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Kunz, Hans : Die Neuedition seiner Schriften

Der Schweizer Philosoph Hans Kunz wird neu entdeckt
Die Neuedition seiner Schriften


Hans Kunz wurde am 24. Mai 1904 in Trimbach, im Schweizer Kanton Solothurn geboren. Nach dem Abitur schrieb er sich zunächst an der Universität Basel an der Juristischen Fakultät ein. Im Sommersemester 1927 wechselte er dann nach Heidelberg und hörte dort auch bei Karl Jaspers. „Das auch im Medium der Forschung sich verwirklichende philosophische Denken Jaspers“, so schreibt Kunz rückblickend, gab den Ausschlag, sich der Philosophie zuzuwenden. Allerdings trübte sich die Begeisterung für Jaspers bald. Insbesondere blieb ihm die Blindheit Jaspers für das Werk von Sigmund Freund unbegreiflich. Ihn störte aber auch dessen „mit Niveauverlust“ verbundenes Bemühen um Resonanz. Dennoch: Kunz verdankt Jaspers einiges. So verschaffte er ihm Zugang zur Neuen Zürcher Zeitung, wo Kunz eine Vielzahl von Artikeln, insbesondere Rezensionen, veröffentlichte.

Das wichtigste Ereignis für Kunz war jedoch das Erscheinen von Heideggers Sein und Zeit. Er besuchte Heidegger auch in Freiburg, die Begegnung hinterließ bei ihm aber ein „merkwürdiges, jedoch eindeutiges Misstrauen“ – die Diskrepanz zwischen Werk und Person erschien ihm groß. Deshalb enttäuschte ihn auch die spätere politische Entgleisung Heideggers nicht. Allerdings blieb er bei seiner Meinung, dass Sein und Zeit die philosophische Leistung des Jahrhunderts sei.

Kunz kehrte an die Basler Universität zurück und wandte sich psychologischen und philosophischen Studien zu. Als Doktorvater kam nur Paul Häberlin in Betracht, obwohl ihm dessen Denken zu spekulativ und zu gewaltsam schien. Es setzte nicht bei den Phänomenen ein, sondern ordnete alles in ein vorgegebenes System ein. Das erste und das zweite Dissertationsmanuskript zog Kunz zurück, weil Häberlin Änderungen verlangte, die dessen Auffassungen widerspiegelten, zu denen aber Kunz nicht stehen konnte. Erst in der dritten Arbeit, zur „Phänomenologie und Analyse des Ausdrucks“, konnte dies vermieden werden. Nach der Promotion wurde Kunz von der Stiftung „Lucerna“ finanziell unterstützt und konnte ungestört an seiner Habilitation arbeiten. 1947 gründete er zusammen mit Alexander Mitscherlich und Felix Schottländer die Zeitschrift Psyche. Schon damals und auch später als Universitätsprofessor hielt Kunz Abstand zu den an Universitäten üblichen repräsentationalen Gepflogenheiten.

Kunz verstand sich als Phänomenologe im Sinne eines vorurteilsfreien, nichts von vornherein ausklammernden und nichts hinzubringenden Vernehmens dessen, was uns aus der Welt her und aus der eigenen Innerlichkeit begegnet. Was sich in der Intuition darbietet, ist für ihn immer ein „wenigstens im raumzeitlichen Sinne singulär gegebenes, nie ein Allgemeines“. Die individuellen Merkmale dieser sich darbietenden einzelnen Gegenstände „sehen“ wir vordergründig als Repräsentanten der allgemeinen Arten und Gattungen, zu denen sie gehören oder zu gehören scheinen. Das hebt aber ihre faktische Singularität keineswegs auf, welche wir uns stets in ihrer raumzeitlichen Bestimmtheit bewusst machen können, umso mehr als diese von unserem Wahrgenommenwerden unabhängig ist. Für Kunz stellt sich hier die Frage, ob das „generalisierende Sehen“ eine sensorisch-rezeptive oder aber auch eine produktive Leistung der unserem Wahrnehmen immanenten Denkakte realisiert.

Das überwiegend worthaft vorgezeichnete Erfahren einschließlich des sprachlichen Geordnetseins unserer Welt wie auch die dem Denken immanenten Ideationsund Abstraktionstendenz breiten einen Schleier über die Welt, hinter dem das ihr begegnende Eínzelne in weite Ferne rückt und verkennen lässt, dass nicht nur unsere frühesten Erfahrungen in die präverbale Lebensperiode fallen, sondern dass auch das eigentliche, den singulären Gegebenheiten zugewandte Erfahren in kurzen außersprachlichen Phasen vollzogen wird. Bei den unausdrücklichen naiven Ideationsakten besteht keine Gewähr dafür, dass die „eigentlichen“ eidetischen Merkmale getroffen werden, vielmehr besteht die Gefahr einer „Verewigung“ von Vorurteilen. Für eine Phänomenologie im Sinne von Kunz geht es hingegen darum, die sich durchhaltenden ähnlichen Züge herauszuarbeiten und in einem Wesensbegriff zusammenzufassen, mit dessen Hilfe man dann auf die entsprechenden, an sich primären singulären Konkretionen hinweisen kann. Hinzu kommt für Kunz ein anthropologischer Aspekt: die Berücksichtigung des ganzen, jederzeit und zumal im Alltag in konkreten Umweltund Weltbezügen befindlichen, sich selbst verstehenden Menschen, in die Einzelbefunde – auch experimentelle – integriert werden müssen.

