PhilosophiePhilosophie

INTERVIEW

Cassin, Barbara: Wörterbuch unübersetzbarer philosophischer Wörter

Das Unübersetzbare übersetzen
Felix Heidenreich im Gespräch mit Barbara Cassin
über ihr Wörterbuch unübersetzbarer philosophischer Wörter


Unsere geläufige Vorstellung eines Wörterbuches setzt die Möglichkeit der Übersetzung voraus. Man benutzt ein Wörterbuch, gerade weil man davon ausgeht, dass sich das Wort „Tür“ mit „porte“ übersetzen lässt. Ein „Wörterbuch der unübersetzbaren Wörter“ - das ist auf den ersten Blick etwas völlig Paradoxes.

Cassin: Ja, allerdings, aber unter „unübersetzbar“ verstehen wir nicht etwas, was nicht übersetzt wird, sondern im Gegenteil gerade dasjenige, was man „nie zu Ende übersetzt“ und daher, weil man es nie zu Ende übersetzt, sozusagen „nie aufhört (nicht) zu übersetzen“. Unser Wörterbuch gibt ja nicht die richtige Übersetzung eines schwierigen Begriffes an. Vielmehr handelt es sich um ein Nachschlagewerk, das die Worte als Symptome für die Unübersetzbarkeit der Sprachen betrachtet. Uns interessieren die Unterschiede zwischen den Sprachen. Das Wörterbuch versucht diese Verwerfungen abzustecken und zu zeigen, wie man von den Sprachunterschieden ausgehend Philosophie betreiben kann.

Unübersetzbarkeit ist für sie also nicht das Ende, sozusagen das Anzeichen für ein Scheitern, sondern vielmehr der Beginn des Denkens...

Cassin: Ja, es handelt sich sozusagen um einen „glücklichen Post-Babylonismus“: Die Sprachenvielfalt macht gerade den Reichtum Europas aus! Warum? Weil dieser Reichtum eine Vielzahl von Worten an Stelle einer Universalität von Begriffen bedeutet. Es geht in unserem Wörterbuch ja um Worte, nicht um Begriffe wie beispielsweise im berühmten begriffsgeschichtlichen Wörterbuch, dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter. Das war auch die erste Frage, die mir gestellt wurde, als ich mit dem Projekt begann: „Behandeln Sie Worte oder Begriffe?“ Das ist ein ganz entscheidender Unterschied, denn wir behandeln Worte, und zwar in konkreten Sprachen, manchmal auch Wortfamilien. Wir glauben nämlich nicht, dass es jeweils einen Begriff gibt, der dann in den jeweiligen Sprachen nur verschieden ausgearbeitet wird, sozusagen in verschiedene Worte gekleidet ist. Wir sind vielmehr von der Perspektive ausgegangen, die Humboldt vertritt, der festgestellt hat, dass die Sprachen uns die Welt je verschieden erschließen, indem sie sie verschieden be-schreiben. Jede Sprache beschreibt so ihre eigene Welt, hat ihre eigene Art und Weise, die Dinge „sein“ zu lassen.

In der hermeneutischen Philosophie Gadamers finden wir ja einen geradezu hegelianischen Optimismus: Selbst wenn der Dialog nie abgeschlossen wird, selbst wenn das Verstehen nie ein für alle mal erreicht ist, so bleibt es doch immer möglich, weil wir in einer Tradition und einer Wirkungsgeschich-te stehen, die Sprachen und Epochen überbrückt. Wir sind immer schon dabei den An-deren zu verstehen. Dieser Optimismus wendet sich gegen einen gewissen Pessimismus bei Heidegger, der aus Humboldts Sprachphilosophie eine chauvinistische Folgerung zog. Für Heidegger sind Griechisch und Deutsch ja bereits an sich philosophische Sprachen, während Englisch und Französisch das Denken blockieren. Sie grenzen sich von diesem Sprachnationalismus ab, der sich ja auch auf die Unübersetzbarkeit der Sprachen beruft.

