den Kopf senken und beten, anstatt die Augen zu öffnen und das Gehirn anzustrengen: „Wenn ich wissen will, in welcher Hinsicht etwas singulär ist, dann komme ich nicht umhin, zu vergleichen“.

Das Heft enthält im weiteren eine glänzend geschriebene Darstellung des konservativen Philosophen Michael Oakeshott.

702

Friedrich Pohlmann, Jahrgang 1950 und Privatdozent für Soziologie, rechnet mit der Kritischen Theorie ab: Die betulichen Lob reden auf die Achtundsechziger als einer de¬mokratischen Bewegung sind für ihn pure Geschichtsfälschung. 1969, als der Terrorismus zur Tat schritt, war die Atmosphäre in der linken Subkultur so ideologiegeladen, dass man sich die Ideologieformeln, die auch den Terrorismus nährten, gewissermaßen durch pures Einatmen einverleiben konnte. Für Pohlmann hatte das „in sich kreisende, weltverrätselnde, pessimistische Theoriegespinst eines so verletzlichen Menschen wie Adorno“ die Funktion eines gewaltstimulie renden Ideologiecocktails der Studentenbewegung: Weil seine Theorie nicht auf die Kritik einzelner gesellschaftlicher Missstände zielt, sondern um einen nebulösen Begriff des Ganzen als des Falschen kreist, hat sie an der radikalen Delegitimierung des bestehenden Gesellschaftssystems mitgewirkt, und genau dies war Pohlmann eine der Grundbedingungen, die auch den Terrorismus ermöglichten.

704

Rainer Paris stellt „Bescheuertheit“ als grundlegendes Charaktermerkmal von Personen vor. „Bescheuertheit“ ist aber auch eine Methode, die Dinge von vornherein so einzurichten, dass man, was auch immer geschieht, niemals irren kann. Als Beispiel nennt er eine Teilnehmerin an einer Talkshow, die die horrende Verantwortungslosigkeit der Politiker beklagt, die keine Evakuierungspläne für den Fall des SuperGaus eines Atomkraftwerkes bereit hätten. Auf den Protest, dass es durchaus solche Pläne gebe, antwortet sie, dies sei ein Eingeständnis dafür, dass es entgegen aller Verlautbarungen auch in Deutschland eine Katastrophe wie in Tschernobyl geben könnte.
Bescheuerte haben Paris zufolge einen kleinen überschaubaren Satz allgemeiner Aussagen, die sich wechselseitig bedingen und definieren und deren universale Gültigkeit niemals bezweifelt werden darf. Bescheuerte sind außerordentlich wach und warten auf Anlässe für Wortschwall und Entrüstung. Als Paradefall für den Aufstieg und die Etablierung der Bescheuertheit nennt Paris die in den letzten Jahrzehnten betriebene feministische Sprachkritik.

In jeder Kultur gibt es zahlreiche Fälle, in denen Menschen für riskante und gefährliche Aufgaben benötigt werden. Roy F. Baumeister führt aus, dass die meisten Kulturen dazu tendieren, Männer für diese Stellen mit hohem Risiko und hoher Belohnung einzusetzen. Als Folge davon streichen einige Männer hohe Belohnungen ein, während das Leben anderer ruiniert oder frühzeitig beendet wird.

Für Baumeister betreffen die Unterschiede der Geschlechter eher die Motivation als die Fähigkeiten. So haben Untersuchungen gezeigt, dass der Grund für die geringe Zahl von Mathematikerinnen nicht eine Folge der Fähigkeit, sondern der Motivation ist. Was aber vor allem von Bedeutung ist: Die heute lebenden Menschen stammen von doppelt so vielen Frauen wie Männern ab. Es haben sich um die 80% der Frauen, aber nur 40% der Männer fortgepflanzt: Die meisten Männer, die je gelebt haben, haben keine heute lebenden Nachkommen. Für Baumeister hat diese Tatsache zur Entwicklung von Persönlichkeitsunterschieden beigetragen. Der Erfolg bei Männern und Frauen beruhte auf verschiedenen Eigenschaften. Frauen waren am erfolgreichsten, wenn sie die Risiken gering hielten, bei den Männern war es genau umgekehrt. Liebenswert zu sein stellte für die Frauen den Schlüssel dazu dar, den besten Partner zu gewinnen. Für die Männer hingegen war es wichtiger, viele andere Männer auszustechen, um auch nur eine Chance zu haben, einen Partner zu finden.