Hans Kunz gehörte zu den Philosophen, die sich nie in den Vordergrund drängten und denen es stets um die Sache, nie um die Person ging. Er hat denn auch, so schreibt sein Schüler und Werk-Herausgeber Jörg Singer, mehr im Stillen gewirkt. Sein Hauptwerk ist die 1946 vorgelegte zweibändige Habilitationsschrift Die anthropologische Bedeutung der Philosophie. Im ersten Band schildert er, dass die reduktionistischen psychologischen Theoriebildungen den phänomenalen Gehalt des Phantasierens nicht ausreichend zu erhellen vermögen. Im zweiten Teil entfaltet er in der Form einer Kritik an Heideggers Sein und Zeit eigene ursprungsphilosophische Fragestellungen. Heidegger kannte diese Kritik, und er schrieb in einem Brief an Kunz, dass sein Buch künftig „in jeder guten Werkstatt des Denkens zur Hand sein“ müsse. Dennoch fand das Bändchen Die Aggressivität und die Zärtlichkeit größere Beachtung. Kunz weist darin den reaktiven, versagungsbedingten Charakter aller destruktiven Aggressivität und die Ursprünglichkeit eines Zärtlichkeitsbedürfnisses nach. Er zeigt aber auch die ungeklärten Voraussetzungen der klassischen Aggressionstriebtheorien und der reiz-reaktionsmechanistischen Erklärungsschemata auf. Dabei sind seine Analysen vom Anspruch und Ethos getragen, das unverkürzte und erfahrende Erkennen offen zu halten. Sein Kollege W. Keller schrieb dazu: „Kunz würde sich mit der Aussage bescheiden, dass sein grundlegender Impuls dahin gehe, die Phänomene nirgends zu vergewaltigen“, sondern „ihnen als solchen und in ihrem Beziehungsreichtum gerecht zu werden“. Das Anliegen von Kunz, wieder in den Worten Kellers, bestand in der „Anerkennung und rechten Erfassung des primär naturhaften Geschehens, das im menschlichen Dasein den Untergrund aller spontanen Ich-Tätigkeit bildet“, aber auch im „kämpferischen Bestreben, gegen die Auffassung und Handhabung des Erkennens als gewaltsame, herstellende und setzende Tätigkeit dem gewahrend-empfangenden Charakter aller geistigen Einsicht zur ursprünglichen Geltung zu verhelfen“.

1946 wurde Kunz Redakteur des deutschsprachigen Teils des Schweizer Jahrbuches Studia philosophica. Er schrieb zudem (so nebenbei) siebenundzwanzig kleinere und größere Arbeiten zur Botanik, die von der Fachwelt hoch geschätzt wurden. Im Zentrum stand dabei die Flora der Schweiz und insbesondere der näheren Umgebung von Basel, aber er beschäftigte sich darüber hinaus auch mit der Flora Deutschlands, Österreichs, Italiens und Spaniens. Es gab wohl niemanden, der die Flora rund um Basel besser kannte als Hans Kunz. Zwei Planzenarten sind nach ihm benannt, der Ranunculus kunzii W. Koch sowie der Rhinantus kunzii W. Koch, letzteres eine Klappertoph-Hybride. Seine Liebe zur pflanzlichen Kreatur ging Kunz tief zu Herzen, sie wurde aber scheu gepflegt und äußerte sich, wie sein Botaniker-Kollege Max Moor in einem Nachruf schrieb, „leise und in charakteristischer Zurückhaltung“. Bei seinen Arbeiten zur Philosophie, Psychologie und Botanik hatte Kunz stets das gleiche Ziel: die Natur in ihrer Wesenhaftigkeit zu erkennen. Seine Beziehung zu den Pflanzen war diejenige der alten Griechen: Er wollte nur wissen und freute sich am Entdeckten und Erlauschten, die Frage nach der praktischen Verwendung war ihm fremd.

Kunz ist der letzte bedeutende und inzwischen in Vergessenheit geratene Vertreter der phänomenologischen Psychologie. Dass deren Zeit abgelaufen war, hatte Kunz selber noch festgestellt und sich gegen eine Neuauflage seiner Schriften gewandt: „Solche Analysen finden in der gegenwärtig herrschenden und vermutlich auch in der künftigen Psychologie keinen Platz mehr…(Diese) verwirft die betrachtende Erfassung des unmittelbar erfahrbaren und dann begrifflich verallgemeinerten unverkürzten menschlichen Erlebens und Gebarens als ‚unwissenschaftlich’ oder ‚spekulativ’“.

Ob sich die Zeiten geändert haben? Der Frauenfelder Verlag Hans Huber hat mit einer Neuauflage der Schriften begonnen, die von Jörg Singer betreut wird und auf sechzehn Bände geplant ist:

1. Die anthropologische Bedeutung der Phantasie. 2. Die Endlichkeit des Menschen. Sieben Abhandlungen zur Anthropologie. 3. Das Wesen der Erfahrung. 4. Aggressivität, Sexualität, Zärtlichkeit. Phänomenologische und anthropologische Studien zur Psychologie und Psychpathologie. 5. Zur Frage nach der Natur des Menschen. 6. Die eine Welt und die Weisen des In-der-Welt-Seins. 7. Die Wahnhaftigkeit des Menschen und die Gewissheit des Todes. 8. Daseinsanalytische und anthropologische Studien zur Psychopathologie. 9. Zu Sigmund Freud und zur Psychoanalyse 10. Die philosophische Bedeutung der Psychoanalyse Freuds. 11. Zur Phänomenologie des Ausdrucks, 12. Zur Philosophie des 20. Jahrhunderts, 13. Philosophie, Psychologie und Kulturkritik, 14. Botanische Schriften, 15. Zur Botanik. Aus dem Briefwechsel. 16. Nachträge und Verzeichnisse.
Als erster ist Band 4 erschienen:

Aggressivität, Zärtlichkeit und Sexualität. Phänomenologische und anthropologische Studien zur Psychologie und Psychopathologie. Herausgegeben von Jörg Singer. 454 S., Ln., € 58.90, Hans Kunz Gesammelte Schriften in Einzelausgaben Band 4.

Das Buch gehört in die Vorbereitungszeit zum zweibändigen Hauptwerk Die anthropologische Bedeutung der Philosophie und enthält verschiedene psychologische Abhandlungen.