Cassin: Ja, aber unser Punkt ist nicht, dass Heidegger sich geirrt hat oder dies alles falsch ist. Diese ganze Vorstellung von einer Hierarchie der Sprachen lehnen wir ab. Die romantische Tradition, die mit Herder beginnt und deren extremstes Beispiel natürlich Heidegger ist, ist ja nur eine Traditionslinie, von der wir uns abgrenzen. Denn auf der anderen Seite steht die Ideologie des globish, des Global English. Und gegen diese zweite Konzeption, die im Gegensatz zur romantischen Sprachphilosophie alles für gleich und daher übersetzbar hält, wehren wir uns genauso heftig. Für die Ideologie des globish ist eine Sprache ein bloßes Instrument zum Informationstransport. Diese Vorstellung lehnt sich natürlich an die analytische Philosophie an, die das Erbe des Leibnizschen Formalismus weiterträgt, dem es gerade um die Universalität geht. Sie steht zugleich in der Tradition einer Philosophie der Normalsprache, die in der Tradition des englischen Empirismus die Philosophie von der aufgeblasenen Sprache der Metaphysik befreien will. Wenn man das Feld diesen Verheißungslehren des Universellen und dem Militantismus des Normalen der gewöhnlichen Sprache überlässt, lässt man zu, dass das Englische oder vielleicht gar das globish die einzige verbleibende Sprache sein wird. Denn die anderen Sprachen sind in der Ideologie des globish ja nur Dialekte. Sie werden nicht verschwinden, sondern den Status einer privaten Sprache annehme. Diese Sprachen werden dann auf etwas gutsherrenhafte Art toleriert. Und gegen genau diese Ideologie wendet sich unser Buch!

Eine Sache möchte ich in diesem Zusammenhang noch klarstellen: Wir schätzen das Englische sehr – globish hingegen gar nicht. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn Sie heute an einer internationalen Konferenz teilnehmen, wo alle globish sprechen, dann sind die einzigen, die nichts verstehen, die Engländer, die Oxford English sprechen. Das globish ist ja auch für das Englische eine Gefahr, das letztlich genauso zu einem Dialekt degradiert wird wie das Deutsche oder das Französische, oder aber zu einer bloßen Informationssprache ohne Autor und ohne Werk.

Ihr Wörterbuch ist also gleichsam eine deutliche und klare politische Positionsbestimmung, ein Appell an das Bewusstsein um die Sprachenvielfalt Europas. Die Sprachen, die darin vorgestellt werden, sind sehr unterschiedlich: Arabisch, Griechisch, Latein, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Norwegisch – ja sogar Baskisch. Steckt auch hinter dieser Zusammenstellung eine Positionsbe-stimmung?

Cassin: Ja, denn unsere Vorstellung Europa hat nicht dem Europa der „großen Nationen“ zu tun. Nein – Europa verwirklicht sich gerade in dieser Offenheit und Pluralität! Andererseits haben wir die so genannten „kleinen“ Sprachen ja nicht aus politischen Gründen aufgenommen, sondern weil es etwas zu verstehen gibt. Nehmen wir zum Beispiel das Baskische: Hier ist ganz außergewöhnlich, dass ein einziges Wort all jene Bedeutungen versammelt, die in den anderen Sprachen für verschieden gehalten werden. Dieses Wort „gogo“ bezeichnet alle inneren Abläufe der Subjektivität, alles was animus, anima, spiritus, mens auf Latein heißt. Sie können sich vorstellen, was sich da ergibt, wenn sie die Bibel übersetzen - das ist sehr interessant!

Unser Wörterbuch ist voller solcher Symptome, und man muss sagen, dass wir tatsächlich dasjenige genommen haben, was uns symptomatisch erschien, also diejenigen Beispiele, die immer schon beim Übersetzen oder Lesen Schwierigkeiten bereitet haben, diejenigen Probleme, die uns ins Auge gesprungen sind. Wenn Sie zum Beispiel Heideggers Sein und Zeit ins Spanische übersetzen, und Sie haben plötzlich zwei Worte für sein, ser und estar, dann ergeben sich da natürlich sehr interessante Probleme.