Eine Kultur bedarf zur Maximierung der Fortpflanzung aller gebärfähiger Frauen, während einige Männer dazu ausreichen. Verliert eine Gruppe die Hälfte ihrer Männer, kann die künftige Generation immer noch die größtmögliche Zahl haben. Verliert sie aber die Hälfte ihrer Frauen, wird die nächste Generation zahlenmäßig sehr reduziert sein. Für Baumeister ist dies der Grund, warum die meisten Kulturen ihre Frauen von Gefahren fernhalten und Männer die riskanten Aufgaben erledigen lassen.

706

Volker Gerhardt glaubt, dass trotz aller geschichtsphilosophischer Skepsis über die Zukunft Europas eine sichere Aussage gemacht werden kann, und die lautet: die europäische Einigung ist ohne Alternative. Und die europäische Politik dürfte sich durch eine verstärkte Kooperation der vorhandenen staatlichen Institutionen und durch eine zunehmende Integration bisher getrennter Funktionen gekennzeichnet sein. Und dabei ist es Gerhardt zufolge unerheblich, ob Europa eine Verfassung hat oder nicht. Aber schön wäre es schon – zumal dann das Gerede von der „postnationalen Konstellation“ schnell beendet wäre: Europa wäre dann nicht weniger national als die Vereinigten Staaten.

An der Entwicklung Europas zu einem einheitlichen Staatsgebilde erstaunen weniger die Details als dass es überhaupt soweit kommen konnte. Denn die Geschichte Europas ist bekanntlich eine Geschichte der Kriege. Europa ist aber auch ein Laboratorium der Weltgeschichte. Wie in einem geschichtlichen Laboratorium hat es an sich selber durchgespielt, was nunmehr dank der in Europa entstandenen Wissenschaften und der hier entwickelten Technik allen Menschen zur Verfügung steht. Die Europäer waren es auch, die sich in traumatisch inneren Kämpfen die Einsicht in die Unverzichtbarkeit der Menschenrechte selbst abgerungen haben. Die Bedeutung dieser Einsichten sind nicht hoch genug zu bewerten.

Wenn nun das Beispiel der europäischen Vereinigung zeigt, dass der Aufbau einer gemeinsamen, die Mitglieder verbindlich integrierenden Organisation zur Verbesserung der Leistungen führen kann, kann das die Motivation der internationalen Organisation verbessern. So könnte Europa durch das fortgesetzte Experiment mit seiner autonomen politischen Organisation zum Exempel eines weltweit fortgesetzten Einigungsprozesses werden.

708

Den Gegensatz von Rechtsstaat und Ausnahmezustand hatte man erledigt geglaubt und zu den Akten gelegt. Das war wie, wie der Mainzer Rechtsphilosoph Uwe Volkmann darlegt, ein Irrtum. Die alte Frage, ob der Rechtsstaat bei Angriffen sich selber treu bleiben soll bzw. ob er sich diese Treue überhaupt leisten kann, kehrt zurück. Die Antwort der liberalen Rechtstheorie lautet, dass wenn der Staat handelt, er nur in der Form des Rechts handeln darf und in diesem Handeln selber rechtlich gebunden ist. Der Ausnahmezustand ist dabei ausgeblendet, er ist der blinde Fleck in deren Gedankengebäude. Volkmann erkennt dahinter eine Auffassung von Recht, die dieses selber als ein prinzipiell Vernünftiges begreift und ihm deshalb zutraut, sich auch in außergewöhnlichen Fällen zu behaupten. Diese Auffassung ist schon früh auf den Widerstand der politischen Romantik gestoßen, die dahinter ein blutleeres Gebilde sah, eine Fessel der befreienden, heroischen Tat. In der Figur des Ausnahmezustandes gab Carl Schmitt dieser romantischen Opposition gegen das Recht ihren späten Kristallisationspunkt. Die Stunde der höchsten Not wird dabei zur Stunde der Entscheidung und der Tat, in der auch die Unterscheidung von Freund und Feind in aller Klarheit hervortraten kann. Gegen diese Epiphanie einer ursprünglichen Gewalt wirkt der bürgerliche Rechtsstaat mit seinem Insi¬stieren auf die Einhaltung irgendwelcher Regeln unangenehm pedantisch. Es braucht dann wenig, „dass ein Stärkerer an seine Stelle tritt und zeigt, dass es auch anders geht“, wie der SSJurist Höhn 1929 schrieb. Es war denn auch diese Erfahrung, die dazu führte, dass die junge Bundesrepublik sich mit dem Ausnahmezustand schwer tat. Allerdings, so Volkmann, ist es fraglich, ob gegenwärtig die Sache die ganze Aufregung wert ist, ist es doch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelungen, eine Krisenfe¬stigkeit in neuer Qualität auszubilden, die es bislang nicht gab. Volkmann sieht die Gefahr an anderer Stelle: dass in dem, was im Namen der Vorsorge unternommen wird, das Recht unterlaufen wird und dort ein Moment des alten Ausnahmezustandes wieder zum Vorschein kommt.