Kunz hielt es für wichtig, in seine philosophische Anthropologie psychologische, biologische und kultursoziologische Analysen einzubeziehen und hatte zu diesem Zweck drei phänomenologische Beiträge zu Aggressivität, Zärtlichkeit und Sexualität veröffentlicht, die in diesem Band abgedruckt sind. Ihm geht es dabei darum, den betreffenden Sachverhalt, so wie er scheint, ohne Vorgriff auf wissenschaftstheoretisch verfestigte Kategorien und unter Verzicht auf alle phänomenologisch nicht ausgewiesenen Konstruktionen darzustellen. Kunz ist sich dabei aber bewusst, dass sich eine phänomenologische Psychologie nicht auf dem direkten Wege eines die schlichten Befunde sich vorgebenden naiven Realismus verwirklichen lässt. Diese bleibt unausweichlich in ein Fragen eingebunden, die nicht-gegenstandsspezifische Verweisungen enthält und daher grundsätzlich philosophischer Natur ist.


REINHOLD

Beiträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse der Philosophen


Nachdem Karl Leonhard Reinhold seinen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens 1789 veröffentlicht hatte, dachte er daran, eine Zeitschrift namens Beyträge zur Berichtigung bisheriger Missverständnisse herauszugeben, in der er auf die Einwände antworten wollte, die von verschiedenen Seiten an ihn gerichtet worden waren. Diese Absicht änderte aber bald, und Reinhold teilte den Subskribenten im Juli 1790 mit, dass er die Form eines Buches derjenigen eines Journals vorziehe. Dieses Buch sollte einen „neuen und zusammenhängenden“ Versuch über die Elementarphilosophie darstellen, und deshalb sei die ursprünglich geplante Form „unzusammenhängender, und von Zeit zu Zeit veranlasster Aufsätze“ ungeeignet.

Faustino Fabianelli hat diese „Beyträge“ im Rahmen der „Philosophischen Bibliothek“ ediert und mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen:

Reinhold, Karl Leonhard: Beiträge zur Berichtigung bisheriger Mißverständnisse der Philosophen. Erster Band, das Fundament der Elementarphilosophie betreffend. 452 S., Ln., 2003, € 68.—, Philosophische Bibliothek Band 55a, Zweiter Band, CVIII, 408 S., 2004, € 78.—, Philosophische Bibliothek 55b, Felix Meiner, Hamburg

Wie Fabianelli in seiner Einleitung ausführt, sieht Reinhold den Hauptfehler aller bisherigen, selbst der kritischen, Philosophie im „Mangel eines allgemeingeltenden Princips“. Eines der wesentliche Missverständnisse, durch welche die Philosophen bislang abgehalten wurden, sich über ein solches Prinzip zu einigen, sei „die Verwechslung allgemeingeltender Gründe mit allgemein geltenden Grundsätzen“. Reinhold hofft auf einen Frieden in der Philosophie, wenn sich die Philosophen auf einen allgemein geltenden Grundsatz einigen und auf ihre unwichtigen Verschiedenheiten verzichten.

In den „Beyträgen“ geht es nun nicht mehr wie im „Versuch“ darum, eine völlig neue Theorie aufzustellen, sondern vielmehr darum, diese zu rechtfertigen und gegen die Einwendungen und Missverständnisse, die ihr begegnet sind, zu verteidigen. Der von Fabianelli herausgegebene Band beinhaltet sechs Abhandlungen, zwei Rezensionen des Versuchs, auf die Reinhold anschließend antwortet, sowie drei Texte, die die Auseinandersetzung zwischen Heydenreich und Reinhold dokumentieren.

Die von Reinhold angewendete Verteidigungsstrategie besteht darin, eine Definition der Philosophie als die „Wissenschaft desjenigen, was durch das bloße Vorstellungs-Vermögen bestimmt ist“, einzuführen. Dies soll es ermöglichen, Philosophie als strenge Wissenschaft zu betrachten und die bisherigen Missverständnisse zu beseitigen. Zunächst widerlegt Reinhold jedoch in der ersten Abhandlung Definitionen der Philosophie, die von einigen Hauptvertretern verschiedener Ansätze – empirischer Art wie bei Feder oder rationalistischer Art wie bei Platner oder Baumgarten – vorgeschlagen worden waren. In der vierten Abhandlung geht er der heiklen Frage nach dem Verhältnis zwischen seiner Elementarphilosophie und der Kantischen Kritik nach und diskutiert, inwiefern Kants Philosophie ungenügend sei. Seine Hauptthese lautet dabei: Alles, was in der Kritik der reinen Vernunft als „Grund“ erscheint, muss in der neuen Theorie als Folge angesehen werden: „Da sie den Begriff der Vorstellung überhaupt, folglich die Gattung, wirklich unbestimmt gelassen hat; so hat sie insoferne auch die Begriffe von sinnlicher Vorstellung, Begriff und Idee in Rücksicht auf dasjenige, wodurch sie zu bloßen Vorstellungen werden, und was sie zu Arten einer Gattung macht, unbestimmt lassen müssen; und ungeachtet sie daher die vollständigen Materialien zu einer Theorie der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft geliefert hat, so hat sie doch keineswegs diese Theorien selbst geliefert, die nur als Theorien der Arten von der Theorie der Gattung unzertrennlich aufgestellt werden können.“

Reinhold stellt erstmals das Konzept einer „Philosophie der Philosophie“ bzw. „Wissenschaft der Wissenschaften“ vor – ein Konzept, das innerhalb der klassischen deutschen Philosophie weiter entwickelt werden wird. Diese Elementarphilosophie muss sich auf die Untersuchung und Entwicklung desjenigen beschränken, „was ursprünglich und unmittelbar im bloßen Bewusstsein jedes Menschen bestimmt ist“, Sie besteht insbesondere in der Deduktion aller ursprünglichen Formen des Bewusstsein als „dem ersten allgemeingeltenden Grund“. Soweit man zeigen kann, dass solche Formen den verschiedenen Wissenschaften zugrunde liegen, wird es auch möglich zu behaupten, dass die Elementarphilosophie eine „Philosophia prima“ darstellt. Elementarphilosophie und Theorie des Vorstellungsvermögens sind danach ein und dasselbe, da die erste sich nur mit den ursprünglichen Formen der Vorstellungen befasst, andererseits aber – und zwar dann, wenn man mit „Theorie der Vorstellungsvermögen“ die im Versuch dargestellten Inhalte bezeichnet – voneinander verschieden, weil jetzt der erste Grundsatz, aus dem diese Formen abgeleitet werden, der des Bewusstseins ist. Dieser Satz des Bewusstseins, das allgemeine Prinzip, der zum Kern der neuen Theorie geworden ist, drückt ein Faktum, eine Tatsache, nämlich die des Bewusstseins, aus.