Als Untertitel für Ihren Vortrag in Stuttgart haben Sie ein Zitat von Umberto Eco gewählt: „Die Sprache Europas ist die Übersetzung“. Was bedeutet das für ihre Vorstellung von Europa, wenn unsere Sprache die Übersetzung sein soll?

Cassin: Zunächst einmal ist eine unheimlich weite Vorstellung, die alle Sprachen einschließt, die dazu beigetragen haben Europa aufzubauen: Griechisch, Latein, Hebräisch, Arabisch und andere. Daher sind wir von den zeitgenössischen Fragen, von den heutigen Problemen und Sprachen ausgegangen und dann, wo es für das Verständnis notwendig war, zu den vergangenen Sprachen zurückgegangen. Wir haben versucht zu rekonstruieren, wie die Sprachen zu dem gewor-den sind, was sie heute sind. Dazu ist es hilfreich einen Blick von außen zu haben, etwas Abstand zu haben. Oft haben daher Brasilianer die Artikel über das Portugiesische oder Argentinier diejenigen über das Spanische geschrieben. Es geht uns also um ein komplexes Europa ohne Vorurteile, ein Europa, dass sich nicht verschließt, das nicht eine Idee oder ein „Wesen“ ist, mehr energeia als ergon, ein Europa im aktiven Prozess sozu-sagen.

Ist Europa nicht gerade im Begriff, den Reichtum, den die Vielsprachigkeit bedeutet, zu vergessen?

Cassin: Ja durchaus. Selbst in der Schweiz fürchtet man jetzt eine Einsprachigkeit, denn man hat gerade beschlossen, dass die Schüler Englisch vor den anderen Nationalsprachen lernen, in Zürich zum Beispiel. Englisch könnte also die „Servicesprache“, die Sprache der alltäglichen Kommunikation werden. Natürlich stellen die Servicesprachen nicht an sich ein Problem dar. Die Servicesprachen gab es ja immer schon: das koiné und das Lateinische waren die Servicesprachen der Antike. Was jedoch gefährlich ist, ist der Monopolismus der Servicesprachen, die Abwesenheit eines Gespürs für die Kultursprachen, der Verlust jedweder sprachlichen Polyphonie, die darin liegt. Wenn man die Vielfalt der Kulturen in Europa erhalten will, muss man sich widersetzen und den Reichtum der Unübersetzbarkeit in der Verständigung selbst verteidigen.

Cassin, Barbara (ed.) : Vocabulaire euro-péen des philosophies – dictionnaire des in-traduisibles, 1532 p., € 95, 2004, Editions du Seuil, Paris

ECHO (European Cultural Heritate Online) plant eine elektronische Ausgabe des Wör-terbuches,, weitere Informationen dazu unter http://robert.bvdep.com/pulic/vep/accueil.
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Das Gespräch führte und übersetzte Felix Heidenreich (Stuttgart). Es fand anlässlich eines Vortrags von Barbara Cassin am „Internationalen Zentrum für Kultur- und Tech-nikforschung“ (IZKT) an der Universität Stuttgart statt. Der Vortrag in der Reihe „Deutsch-französische Wechselwirkungen“ wurde in Kooperation mit dem Institut français Stuttgart veranstaltet und von der DVA-Stiftung gefördert.


ZITATE

„Die meisten Philosophen benutzen Argu-mente wie ein Betrunkener einen Laternen-pfahl: mehr zur Stützung als zur Erleuch-tung“
Der amerikanische Philosoph M. Orenduff

„Bei den Philosophen gibt es zwei Arten: die unverständlichen und die selbstverständli-chen. Beide brauchen wir hier nicht.“
Ein Rektor der TH Karlsruhe nach dem Krieg (beide Zi-tate nach: Hans Lenk, Rosenmontagsphilosophie)


Unsere geläufige Vorstellung eines Wörter-buches setzt die Möglichkeit der Übersetzung voraus. Man benutzt ein Wörterbuch, gerade weil man davon ausgeht, dass sich das Wort „Tür“ mit „porte“ übersetzen lässt. Ein „Wörterbuch der unübersetzbaren Wörter“ - das ist auf den ersten Blick etwas völlig Pa-radoxes.