Von Anfang an muss der politischen Versuchung der Wissenschaft durch Aufklärung entgegengewirkt werden. Das ist das Credo von Hubert Markl, emeritierter Professor für Biologie an der Universität Konstanz. Und für ihn kann diese Aufklärung nur durch den Geist der Wissenschaft selbst erfolgen. Fatalerweise sind die meisten Wissenschaftler dann gefragt, wenn sie von den Folgen ihrer Expertisen selbst betroffen sind. Was wir aber benötigen, sind ehrliche Makler der Wissenschaften.

Ein in dieser reinen Form seltenes Loblied auf den Kapitalismus singt der Australier Peter Saunders. Während der Kapitalismus Wohlstand zu schaffen, aber nicht zu begei¬stern vermag, begeistert der Sozialismus, obwohl er nie Wohlstand geschaffen hat. Die Geschichte des Sozialismus ist eine Geschichte ständigen Scheiterns und großen menschlichen Elends, und doch ruft er statt Verwünschungen immer noch Sympathie bei den Menschen hervor, die niemals unter dem Sozialismus zu leben hatten. Mit der Umweltbewegung teilt der Sozialismus einen unerschütterlichen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit, was deren Attraktivität noch zusätzlich erhöht. In einem Wettstreit mit solcher moralischer Selbstgewissheit hat der Kapitalismus keine Chance und ist in diesem Sinne „seelenlos“: wenn er denn auch den Hunger der Menschen zu stillen vermag, tut er sich doch schwer, sie emotional an zu binden. Zu den verhängnisvollen Erbstücken des Sozialismus gehört die Marxsche Theorie, dass die Arbeitgeber, um Profite zu machen, die Löhne senken müssen. Vielmehr hat das Profitstreben einen höheren Lebensstandard für die Arbeitgeber zur Folge sowie billigere und mannigfaltigere Waren und Dienstlei¬stungen für die Konsumenten. Der Kapitalismus hat es auch möglich gemacht, dass sehr viel mehr Menschen auf der Erde leben und länger leben als je zuvor. Er befreite einen großen Teil der Menschheit von der drückenden Last körperlichen Arbeit. Er unterminierte Diktaturen und ermöglichte so vielen Menschen ein freies Leben. Denn ohne eine freie Wirtschaft hätte sich keine rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft gebildet. Dennoch kritisieren seit Rousseau unzufriedene Intellektuelle den Kapitalismus dafür, dass er die „wahren menschlichen Bedürfnisse“ nicht zu befriedigen vermag. Joseph Schumpeter hat dargelegt, warum dies so ist: Der Kapitalismus bringt eine Klasse von Gebildeten hervor, die keine Verantwortung für das praktische Handeln in ihrer Gesellschaft tragen, und diese Klasse kann nur dadurch Bedeutung erlangen, indem sie das System, das sie ernährt, kritisiert. Karl Heinz Bohrer erinnert sich an die Zeit von 1968 und erläutert in sechs Szenen, warum er, der damals gerne mitgemacht hätte (und den man aber nicht wollte), von der damaligen Bewegung gleichzeitig fasziniert und abgestoßen war. 