VELLANSKIJ

Schellings Naturphilosophie wurde von dem russischen Arzt und Philosophen Daniil M. Vellanskij (1774-1847) im russischen Sprachraum bekannt gemacht. Dieser veröffentlichte im Jahr 1805 in russischer Sprache Prolusion zur Medizin als Grundwissenschaft, worin er für ein neues Verständnis der Medizin als Wissenschaft auf naturphilosophischer Basis eintrat und sich dabei auf Schellings spekulativen Ansatz zu einer Systematisierung der Medizingeschichte stützte. Bis 1836 veröffentlichte Vellanskij eine Reihe weiterer Werke über Medizin, Biologie und Physik, in denen er sich weiterhin an Schellings Naturphilosophie orientierte. Dabei können Vellanskijs Verdienste für die Schelling-Rezeption in Russland nicht hoch genug angerechnet werden.

Thomas Bach hat nun erstmals die frühen Schriften Vellanskijs, darunter die Prolusion, in deutscher Übersetzung herausgegeben:

Bach, Thomas: Schelling in Russland. Die frühen naturphilosophischen Schriften von Daniil Michajlovic Vellanskij (1774-1847). 344 S., kt. € 64.—, 2005, Basilisken-Presse, Marburg.

Im Prolusion argumentiert Vellanskij, in der Medizin fehle eine „positive Substanz“, und deshalb habe diese eine rein zufällige Gestalt. Auch dürfe die Medizin nicht getrennt von der Philosophie betrachtet werden, weil sie sonst ihre Stellung unter den Wissenschaften verliere. Eine wahre Physiologie, das heißt eine Physiologie verstanden als „höchste Wissenschaft vom Organismus“, könne „nicht auf der Sphäre des Sinnlichen gegründet werden“, die Erklärungen der organischen Erscheinungen sei vielmehr Sache der Philosophie, und das spreche gegen die Unterscheidung von Physik und Metaphysik.
Vellanskij geriet mit seinen Ansichten zwischen alle Fronten: Von den Naturwissenschaftlern wurde er verhöhnt, von den klerikalen Kreisen wurde er verfolgt. Dennoch bliebt er seiner Überzeugung bis zum Tode treu.
Der Band enthält neben dem Prolusion weitere kleine Arbeiten sowie Briefe des Autors und zudem eine umfassende Darstellung der Biographie Vellanskijs, die einen guten Einblick in die frühe SchellingRezeption in Russland gibt.

HUSSERL

Einleitung in die Ethik


In Husserls Nachlass findet sich das Manuskript einer vierstündigen Vorlesung „Einleitung in die Ethik“, die Husserl im Sommersemester 1920 an der Universität Freiburg gehalten und die er im Sommer 1924 unter dem Titel „Grundprobleme der Ethik“ wiederholt hat. Henning Peucker vom HusserlArchiv der Universität Köln hat den Text im Rahmen der Husserl-Gesamtausgabe „Husserliana“ veröffentlicht:

Husserl, Edmund: Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1929/24. Herausgegeben von Henning Peucker. 502 S., Ln., € 230.—, 2004, Husserliana Band XXXVII, Springer, Berlin.

Die Vorlesung führt anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit zentralen Positionen aus der Geschichte der Ethik in Husserls eigene Philosophie ein. Sie dokumentiert damit – wie der Herausgeber in seiner Einleitung ausführt – sowohl Husserls produktiven Umgang mit der Geschichte der Philosophie als auch den Entwicklungsstand seiner phänomenologischen Ethik zu Beginn der Zwanziger Jahre.

In der Entwicklungsphase von Husserls Ethik, in der diese Vorlesung entstand, beeinflusste, wie der Herausgeber schreibt, der Begriff der Person Husserls Ethik maßgebend. Sie unterscheidet sich damit von seiner Ethik der Hallenser und Göttinger Jahre, die stark unter dem Einfluss seines Lehrers Brentano stand. Die Ethik der frühen Freiburger Jahre ist geprägt durch neue Einsichten in die Struktur der personalen Subjektivität und durch die Lektüre Fichtes. In ihr wird ein umfassendes Ideal eines ethischen Lebens formuliert, das zu realisieren individuelle Berufung und ständige Aufgabe jeder Person ist. Das ethische Leben ist gemäß diesem Ideal ein in all seinen Vollzügen vernünftig zu rechtfertigendes Leben. In diesem wäre die Willensrichtung auf das Gute habituell derart verfestigt, dass sie den gesamten Charakter der Person prägen und auch ihre künftigen Vollzüge als ethisch verantwortbare vorzeichnen würde. Husserls Ethik ist von dieser Idee eines durchgängig vernünftig geführten Lebens und von Fichtes Gedanken eines absoluten Sollens bis in die Mitte der Zwanziger Jahre bestimmt.

Als Husserl die Vorlesung niederschrieb, war die Not der Kriegsfolgen mit Hunger, wachsender Kriminalität und einer zunehmenden Inflation allgegenwärtig. Husserl verlor seinen Sohn Wolfgang im Krieg. Für ihn war der Krieg „der universalste und tiefste Sündenfall der Menschheit in der überschaubaren Geschichte“, der „alle geltenden Ideen in ihrer Unklarheit und Unechtheit erwiesen hat“. Das hatte mit zur Folge, dass Husserl vermehrt an ethischen Fragen arbeitete. In seiner Vorlesung von 1920 hatte er zumindest am Anfang ca. 300 Zuhörer – eine erstaunliche Zahl bei insgesamt 4000 Studierenden an der Universität Freiburg. Unter den Hörern waren u. a. Oskar Becker, Franz Josef Brecht, Norbert Elias, Karl Löwith, Herbert Marcuse, Friedrich Neumann, Ernst Stern, im Sommersemester 1924 Ludwig Landgrebe und Hans Jonas.