Cassin: Ja, allerdings, aber unter „unüber-setzbar“ verstehen wir nicht etwas, was nicht übersetzt wird, sondern im Gegenteil gerade dasjenige, was man „nie zu Ende übersetzt“ und daher, weil man es nie zu Ende über-setzt, sozusagen „nie aufhört (nicht) zu über-setzen“. Unser Wörterbuch gibt ja nicht die richtige Übersetzung eines schwierigen Be¬griffes an. Vielmehr handelt es sich um ein Nachschlagewerk, das die Worte als Symp¬tome für die Unübersetzbarkeit der Sprachen betrachtet. Uns interessieren die Unterschie-de zwischen den Sprachen. Das Wörterbuch versucht diese Verwerfungen abzustecken und zu zeigen, wie man von den Sprachun-terschieden ausgehend Philosophie betreiben kann.

Unübersetzbarkeit ist für sie also nicht das Ende, sozusagen das Anzeichen für ein Scheitern, sondern vielmehr der Beginn des Denkens...

Cassin: Ja, es handelt sich sozusagen um ei-nen „glücklichen Post-Babylonismus“: Die Sprachenvielfalt macht gerade den Reichtum Europas aus! Warum? Weil dieser Reichtum eine Vielzahl von Worten an Stelle einer Universalität von Begriffen bedeutet. Es geht in unserem Wörterbuch ja um Worte, nicht um Begriffe wie beispielsweise im berühm-ten begriffsgeschichtlichen Wörterbuch, dem Historischen Wörterbuch der Philosophie von Joachim Ritter. Das war auch die erste Frage, die mir gestellt wurde, als ich mit dem Projekt begann: „Behandeln Sie Worte oder Begriffe?“ Das ist ein ganz entscheidender Unterschied, denn wir behandeln Worte, und zwar in konkreten Sprachen, manchmal auch Wortfamilien. Wir glauben nämlich nicht, dass es jeweils einen Begriff gibt, der dann in den jeweiligen Sprachen nur verschieden ausgearbeitet wird, sozusagen in verschiede-ne Worte gekleidet ist. Wir sind vielmehr von der Perspektive ausgegangen, die Hum-boldt vertritt, der festgestellt hat, dass die Sprachen uns die Welt je verschieden er-schließen, indem sie sie verschieden be-schreiben. Jede Sprache beschreibt so ihre eigene Welt, hat ihre eigene Art und Weise, die Dinge „sein“ zu lassen.

In der hermeneutischen Philosophie Gada-mers finden wir ja einen geradezu hegeliani-schen Optimismus: Selbst wenn der Dialog nie abgeschlossen wird, selbst wenn das Ver-stehen nie ein für alle mal erreicht ist, so bleibt es doch immer möglich, weil wir in einer Tradition und einer Wirkungsgeschich-te stehen, die Sprachen und Epochen über-brückt. Wir sind immer schon dabei den An-deren zu verstehen. Dieser Optimismus wen-det sich gegen einen gewissen Pessimismus bei Heidegger, der aus Humboldts Sprach-philosophie eine chauvinistische Folgerung zog. Für Heidegger sind Griechisch und Deutsch ja bereits an sich philosophische Sprachen, während Englisch und Franzö-sisch das Denken blockieren. Sie grenzen sich von diesem Sprachnationalismus ab, der sich ja auch auf die Unübersetzbarkeit der Sprachen beruft.