709

Jerry Z. Muller (Professor für Geschichte an der Catholic University of America) stellt der Interpretation, wonach sich Europa in einem postnationalen Zeitalter befinde, eine Gegenrechnung auf: in Europa dominieren vielmehr der ethnonationale Staat und die Separierung ethnischer Gruppen. Im Ethnonationalismus steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass Nationen durch ein gemeinsames Erbe definiert sind, wozu gewöhnlich eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Religion und eine gemeinsame ethnische Abstammung gehören. Dabei ist die Auflösung in kleine Nationalstaaten ökonomisch unvernünftig und hat eine geringere kulturelle Vitalität zur Folge. Mit der Vertreibung von Minderheiten wird oft auf die fähigsten Bürger verzichtet, die nun ihr Können und Wissen anderswohin bringen. Umgekehrt führt Ethnonationalismus zu sozialer Kohäsion und Stabilität. Ethnisch homogene Staaten praktizieren zudem eine erhebliche Binnensolidarität, die zahlreiche Formen staatlicher Sozialpolitik, einschließlich inländischer Transferleistungen begünstigen. Für Muller ist der Ethnonationalismus gegenwärtig dennoch eine der stärksten destabilisierenden Kräfte. Da es kaum möglich ist, Frieden zwischen Gruppen, die einander hassen, zu schaffen, plädiert er in einem solchen Fall für die Trennung von Ethnien als die humanste dauerhafte Lösung.

710

Detlev Schlöttker stellt drei Texte, die in der essayistischen Deutung des Holocausts eine prominente Stellung einnehmen, miteinander in Beziehung: Paul Celans Gedicht Todesfuge (1945 geschrieben und 1948 erstmals auf deutsch veröffentlicht), Adornos Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft, der 1951 in einer Festschrift erschienen ist und Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem, das 1963 auf Englisch und ein Jahr später auf deutsch veröffentlicht wurde.
Celan vergegenwärtigt durch die als Leitmotiv verwendete Metapher „schwarze Milch der Frühe“, die für den Rauch aus den Verbrennungsöfen steht, die Sichtbarkeit der Massenmorde und durch die Versergänzung „wir trinken sie“ zugleich die körperliche Teilhabe der Beobachter. Adorno stellte mit der Behauptung, „nach Auschwitz ein Gedicht schreiben ist barbarisch“, die Berechtigung der Poesie in der Nachfolge der nationalsozialistischen Verbrechen grundsätzlich in Frage. Und Hannah Arendt betont, dass sich die Ereignisse im Rahmen einer nüchternen Erzählung vermitteln lassen, so dass sie indirekt gegen Celans lyrisches Pathos und Adornos apodiktisches Urteil Stellung bezieht. Dahinter, so Schlöttker, steht ein verdeckter Kampf um die Deutungshoheit. Celan hat Adornos Diktum auf sich bezogen und er erhob 1960 in einer Rede zur Verleihung des GeorgBüchnerPreises Widerspruch gegen Adornos Äußerung: „Vielleicht ist das Neue an den Gedichten, die heute geschrieben werden, gerade dies: dass hier am deutlichsten versucht wird, solcher Daten eingedenk zu bleiben.“ Adorno seinerseits hat eine Publikation über Celans Gedicht angekündigt (die aber nie geschrieben wurde), doch hat er sein Diktum in mehreren Publikationen relativiert, am deutlichsten in der 1966 erschienenen Negativen Dialektik: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.“

 

711

 

Die überwältigende Mehrheit der US-Amerikaner betrachtete die Terroranschläge vom 11. September 2001 als eine Kriegshandlung. Sie geht davon aus, dass eine Gewalttat von dieser Größenordnung nur darauf gerichtet sein konnte, irgendein politisches Ziel zu verfolgen. Dahinter steht der Gedanke von Clausewitz, dass Krieg rational und instrumentell ist. Demgegenüber steht die Bemerkung des Komponisten Karlheinz Stockhausen, es handle sich hier um „das größte Kunstwerk, was es überhaupt gibt“. Trotz des abstoßenden Nihilismus enthält dieses Urteil Lee Harris zufolge eine wichtige Einsicht: der 11. September war die   Realinszenierung einer Phantasievorstellung. Ein einzelnes Individuum ist immer von     einer sozialen Umwelt umgeben, die dem Eindringen einer solchen Phantasiewelt in den Bereich der Wirklichkeit Grenzen setzt. Anders ist dies bei einer Gruppe oder gar   einer Nation. In der Geschichte hat sich gezeigt, dass großangelegte kollektive Phantasien meist im Gewande der Religion auftraten. Mit der Französischen Revolution änderte sich dies jedoch. Seitdem kam es zu Eruptionen einer neuen Art von Kollektivphantasie, in der politische Ideologien die religiösen Mythologien als die Quelle von Phantasiesymbolen und -ritualen ablösten. Für das Entstehen solcher Bewegungen bedarf es   eines kollektives Bedürfnisses und das entsteht durch den Konflikt zwischen einer Reihe kollektiver Sehnsüchte und Wünsche     einerseits und den strengen Geboten einer brutalen Realität andererseits – ein Konflikt, bei dem ein Mangel an Realismus sich allmählich in einen Hang zu Phantasievorstellungen verwandelt. Ein Thema ist dabei die Wiederbelebung frühen Ruhms, und die Geschichte zeigt, dass solche Phantasievorstellungen vorwiegend von Gruppen entwickelt werden, die von der Geschichte übergangen oder abgewiesen wurden. Man hat beispielsweise vom Nationalsozialismus oft behauptet, leichtgläubige Anhänger seien durch    einen machtgierigen Führer verführt worden. Harris hält dies für falsch: Vielmehr ist der Führer genauso von der Phantasievorstellung ergriffen wie seine Anhänger. Er kann andere nur deshalb zum Glauben veranlassen, weil er selber so inbrünstig glaubt. Was den 11. September betrifft: Einer Handvoll Muslime gelang es, die vom Grossen Satan errichteten hochmütigen Türme zu Fall zu bringen? Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass Gott auf der Seite des radikalen Islam stand und das Ende der Herrschaft des Grossen Satans nahe war? Nicht die neunzehn Flugzeugentführer brachten die Türme zu Fall, sondern Allah.