Es muss eine Kunstlehre geben (oder zumindest postuliert werden), die über allen menschlichen Kunstlehren steht, mit einer Regelgebung, die sie insgesamt übergreift, und das ist die Ethik. Die für die Möglichkeit einer solchen ethischen Kunstlehre bestimmende Frage ist: Gibt es allgemeine Prinzipien, gibt es normativ oberste Gesetze, nach denen sich alle Willensziele und insbesondere alle möglichen Endzwecke vor der Vernunft als richtige und unrichtige scheiden lassen?
Die Bestimmung der Ethik als praktische Kunstlehre richtigen Handelns ist jedoch nicht das letzte Wort, das über die Ethik zu sagen ist. Die Ethik ist vielmehr die Kunstlehre, die auf das absolut Gesollte, auf die absolute Forderung der praktischen Vernunft bezogen ist. Dabei bedeutet Kunstlehre nicht so etwas wie eine Handwerkslehre, vielmehr eine Lehre, die sowohl wissenschaftliche Theoreme mit ihren theoretischen Begründungen behandelt als auch deren Anpassung an die konkreten praktischen Sachlagen und schließlich alles, was dazu dienen mag, ein möglichst fruchtbares Regelsystem für die geforderten zweckmäßigen Leistungen rational zu begründen.

Kunstlehren bezeichnet man als wissenschaftliche Disziplinen, weil zum einen jeder theoretische Satz a priori praktisch gewendet werden kann, umgekehrt aber a und das ist für Husserl hier das Wichtige jeder praktische Satz auch theoretisch gewendet werden kann. Das theoretische Gebiet der Kunstlehren ist das der Wahrheiten über Zweckund Mittelordnungen. Zum Wesen aller Technologien gehört es, dass diese Wissenschaften auf sie fundierende und nicht mehr selbst technische Wissenschaften zurückgeführt werden müssen. Entsprechend muss eine allgemeine Ethik in einer Wertelehre fundiert sein.

Es ist für Husserl eine zwitterhafte Halbheit, wenn man wie bis kurz zuvor darin stecken blieb, sowohl die Logik als auch die Ethik als eine unter dem Gesichtspunkt des Praktikers zu entwerfende Kunstlehre anzusehen und als rein wissenschaftliche Technologie in einer Weise zu behandeln, die dem philosophischen Interesse nicht Genüge tun konnte. Die Folge sieht Husserl darin, dass man durch das Schwergewicht der praktischen Motive gehemmt nicht bis ans philosophisch Letzte ging, dass man nicht radikal genug in die theoretische Fundierung eindrang. In der Ethik geht es darum, sich von aller praktischen Abzweckung zu befreien und sich zu einer rein theoretischen Haltung zu erheben. Allerdings ist in der Ethik die volle Durchführung der ethischen Analysen und die zugehörige Scheidung notwendiger analytischer Disziplinen schwieriger als in der Logik. Die Philosophie ist aber weniger an einer, sei es noch so wissenschaftlichen. Technologie des empirischen menschlichen Vernunfthandelns interessiert als vielmehr an den apriorischen Fundamentaldisziplinen von der Vernunft im Werten und Wollen überhaupt, bezogen auf ein völlig unbestimmt und in reiner Allgemeinheit gedachtes Willenssubjekt.

Durch eine Kritik der verschiedenen historischen Ethikansätze will Husserl zeigen, dass eine philosophische Ethik ihren eigentümlichen Sinn nur als eine „reine“ Ethik, als eine apriorische Wissenschaft von der praktischen Vernunft und ihren Korrelaten haben kann. Er beginnt mit Hobbes und der hedonistischen Ethik und versucht zu zeigen, dass die hedonistischen Argumente auf apriorischen fußen, die aber a priori widersprüchlich sind. Der Hedonismus wirft Werten und Wert zusammen. Anstatt zu sagen, alles Streben richtet sich auf ein Gut, sagt er, es richte sich auf das Gut-Finden, auf die Lust – was für Husserl eine fundamentale Vermengung bedeutet. Denn es ist falsch, das Wertnehmen, das den Wert selbst erfassende Fühlen mit dem erfühlten Wert zu identifizieren. Das Wert nehmen ist ein Akt des fühlenden Subjekts. Der Wert aber eignet dem Objekt. Auf der einen Seite haben wir den zeitlich vorübergehenden subjektiven Akt, auf der anderen Seite den überzeitlichen Wert.

Nicht nur sind die ethischen Argumentationen ihrem Kern nach apriorisch, a priori sind auch alle für die Beurteilung ihres Sinnes vorauszuschickenden Bewusstseinsanalysen, diese haben Wesensgültigkeit. Eine endgültige wissenschaftliche philosophische Prinzipienlehre, später eine philosophische Ethik und als ihr Fundament eine wissenschaftliche Wertlehre, erfordert eine apriorische Phänomenologie des zu ihr in Korrelationsbeziehung stehenden Bewusstseins, hier also des fühlenden, begehrenden, wollenden in all seinen mannigfaltigen, aber immer a priori vorgezeichneten Abwandlungen.