Cassin: Ja, aber unser Punkt ist nicht, dass Heidegger sich geirrt hat oder dies alles falsch ist. Diese ganze Vorstellung von einer Hierarchie der Sprachen lehnen wir ab. Die



















Lexikon der unübersetzbaren philosophischen Worte

romantische Tradition, die mit Herder be-ginnt und deren extremstes Beispiel natürlich Heidegger ist, ist ja nur eine Traditionslinie, von der wir uns abgrenzen. Denn auf der an-deren Seite steht die Ideologie des globish, des Global English. Und gegen diese zweite Konzeption, die im Gegensatz zur romanti-schen Sprachphilosophie alles für gleich und daher übersetzbar hält, wehren wir uns ge-nauso heftig. Für die Ideologie des globish ist eine Sprache ein bloßes Instrument zum Informationstransport. Diese Vorstellung lehnt sich natürlich an die analytische Philo-sophie an, die das Erbe des Leibnizschen Formalismus weiterträgt, dem es gerade um die Universalität geht. Sie steht zugleich in der Tradition einer Philosophie der Normal-sprache, die in der Tradition des englischen Empirismus die Philosophie von der aufge-blasenen Sprache der Metaphysik befreien will. Wenn man das Feld diesen Verhei-ßungslehren des Universellen und dem Mili-tantismus des Normalen der gewöhnlichen Sprache überlässt, lässt man zu, dass das Englische oder vielleicht gar das globish die einzige verbleibende Sprache sein wird. Denn die anderen Sprachen sind in der Ideo-logie des globish ja nur Dialekte. Sie werden nicht verschwinden, sondern den Status einer privaten Sprache annehme. Diese Sprachen werden dann auf etwas gutsherrenhafte Art toleriert. Und gegen genau diese Ideologie wendet sich unser Buch!

Eine Sache möchte ich in diesem Zusam-menhang noch klarstellen: Wir schätzen das Englische sehr – globish hingegen gar nicht. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn Sie heute an einer internationalen Konferenz teilnehmen, wo alle globish spre-chen, dann sind die einzigen, die nichts ver-stehen, die Engländer, die Oxford English sprechen. Das globish ist ja auch für das Englische eine Gefahr, das letztlich genauso zu einem Dialekt degradiert wird wie das Deutsche oder das Französische, oder aber zu einer bloßen Informationssprache ohne Autor und ohne Werk.

Ihr Wörterbuch ist also gleichsam eine deut-liche und klare politische Positionsbestim-mung, ein Appell an das Bewusstsein um die Sprachenvielfalt Europas. Die Sprachen, die darin vorgestellt werden, sind sehr unter-schiedlich: Arabisch, Griechisch, Latein, Hebräisch, Russisch, Ukrainisch, Norwe-gisch – ja sogar Baskisch. Steckt auch hinter dieser Zusammenstellung eine Positionsbe-stimmung?

Cassin: Ja, denn unsere Vorstellung Europa hat nicht dem Europa der „großen Nationen“ zu tun. Nein – Europa verwirklicht sich ge-rade in dieser Offenheit und Pluralität! Ande-rerseits haben wir die so genannten „kleinen“ Sprachen ja nicht aus politischen Gründen aufgenommen, sondern weil es etwas zu ver-stehen gibt. Nehmen wir zum Beispiel das Baskische: Hier ist ganz außergewöhnlich, dass ein einziges Wort all jene Bedeutungen versammelt, die in den anderen Sprachen für verschieden gehalten werden. Dieses Wort „gogo“ bezeichnet alle inneren Abläufe der Subjektivität, alles was animus, anima, spiri-tus, mens auf Latein heißt. Sie können sich vorstellen, was sich da ergibt, wenn sie die Bibel übersetzen - das ist sehr interessant!

Unser Wörterbuch ist voller solcher Sym-ptome, und man muss sagen, dass wir tat-sächlich dasjenige genommen haben, was uns symptomatisch erschien, also diejenigen Beispiele, die immer schon beim Übersetzen oder Lesen Schwierigkeiten bereitet haben, diejenigen Probleme, die uns ins Auge ge-sprungen sind. Wenn Sie zum Beispiel Hei-deggers Sein und Zeit ins Spanische überset-zen, und Sie haben plötzlich zwei Worte für sein, ser und estar, dann ergeben sich da na-türlich sehr interessante Probleme.