 

712/713

 

Dieses Doppel- bzw. Sonderheft hat „Neugier. Vom europäischen Denken“ zum Thema, wobei sich die Beiträge vor allem auf das Thema „Neu“ konzentrieren und die „Gier“ vernachlässigt wird.

 

Es habe einmal eine Zeit gegeben, berichtet Martin Seel, in der Neugierde in nicht wenigen Bereichen des Lebens als ein Laster galt, und Seel nennt dafür Augustinus als Kronzeugen. Aber auch solche, denen theologische Einwände fernliegen, hätten in der Neugierde die Jagd nach der nächsten Neuigkeit gesehen. Als Propagandisten der Neugierde sieht er hingegen Francis Bacon, der ihre Tugend darin gesehen hat, sich nicht beim jeweils erreichten Stand des Wissens beruhigen zu können. Bacon sah im ständigen Aufbruch zu neuen Ufern die eigentliche zivilisatorische Kraft. Seel selber sieht in der Neugier ambivalente Züge, diese werden am leichtesten im sozialen Bereich sichtbar: Am Leben anderer Anteil zu nehmen, ist eine soziale Tugend, doch soziale Neugierde kann nerven. Seel differenziert zwischen sozialer, ästhetischer und wissenschaftlicher Neugierde. Je stärker sich ästhetische Neugierde auslebt, desto stärker geht sie das Risiko ein, im Unbestimmten nur dem Vagen und im Bruch mit dem Klischee nur dem nächsten Klischee aufzusitzen. Haltlose Begierde nach Neuem macht den Sinn für das nachhaltig Neue tendenziell blind. Aber auch in der wissenschaftlichen Neugierde sieht Seel eine Gefahr: Wer sich für alles interessiert, interessiert sich für das (jeweils) Wesentliche nicht – und damit im Grunde für nichts (wobei er auf die überdrehte Interdisziplinarität in der gegenwärtigen Forschungslandschaft anspielt).

 

Dem stellt Volker Gerhardt eine „Kleine Apologie des Neuen“ gegenüber und stellt fest, das Neue komme so häufig vor, dass man sich über die Aufmerksamkeit, die es findet, nur wundern kann“. Eine Antwort darauf gibt Rainer Hank: Das Neue schafft in Form von Fortschritt Wohlstand. Bis zum Beginn der industriellen Revolution war Fortschritt in der Geschichte der Menschheit nicht vorgesehen; während eine zahlenmäßig kleine Elite ein behagliches Leben führte, verharrte die große Masse in bitterem Elend. Erst die explodierenden Wissensmächte brachten den Wohlstand. Doch, so wirft Norbert Bolz ein, die industrielle Revolution hat eine Angstkultur als neue Form der Intelligenz zur Folge, die anstelle der archaischen Weltangst und der mittelalterlichen Angst vor Gottes Allmacht getreten ist: wir fürchten uns vor Atomkraftwerken, Erderwärmung, Atombomben, Terrorbombern und Designerbabys. „Nachhaltigkeit“, stimmt Jörg Lau zu, ist das Wort, in dem sich die Ängste vor dem Kollaps verdichten, und das hat zur Folge, dass die Menschen, obwohl sie ein besseres Leben führen, sich immer schlechter fühlen. Die Folge sind Depressionen und stressinduzierte Erkrankungen. Und die Gesellschaft unterstützt dies: Genügsame und Selbstzufriedene bringen es nicht weit. Das Glück ist mit dem Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Stress für ihre Erfolge zahlen müssen. Umgekehrt sind glückliche Leute nicht nur durch einen Hang zu Schlamperei und Selbstzufriedenheit gefährdet, sie neigen auch zu Vorurteilen: Glück kann denkfaul und bigott machen. Statt über die Entkopplung von Wohlstand und Wohlgefühl zu klagen, sollte man vielmehr eine Gesellschaft preisen, in der so viele Menschen wie nie zuvor ihr – im historischen Vergleich recht behagliches – Unglück pflegen können.