Husserl unterscheidet innerhalb der Geistigkeit zwei voneinander unabtrennbare, weil wesensmäßig aufeinander bezogene Stufen: die niedere Stufe des bloß Seelischen, und die höhere, die der Geistigkeit in einem ausgezeichneten Sinne. Die niedere Stufe ist die der reinen Passivität, des ichlosen, ohne aktive Ichbeteiligung verlaufenden Untergrundes. Jeder Ichakt und jedes im Zusammenhang von Akten sich konstituierende Bewusstseinsgebilde versinkt selbst in das ichlose Reich der Passivität und übt dort, inaktiv geworden, eine passive Motivationskraft aus (weshalb zwischen primärer und sekundärer Passivität zu unterscheiden ist). Bei ohne Ichbeteiligung wirkenden Emotionen kann nicht nach Vernunft, nach der Wahrheit oder Falschheit, nach deren Güte oder Schlechtigkeit gefragt werden. Auch die im seelischen Untergrund in ursprünglicher und reiner Passivität auftretenden, also ichlosen Gefühle und Triebe und die ihnen zugehörigen Motivationen sind an sich weder vernünftig noch unvernünftig. Das Reich der Vernunft bilden vielmehr die vom Ich aus vollzogenen Akte, und diese speziell nach Seiten der in diesen Akten vom Ich vollzogenen Setzungen als Setzungen dieses und jenes Sinngehaltes. Diese in der Aktsphäre auftretenden neuartigen, ihr spezifisch eigenen Motivationen sind Motivationen der Vernunft. Diese stehen unter Fragen der Vernünftigkeit und Unvernünftigkeit und Rechtmäßigkeit und zwar nach dem Sinn der Schönheit als deren ästhetische Rechtmässigkeit, der theoretischen Wahrheit als der logischen Rechtmäßigkeit und ebenso der ethischen Rechtmäßigkeit.

Die Vernunftfrage gehört zu jeder spezifischen Aktkausalität. Es ist für Husserl eine fundamentale Wesenstatsache, das alle Aktmotivationen in einsichtige Begründungen oder einsichtige Abweisungen verwandelt werden können. Nur wenn man dafür blind ist, kann es zu dem Widersinn kommen, dass man eine Ethik begründet, in der man den Grund der ethischen Motivation aufgewiesen zu haben glaubt durch eine Art mechanischer, naturalistischer Erklärung des Entstehens „selbstlosen“ sozialen Handelns aus dem Egoismus. Solche Theorien sehen geistige Tatsachen wie Tatsachen der Natur an, sie sehen das Seelenleben als ein Kommen und Gehen von bloßen Sachen im Bewusstseinsraum, die ihren eigenen Mechanismus haben. Für Husserl sind alle ethischen Fragen Rechtsfragen, Vernunftfragen.

So weit idealiter überhaupt die Möglichkeit reicht, dass ein Satz, den ein Ich setzt, von jedermann gesetzt und durch ideal mögliche Einfühlung als derselbe von jedermann erkannt werden kann, so weit ist a priori auch jede Begründung Gemeingut, jede Wahrheit oder Falschheit ein echter Wert. Das liegt daran, dass jede Vernunftart unter Wesensgesetzen steht, die als solche selbst in ihrer absoluten Wahrheit eingesehen werden können.

Für Husserl gilt: Kein apriorischer Satz darf als gültig anerkannt werden, der nicht als Wesensnotwendigkeit in reiner Intuition erschaut wurde. Deshalb nimmt er Kants Deduktionen mit Kopfschütteln auf: Kant hält sich von allen phänomenologischen Analysen fern, er hält sich an die bloßen Begriffe, und diese sind für Husserl im Grunde nichts als tote, dem ursprünglich sinngebenden Akt entfremdete Wortbedeutungen. Kant hat sich nie die Wesenszusammenhänge klar gemacht, die für den Ursprung der Begriffe der Urteilswahrheit und –richtigkeit maßgebend sind. Husserl fragt: Gibt es so etwas wie Willensgültigkeit? Kann es einen Unterschied zwischen Willensmeinung und einsichtigem, ursprünglichem Recht, Willensrecht in sich bergendem Bewusstsein geben? Husserl wirft Kant vor, er gehe ohne jede Klärung an eine transzendentale Deduktion. Für widersinnig hält Husserl insbesondere die Rede von einem unendlichen Vernunftwesen, das in Kantischem Sinne nur reinen Willen hat. Ist es, so fragt er, denkbar, dass ein Wollen frei sei von allen Werten, also allem Fühlen? Wäre ein solches Wollen nicht so widersinnig wie ein Ton ohne jede Tonintensität oder eine Farbe ohne jede Ausbreitung? Kant, so kritisiert er, übersieht die Möglichkeit einer Willensbestimmung durch ideale Gegenständlichkeiten und verkennt die apriorischen Wesensgesetzlichkeiten der Gefühlsund Empfindungssphäre.

Der echte Sinn des Apriori sind die in reinem Schauen erfassten Wesenswahrheiten. Er ist bezeichnet durch das Reich der in reinem und vollkommenen Schauen der generellen Evidenz erfassten Wesenswahrheiten, d. i. der Wahrheiten, die in ihrem allgemeinen Sinn keine Setzung von singulärem, individuellen Dasein einschließen und bloß aussagen, was zu reiner Allgemeinheit, reinen Ideen oder Wesen als solchen untrennbar gehört, als also für jedes mögliche Individuelle, das Einzelheit solcher Allgemeinheiten ist, unbedingt gelten muss. In jeder Sphäre der Sinnlichkeit walten nach Husserl solche reinen Wesensgesetze, Wesensgesetze etwa für die Geltung von Gefühlen, die davon sprechen, wie gefühlt werden soll, welches Fühlen ein rechtmäßiges, ein gültiges sei. Die Gefühlssphäre ist noch wenig durchforscht und deren Gefühlslogik als Analogon der Urteilslogik ist erst jetzt im Zusammenhang mit der Phänomenologie im Entstehen.

Kants Verdienst ist es, so Husserl, gegen die Scheinmoral des Ästhetizismus für eine Pflichtmoral eingetreten zu sein. Aber seine Forderung, von dem Sachgehalt abzusehen. ist in der Willenssphäre genauso widersinnig wie in der Denksphäre.