Als Untertitel für Ihren Vortrag in Stuttgart haben Sie ein Zitat von Umberto Eco ge-wählt: „Die Sprache Europas ist die Über-setzung“. Was bedeutet das für ihre Vorstel-lung von Europa, wenn unsere Sprache die Übersetzung sein soll?

Cassin: Zunächst einmal ist eine unheimlich weite Vorstellung, die alle Sprachen ein-schließt, die dazu beigetragen haben Europa aufzubauen: Griechisch, Latein, Hebräisch, Arabisch und andere. Daher sind wir von den zeitgenössischen Fragen, von den heutigen Problemen und Sprachen ausgegangen und dann, wo es für das Verständnis notwendig war, zu den vergangenen Sprachen zurück-gegangen. Wir haben versucht zu rekon-struieren, wie die Sprachen zu dem gewor-den sind, was sie heute sind. Dazu ist es hilf-reich einen Blick von außen zu haben, etwas Abstand zu haben. Oft haben daher Brasilia-ner die Artikel über das Portugiesische oder Argentinier diejenigen über das Spanische geschrieben. Es geht uns also um ein kom-plexes Europa ohne Vorurteile, ein Europa, dass sich nicht verschließt, das nicht eine Idee oder ein „Wesen“ ist, mehr energeia als ergon, ein Europa im aktiven Prozess sozu-sagen.

Ist Europa nicht gerade im Begriff, den Reichtum, den die Vielsprachigkeit bedeutet, zu vergessen?

Cassin: Ja durchaus. Selbst in der Schweiz fürchtet man jetzt eine Einsprachigkeit, denn man hat gerade beschlossen, dass die Schüler Englisch vor den anderen Nationalsprachen lernen, in Zürich zum Beispiel. Englisch könnte also die „Servicesprache“, die Spra-che der alltäglichen Kommunikation werden. Natürlich stellen die Servicesprachen nicht an sich ein Problem dar. Die Servicesprachen gab es ja immer schon: das koiné und das La-teinische waren die Servicesprachen der An-tike. Was jedoch gefährlich ist, ist der Mono¬polismus der Servicesprachen, die Abwesen-heit eines Gespürs für die Kultursprachen, der Verlust jedweder sprachlichen Polypho-nie, die darin liegt. Wenn man die Vielfalt der Kulturen in Europa erhalten will, muss man sich widersetzen und den Reichtum der Unübersetzbarkeit in der Verständigung selbst verteidigen.

Cassin, Barbara (ed.) : Vocabulaire euro-péen des philosophies – dictionnaire des in-traduisibles, 1532 p., € 95, 2004, Editions du Seuil, Paris

ECHO (European Cultural Heritate Online) plant eine elektronische Ausgabe des Wör-terbuches,, weitere Informationen dazu unter http://robert.bvdep.com/pulic/vep/accueil.
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Das Gespräch führte und übersetzte Felix Heidenreich (Stuttgart). Es fand anlässlich eines Vortrags von Barbara Cassin am „In-ternationalen Zentrum für Kultur- und Tech-nikforschung“ (IZKT) an der Universität Stuttgart statt. Der Vortrag in der Reihe „Deutsch-französische Wechselwirkungen“ wurde in Kooperation mit dem Institut fran-çais Stuttgart veranstaltet und von der DVA-Stiftung gefördert.


ZITATE

„Die meisten Philosophen benutzen Argu-mente wie ein Betrunkener einen Laternen-pfahl: mehr zur Stützung als zur Erleuch-tung“
Der amerikanische Philosoph M. Orenduff

„Bei den Philosophen gibt es zwei Arten: die unverständlichen und die selbstverständli-chen. Beide brauchen wir hier nicht.“
Ein Rektor der TH Karlsruhe nach dem Krieg (beide Zi-tate nach: Hans Lenk, Rosenmontagsphilosophie)