 

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Die Modernität der Künste ist nicht länger an ihren Materialfortschritten abzulesen: das ist die Hauptthese, die Harry Lehman in seinen „Zehn Thesen zur Kunstkritik“ vertritt. Es bedarf eines anderen Modells, um die Kunst der ästhetischen Moderne zu beschreiben. Nur eine systemimmanente Kunstkritik, die konstitutiv für die Kunst ist und nicht bloß reaktiv reagiert, könnte eine solche innovative Funktion für die Kunst erfüllen  (feuilletonistische) Kunstkritik und Kunstwissenschaft hält Lehmann als dafür ungeeignet. Denn, so eine weitere These: die Reflexion über Kunst ist konstitutiv für die Kunst.

 

Unter den Schlagwörtern „pictorial turn“ und „iconic turn“ glaubte man Mitte der neunziger Jahre schlagartig in einer postlinguistischen Zeit angekommen zu sein. Doch, so Daniel Hornuff, gegenwärtig gewinnen skeptische Fragen an Dringlichkeit und eine institutionelle Etablierung der Bildwissenschaft steht zum jetzigen Zeitpunkt außer Reichweite. Keiner der bisher vorgeschlagenen Zugänge hat es geschafft, einen konzeptionellen Konsens zu etablieren, auf dem sich die einzelnen Fachrichtungen einer gemeinsamen Denkbasis sicher sein könnten. Es fehlt das durchschlagende und den Disziplinendialog eröffnende Potential. Eine Systematisierung der einzelnen Entwürfe zeigt vielmehr, dass der hochgesetzte Selbstanspruch weiter Teile der Bildwissenschaft kaum zu verwirklichen ist.

 

 

Merkur

711

 

Die überwältigende Mehrheit der US-Amerikaner betrachtete die Terroranschläge vom 11. September 2001 als eine Kriegshandlung. Sie geht davon aus, dass eine Gewalttat von dieser Größenordnung nur darauf gerichtet sein konnte, irgendein politisches Ziel zu verfolgen. Dahinter steht der Gedanke von Clausewitz, dass Krieg rational und instrumentell ist. Demgegenüber steht die Bemerkung des Komponisten Karlheinz Stockhausen, es handle sich hier um „das größte Kunstwerk, was es überhaupt gibt“. Trotz des abstoßenden Nihilismus enthält dieses Urteil Lee Harris zufolge eine wichtige Einsicht: der 11. September war die   Realinszenierung einer Phantasievorstellung. Ein einzelnes Individuum ist immer von     einer sozialen Umwelt umgeben, die dem Eindringen einer solchen Phantasiewelt in den Bereich der Wirklichkeit Grenzen setzt. Anders ist dies bei einer Gruppe oder gar   einer Nation. In der Geschichte hat sich gezeigt, dass großangelegte kollektive Phantasien meist im Gewande der Religion auftraten. Mit der Französischen Revolution änderte sich dies jedoch. Seitdem kam es zu Eruptionen einer neuen Art von Kollektivphantasie, in der politische Ideologien die religiösen Mythologien als die Quelle von Phantasiesymbolen und -ritualen ablösten. Für das Entstehen solcher Bewegungen bedarf es   eines kollektives Bedürfnisses und das entsteht durch den Konflikt zwischen einer Reihe kollektiver Sehnsüchte und Wünsche     einerseits und den strengen Geboten einer brutalen Realität andererseits – ein Konflikt, bei dem ein Mangel an Realismus sich allmählich in einen Hang zu Phantasievorstellungen verwandelt. Ein Thema ist dabei die Wiederbelebung frühen Ruhms, und die Geschichte zeigt, dass solche Phantasievorstellungen vorwiegend von Gruppen entwickelt werden, die von der Geschichte übergangen oder abgewiesen wurden. Man hat beispielsweise vom Nationalsozialismus oft behauptet, leichtgläubige Anhänger seien durch    einen machtgierigen Führer verführt worden. Harris hält dies für falsch: Vielmehr ist der Führer genauso von der Phantasievorstellung ergriffen wie seine Anhänger. Er kann andere nur deshalb zum Glauben veranlassen, weil er selber so inbrünstig glaubt. Was den 11. September betrifft: Einer Handvoll Muslime gelang es, die vom Grossen Satan errichteten hochmütigen Türme zu Fall zu bringen? Konnte es einen besseren Beweis dafür geben, dass Gott auf der Seite des radikalen Islam stand und das Ende der Herrschaft des Grossen Satans nahe war? Nicht die neunzehn Flugzeugentführer brachten die Türme zu Fall, sondern Allah.

