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Husserl: Schütz und Voegelin disputieren über Husserl

HUSSERL
Alfred Schütz und Eric Voegelin disputieren über Husserl


Alfred Schütz (1899-1950) und Eric Voege-lin (1901-1985) lernten einander in Wien als Diskussionspartner kennen und schätzen. Ihr nunmehr in Buchform erschienener Brief-wechsel

Schütz, Alfred / Voegelin, Eric: Eine Freundschaft, die ein Leben ausgehalten Briefwechsel 1938-1959, 610 S., Ln., € 128.—, 2005, UVK Konstanz

belegt eine lebenslange beiderseitige Hochachtung und eine Anteilnahme am Schicksal und an der Arbeit des anderen. Dabei ist Voegelin der Bestimmende, Schütz ist eher derjenige, der Voegelins Werk kommentiert. Eine Ausnahme bildet das Werk von Husserl, und über Husserl kommt es zwischen den beiden auch zu einer Kontroverse.

Am 17. September 1943 wendet sich Voegelin an Schütz, er habe eben Husserls Aufsatz Krisis der europäischen Wissenschaften gelesen – Voegelin möchte einige Punkte diskutieren. Der Aufsatz, lobt Voegelin, lebe trotz der Trockenheit der Sprache „in einer olympischen Atmosphäre von reinstem philosophischem Enthusiasmus“. Trotzdem habe er ihn, wie die anderen Arbeiten von Husserl auch, enttäuscht. Wie diese bilde der Aufsatz „ein Vorwort zu einer Philosophie, aber nicht selbst ein fundiertes philosophisches Unternehmen“. Dagegen könne man einwenden, diese fände sich in den noch unpublizierten Werken Husserls. Aber dieses Argument habe er seit 20 Jahren gehört; es mache ihn „misstrauisch, dass ein großer Denker bis an sein Lebensende auch nicht ein einziges Mal im Verlaufe einer reichen publizierten Produktion ein philosophisches Fundamentalproblem berührt“.

 
Für Husserl bestehe zudem die relevante Menschheitsgeschichte aus der hellenischen Antike und der Neuzeit seit der Renaissance – die Inder und Chinesen und selbst das Mit-telalter sind für ihn nur eine Kuriosität. Dieses Geschichtsbild sei aber nicht einfach eine Entgleisung, sondern bilde unmittelbar die Voraussetzung der Husserlschen Thematik. Für Husserl habe das geschichtliche Werden eine Teleologie, und diese könne aus den geschichtlichen Formen des Philosophierens „herausverstanden“ werden. Gleichzeitig ermöglicht es die zur Klarheit gebrachte Teleologie, das Telos zu formulieren und zur Aufgabe gegenwärtigen Philosophierens zu machen. Für Husserl sei dies „die echte Selbstbestimmung des Philosophen auf das, worauf er eigentlich hinaus will“.

Husserl, so Voegelins Vorwurf, sei kein radikaler Philosoph in dem Sinn gewesen, dass er sich über die radices seines Denkens im klaren gewesen wäre. Sein Radikalismus, den er immer wieder betone, sei ein Radika-lismus in der Verfolgung eines Spezialproblems, und zwar des transzendentalphilosophischen. Ob das Vordringen zur Objektivität der Welterkenntnis bis zur Wurzel der fundierenden Subjektivität des Ego ein Vor-dringen zu den Grundproblemen der Philo-sophie sei, diese Frage habe Husserl nicht einmal angerührt.
Vielmehr habe er historisch gesehen die Weltreduktion auf das cogitierende Ego übernommen und weiterentwickelt. Man könne daher seine eigene transzendentalphilosophische Position nicht aus einer ori-ginären Metaphysik begründen. Die Grenze, über die er nicht hinauskommme, sei die fundierende Subjektivität des Ego: woher das Ego seine Funktion, aus der Subjektivität die Objektivität der Welt zu fundieren, bekommt, bleibe nicht nur ungeklärt, sondern werde unvermeidlich gar nicht berührt.