HEIDEGGER

Die Korrespondenz mit Ludwig von Ficker

Georg Stroomann, der Leiter des Kurhauses und Sanatoriums Bühlerhöhe bei Baden-Baden, organisierte von 1949 bis 1957 an den sog. „Mittwoch-Abenden“ Vorträge von bekannten Gelehrten, Künstlern und Politikern zu den großen Themen der Zeit vor einem Publikum, das sich aus der Rentierprominenz Baden-Badens zusammensetzte. Heidegger hat dabei insgesamt viermal vorgetragen. Es gibt Aufzeichnungen von Stroomann über diese Vorträge. Danach hätten Heideggers Reden gewirkt „wie eine Feier, eine Durchglühung. Das Wort verstummt. Wenn sich aber Diskussion meldet, enthält dies höchste Verantwortung, aber auch letzte Gefahr“.

Am 4. und 5. Oktober 1952 fand auf der Bühlerhöhe eine Gedenkfeier zu Ehren des Dichters Georg Trakl statt. Eingeladen war dabei Ludwig von Ficker, der über vier Jahrzehnte alleinverantwortlich die berühmte Zeitschrift Der Brenner herausgegeben hatte. Hier waren vor dem Ersten Weltkrieg regelmäßig Gedichte von Trakl erschienen. Ficker hatte zu Trakl sowohl in künstlerischer wie auch menschlicher Hinsicht eine enge Beziehung. Er gewährte dem Künstler in seinem Haus Unterkunft und konnte dessen Schaffensvorgang unmittelbar mitverfolgen.

Heidegger hält bei diesem Anlass die Rede „Georg Trakl, eine Erörterung seines Gedichts“, und von Ficker berichtet von seiner Beziehung zu Trakl. Dabei kommt es zu einer persönlichen Begegnung zwischen Heidegger und dem damals 72jährigen von Ficker, aus der sich eine Freundschaft entwickelt. Matthias Flatscher hat den Briefwechsel zwischen den beiden kommentiert herausgegeben:

Martin Heidegger/Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1952-1967. 176 S., Ln., 2004, € 22.—, Klett-Cotta, Stuttgart.

Er beginnt mit einem Dank von Fickers an Heidegger für die würdige Feier zu Ehren Georg Trakls, „deren Seele und aufschlußbereiter Mund Sie gewesen sind“. Dabei passt sich von Ficker in Stil und Begrifflichkeit der Heideggerschen Sprechweise an, ja er übernimmt diese geradezu. Der ältere Ficker übernimmt aber auch die Rolle des Bewunderers von Heidegger. Er habe, so schreibt er, Heideggers „Ausführungen zum Aufspüren und Erhellen des Orts, an dem das Trakl’sche Gedicht west und seine Bedeutung enthüllt“, mit genügender Empfänglichkeit „für das Tiefbegründete Ihrer Darlegungen folgen können“. Heidegger wiederum war beeindruckt von Fickers Erinnerungen an Trakl: „Keiner der Anwesenden blieb unbetroffen von der durch Sie zum Scheinen gebrachten Gegenwart des Dichters.“

Von Ficker unterläuft das Versehen, Heideggers Texte „Feldweg“ und „Holzwege“ zu verwechseln. Er befürchtet, dadurch das Vertrauensverhältnis zu Heidegger leichtfertig aufs Spiel gesetzt zu haben. Heidegger reagiert großzügig: „Wie sollte sich mein Verhältnis zu Mitmenschen, und gar in Ihrem Fall darnach bemessen, ob sie eine oder mehrere oder gar keine meiner Schriften gelesen haben. Je mehr ich der unvergeßlichen Begegnung mit Ihnen nachdenke, um so dankbarer und staunender werde ich für die Gnade, die Ihnen geschenkt wurde, der entdeckende und helfende Freund dieses Dichters zu werden und zu bleiben.“

In von Fickers Briefen, so zurückhaltend diese inhaltlich auch sind, kommen immer seine religiösen Anschauungen zum Ausdruck. So schreibt er, er habe „das bestimmte Gefühl, daß Einweisungen im Herzen von Mitmenschen, die unterwegs einander notdürftig erkennen, den Geist der Suchenden noch immer auf die Fährte einer Wahrheit zu setzen vermögen, die in Wort und Schweigegehalt der göttlichen Offenbarung geborgen zeitweilig anziehend und beunruhigend gerade in ihrer vorläufigen, ihrer vorübergehenden Verhülltheit ist“. Von Ficker sendet Heidegger das Bild der Büste Trakls, das dieser auf seinem Schreibtisch aufstellt. Heidegger kommt nun in einem Brief, in dem er über den Blick Trakls spricht, auf Gott zu sprechen: „Ein echtes Glück ist es, diesem Blick, mit tastenden Schritten freilich, folgen zu dürfen in die Weite des Wesentlichen, aus der nur Gott spricht.“
Gemeinsam ist beiden die Überzeugung, dass sich in der Dichtung Wahrheit, oder in den Worten von Fickers, dass sich „in deren abgründig Seherischem zwischen Himmel und Erde“ eine „zeitentrückte Wirklichkeitserfahrung“ zeigt. Für von Ficker ist dies dem „Tiefblick“ des Heideggerschen Einsehvermögens verwandt. Heideggers „konsequent gewagtes Denken“ gebe „erstaunliche Ausblicke“ auf Dichter wie Hölderlin und Trakl. Beide fühlten sich wesensverwandt. „Es schien mir, er sei in manchen Wesenszügen mir so ähnlich, dass es mich beinah’ beunruhigte“, schreibt Ficker an einen Bekannten. In Heideggers Denken habe er etwas „behutsam exemplifiziert“ gefunden, „was er als erhoffte, doch vergebens angestrebte Klarsicht“ immer gesucht habe.