 

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Dieses Doppel- bzw. Sonderheft hat „Neugier. Vom europäischen Denken“ zum Thema, wobei sich die Beiträge vor allem auf das Thema „Neu“ konzentrieren und die „Gier“ vernachlässigt wird.

 

Es habe einmal eine Zeit gegeben, berichtet Martin Seel, in der Neugierde in nicht wenigen Bereichen des Lebens als ein Laster galt, und Seel nennt dafür Augustinus als Kronzeugen. Aber auch solche, denen theologische Einwände fernliegen, hätten in der Neugierde die Jagd nach der nächsten Neuigkeit gesehen. Als Propagandisten der Neugierde sieht er hingegen Francis Bacon, der ihre Tugend darin gesehen hat, sich nicht beim jeweils erreichten Stand des Wissens beruhigen zu können. Bacon sah im ständigen Aufbruch zu neuen Ufern die eigentliche zivilisatorische Kraft. Seel selber sieht in der Neugier ambivalente Züge, diese werden am leichtesten im sozialen Bereich sichtbar: Am Leben anderer Anteil zu nehmen, ist eine soziale Tugend, doch soziale Neugierde kann nerven. Seel differenziert zwischen sozialer, ästhetischer und wissenschaftlicher Neugierde. Je stärker sich ästhetische Neugierde auslebt, desto stärker geht sie das Risiko ein, im Unbestimmten nur dem Vagen und im Bruch mit dem Klischee nur dem nächsten Klischee aufzusitzen. Haltlose Begierde nach Neuem macht den Sinn für das nachhaltig Neue tendenziell blind. Aber auch in der wissenschaftlichen Neugierde sieht Seel eine Gefahr: Wer sich für alles interessiert, interessiert sich für das (jeweils) Wesentliche nicht – und damit im Grunde für nichts (wobei er auf die überdrehte Interdisziplinarität in der gegenwärtigen Forschungslandschaft anspielt).

 

Dem stellt Volker Gerhardt eine „Kleine Apologie des Neuen“ gegenüber und stellt fest, das Neue komme so häufig vor, dass man sich über die Aufmerksamkeit, die es findet, nur wundern kann“. Eine Antwort darauf gibt Rainer Hank: Das Neue schafft in Form von Fortschritt Wohlstand. Bis zum Beginn der industriellen Revolution war Fortschritt in der Geschichte der Menschheit nicht vorgesehen; während eine zahlenmäßig kleine Elite ein behagliches Leben führte, verharrte die große Masse in bitterem Elend. Erst die explodierenden Wissensmächte brachten den Wohlstand. Doch, so wirft Norbert Bolz ein, die industrielle Revolution hat eine Angstkultur als neue Form der Intelligenz zur Folge, die anstelle der archaischen Weltangst und der mittelalterlichen Angst vor Gottes Allmacht getreten ist: wir fürchten uns vor Atomkraftwerken, Erderwärmung, Atombomben, Terrorbombern und Designerbabys. „Nachhaltigkeit“, stimmt Jörg Lau zu, ist das Wort, in dem sich die Ängste vor dem Kollaps verdichten, und das hat zur Folge, dass die Menschen, obwohl sie ein besseres Leben führen, sich immer schlechter fühlen. Die Folge sind Depressionen und stressinduzierte Erkrankungen. Und die Gesellschaft unterstützt dies: Genügsame und Selbstzufriedene bringen es nicht weit. Das Glück ist mit dem Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Stress für ihre Erfolge zahlen müssen. Umgekehrt sind glückliche Leute nicht nur durch einen Hang zu Schlamperei und Selbstzufriedenheit gefährdet, sie neigen auch zu Vorurteilen: Glück kann denkfaul und bigott machen. Statt über die Entkopplung von Wohlstand und Wohlgefühl zu klagen, sollte man vielmehr eine Gesellschaft preisen, in der so viele Menschen wie nie zuvor ihr – im historischen Vergleich recht behagliches – Unglück pflegen können.