Ein anderer Vorwurf: In Husserls Geschichte der Vernunft sind zwei Phasen zu unter-scheiden. Die erste reicht von der griechischen Urstiftung bis zu Descartes, die zweite beginnt bei Descartes und endet mit Husserl als deren Vollendung.

Schütz antwortet am 11. November 1943. Er teile die Auffassung, dass es jenseits Hus-serls Ideal philosophische Grundprobleme gebe, die mit den Mitteln der strengen Wis-senschaftsmethode nicht erschlossen werden können und die den Mut zur Metaphysik er-fordern. Aber die Entdeckung der vorprädikativen Sphäre, die Bloßlegung des Intersub-jektivitätsproblems, die Rückführung von Logik, Mathematik und den Naturwissen-schaften auf den Boden der Lebenswelt berührten nach seiner Ansicht philosophische Grundprobleme. Nichts sei unfruchtbarer als einem Schriftsteller vorzuwerfen, er habe sich für ein anderes Problem interessiert als der Leser und nun den Autor des Lesers Enttäuschung entgelten zu lassen. Aber auch er, Schütz, habe durchaus Probleme mit dem Werk von Husserl. So sei es Husserl nicht gelungen, dem transzendentalen Solipsismus zu entgehen oder auch nur den Bruch im Begriff der „Konstitution der Welt durch das transcendentale Ego“ zu überwinden.

Auch sei es nicht Husserls Absicht. nach dem Sinn der Geschichte zu fragen; sein Problem sei das der Selbstbesinnung des abendländischen Philosophen unserer Zeit auf sein Tun und Treiben. Er, Schütz, finde im übrigen keine Stelle in Husserls Aufsatz, in der dieser die von ihm geschaffene Phä-nomenologie für die Endstiftung der entelechistischen Bewegung halte. Dies stände zu-dem in Widerspruch zu Husserls geistiger und menschlicher Haltung. Husserl sage le-diglich, dass mit der transzendentalen Phä-nomenologie die „Offenbarung der Ver-nunft“, als welche er den Gang der Philosophie ansieht, einen apodiktischen Anfang erreicht hat und als unendliche Aufgabe, zu ih-rem Horizont apodiktischer Fortführung gekommen ist.

Voegelin antwortet am 28. Dezember 1943, Husserls Position sei dann legitim, wenn man den religiös-messianischen Grundzug seines Wesens anerkenne. Husserls grandiose philosophische Leistung in den Einzel-problemen habe ihre Kraft aus dem Glauben bezogen, dass die menschliche Vernunft in ihm zur Klarheit gekommen sei. Er sei zwar bereit zu respektieren, dass das Evangelium der philosophischen Vernunft in Husserl Fleisch geworden sei, aber nicht, dies zu ak-zeptieren. Verstehe man Husserl aber nicht auf diese Weise, gerate man in große Schwierigkeiten: denn dann wäre Husserl ein Denker, der eingebildet genug wäre zu glau-ben, dass die Menschheit auf ihn gewartet habe, um die Probleme der Vernunft auf die Bahn der apodiktischen Methode zu bringen.
Die Krise der Philosophie, von der Husserl spreche, bestehe doch wohl nur darin, dass die in einem gemeinschaftlichen Glauben fundierten Ordinaten des Welt- und Menschenbildes aus mannigfachen geschichtlichen Gründen zusammengebrochen sind. Aber diese Krise könne nicht durch philosophische Bemühungen „gelöst“ werden. Die Philosophie könne nichts anderes tun, als sich in dieser neuen Situation mehr recht als schlecht einzurichten.

Erst neun Jahre später kommen die beiden wieder auf Husserl zurück. Schütz stimmt Voegelin zu, dass Husserl das Problem der Du-Konstitution nicht gelöst habe: „Wie immer man seine verschiedenen Versuche dreht und wendet, das Du-Problem erweist sich als die wahre crux der Husserl’schen Phänomenologie , an der das ganze Unternehmen scheitert.“