 

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Die Modernität der Künste ist nicht länger an ihren Materialfortschritten abzulesen: das ist die Hauptthese, die Harry Lehman in seinen „Zehn Thesen zur Kunstkritik“ vertritt. Es bedarf eines anderen Modells, um die Kunst der ästhetischen Moderne zu beschreiben. Nur eine systemimmanente Kunstkritik, die konstitutiv für die Kunst ist und nicht bloß reaktiv reagiert, könnte eine solche innovative Funktion für die Kunst erfüllen  (feuilletonistische) Kunstkritik und Kunstwissenschaft hält Lehmann als dafür ungeeignet. Denn, so eine weitere These: die Reflexion über Kunst ist konstitutiv für die Kunst.

 

Unter den Schlagwörtern „pictorial turn“ und „iconic turn“ glaubte man Mitte der neunziger Jahre schlagartig in einer postlinguistischen Zeit angekommen zu sein. Doch, so Daniel Hornuff, gegenwärtig gewinnen skeptische Fragen an Dringlichkeit und eine institutionelle Etablierung der Bildwissenschaft steht zum jetzigen Zeitpunkt außer Reichweite. Keiner der bisher vorgeschlagenen Zugänge hat es geschafft, einen konzeptionellen Konsens zu etablieren, auf dem sich die einzelnen Fachrichtungen einer gemeinsamen Denkbasis sicher sein könnten. Es fehlt das durchschlagende und den Disziplinendialog eröffnende Potential. Eine Systematisierung der einzelnen Entwürfe zeigt vielmehr, dass der hochgesetzte Selbstanspruch weiter Teile der Bildwissenschaft kaum zu verwirklichen ist.


 

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Adornos Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ in der Dialektik der Aufklärung ist vielleicht der einflussreichste Essay der Kulturwissenschaften im 20. Jahrhundert. Die Tradition, Populärkultur als ein minderwertiges und verderbliches Massenmedium zu untersuchen, wurde von diesem Essay begründet, paradigmatisch vertreten und verbreitet. In dem 1954 veröffentlichten Essay How to Look at Television (deutsch unter dem Titel Fernsehen als Ideologie erschienen) wurde dabei das Fernsehen zum passenden Prügelknaben – dieser Essay setzte den Maßstab für einen großen Teil der späteren Fernsehanalyse und bleibt weiterhin einflussreich.  Paul A. Cantor, Professor für Englisch an der Virginia University, zeigt die Vorurteile auf, die hinter Adornos Analyse standen. Dieser stellte Hollywood als eine Traumfabrik dar, die Wunschbilder serviert, um den vom kapitalistischen System ausgebeuteten Amerikaner Ersatzbefriedigungen zu gewähren und so dazu beizutragen, sie mit ihrem beklagenswerten Schicksal zu versöhnen.

 

Adorno scheint sich kaum der Tatsache bewusst gewesen zu sein, dass er es mit einem Medium in seinen frühesten Entwicklungsstadien zu tun hatte und dieses Medium sich in der Zukunft zu etwas Anspruchsvollerem und wirklich Künstlerischem entwickeln könnte. So machte er bei verschiedenen Gelegenheiten das Fernsehen an sich für bestimmte Mängel verantwortlich, die sich als bloße Anfangsschwierigkeiten des Mediums herausstellten. So kritisierte er zum Beispiel das Fernsehen dafür, nur Programme von fünfzehn- oder dreißigminütiger Dauer zu produzieren, was er zu Recht als unzureichend für eine angemessene Handlungsentwicklung betrachtete, aber zu Unrecht als gleichsam notwendig zum Medium Fernsehen gehörend. Cantor hält es denn für erstaunlich, dass ein erfahrener Marxist wie Adorno nicht zu wissen schien, dass Medien eine Geschichte haben.

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