Auch Heidegger ist von der Beziehung sehr angetan: „Es gehört zu den schönsten Schickungen des vergangenen Jahrzeits, dass ich Ihnen und Ihrer Umwelt begegnen durfte.“ Es ist eine lebenslang anhaltende Freundschaft entstanden. Heidegger besucht von Ficker und Trakls Grab in Innsbruck, und von Ficker besucht später Heidegger in Freiburg. Dabei bleibt von Ficker zeitlebens in der Rolle des Verehrers: Er empfinde die Zuneigung, die Heidegger ihm entgegenbringe „ja allein schon die Tatsache, daß Sie, ein weltberühmter Denker im Wirrsal unserer Zeit, meiner überhaupt gewahr wurden im unauffälligen Anspruch meiner Existenz“, als eine Wohltat, „der ich nur schwer einen Namen geben könnte“.
Man könne, schreibt Jürgen Busche in der „Süddeutschen Zeitung“, schwer sagen, was überwiege: die Emsigkeit, mit der sich die beiden gegenseitig ihre Hochachtung versichern, oder die Freundschaft, die in der allmählichen Veränderung der Anrede und in etlichen winzigen Details zum Ausdruck komme.

COLLINGWOOD

Die Idee der Natur

Nach seinem Tod im Jahr 1943 geriet der britische Philosoph Robin G. Collingwood, der von 1935 bis 1941 als Vorgänger von Ryle den einflussreichen Lehrstuhl für Metaphysik an der Universität Oxford innehatte, selbst in Großbritannien in Vergessenheit. Seit einem Jahrzehnt ist jedoch das Interesse an diesem Vertreter der historisch-hermeneutischen Tradition und Kritiker der analytischen Philosophie wieder größer geworden.

Im Suhrkamp-Verlag ist nun eine von Martin Suhr übersetzte Ausgabe von Collingwoods The Idea of Nature erschienen, versehen mit einem Nachwort von Axel Honneth:

Collingwood, Robin G.: Die Idee der Natur. 234 S., kt., € 10.—, 2005, stw 1747.

Das Buch beinhaltet eine Geschichte der Naturauffassung in der Philosophie, von der griechischen Kosmologie über Hegel bis zu Whitehead. Es ist die erste deutsche Übersetzung dieses Werkes, bislang sind von Collingwood nur zwei Bücher (Denken und Philosophie der Geschichte, beide 1955) übersetzt worden – Collingwood ist in Deutschland, wie Honneth im Nachwort klagt, weithin unbekannt geblieben. Das Buch werde, so meint Honneth, auf die wieder entbrannte Debatte um den Stellenwert des Naturalismus eine heilsame Wirkung ausüben, denn: „mit Hilfe der Unterscheidungen, die Collingwood hier am menschlichen Verständnis der Natur vornimmt, lassen sich nämlich jene Differenzierungen im Begriff des Naturalismus endlich wissenschaftsgeschichtlich vorantreiben, die schon seit längerem von verschiedenen Seiten eingefordert werden.“

FOUCAULT

Macht

Das Thema der Macht steht im Zentrum von Foucaults Werk. Thomas Lemke, einer der besten Foucault-Kenner, hat für den Suhrkamp-Verlag die wichtigsten Texte Foucaults zum Thema zusammengestellt:

Foucault, Michel: Analytik der Macht. 350 S., kt., € 13.—, 2005, stw 1759

und mit einem Nachwort versehen, indem er den historischen und systematischen Kontext von Foucaults Machttheorie erschließt. Es sind zumeist kürzere Texte aus der Zeit zwischen 1961 und 1984, die bereits in dem großen Werk Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden verstreut vorliegen.

DONALD DAVIDSON

Davidson ist in unserem Sprachraum relativ spät bekannt geworden, gilt aber gegenwärtig als beinahe klassischer Autor. Ein Grund mag darin liegen, dass Davidson seine Gedanken nicht in Büchern, sondern lediglich in „Papers“ veröffentlicht hat. Die wichtigsten davon, die die Formen propositionalen Wissens und die Beziehungen zwischen diesen Formen behandeln, sind im Jahr 2001 unter dem Titel Subjective, Intersubjective, Objective in Buchform erschienen und liegen nun von Joachim Schulte ins Deutsche übersetzt vor:

Davidson, Donald: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv. 382 S., Ln. € 34.90, 2004, Suhrkamp, Frankfurt.

In der ersten Abhandlung, „Die Autorität der ersten Person“, wird nach einer Erklärung für die Annahme gesucht, dass der jeweilige Sprecher recht hat, wenn er seinem gegenwärtigen Selbst aufrichtig eine Überzeugung, einen Wunsch oder eine Absicht zuschreibt, während keine derartige Annahme angebracht ist, wenn dem Sprecher von ähnlicher Seite ähnliche Dinge zugeschrieben werden. Die zweite, „Wissen, was man denkt“, spricht ein Problem an, das den Gedanken der Autorität der ersten Person in Schwierigkeiten bringt: Es ist eine Tatsache, dass der Inhalt unseres Geistes zum Teil durch externe Faktoren bestimmt wird, über die wir nichts wissen. Wie lässt sich nun dieses Faktum mit dem Anspruch vereinbaren, wir wüssten über den Inhalt der eigenen Psyche Bescheid, ohne Belege in Anspruch zu nehmen? In den nächsten beiden Aufsätzen, „Der Mythos des Subjektiven“ und „Was ist dem Geist gegenwärtig?“ zeigt Davidson, was es heißt, wenn man die Vorstellung bestreitet, dass dem Geist, sobald wir Empfindungen haben oder etwas denken, Gegenstände vorschweben. Der fünfte Aufsatz verteidigt die These, es gebe hinsichtlich der propositionalen Einstellungen „einschlägige Tatbestände“. Was bleibt, wenn man den Mythos des Subjektiven und seiner mentalen Gegenstände fallengelassen hat? Davidson untersucht dies im Aufsatz „Die Irreduzibilität des Begriffs ‚Selbst’“, das nächste Thema ist die Rationalität („Vernünftige Tiere“). Weitere Aufsätze behandeln den Gedanken, die Sprache sei etwas notwendig Soziales, und den Übergang vom vorsprachlichen Säugling zum mit Sprache ausgestatteten Kind. Im Buch enthalten ist auch der bekannte, 1981 geschriebene Aufsatz „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis“.

Allein das Dreieck zwischen Erste-PersonAutorität, Kommunikation und Objektivität, zwischen eigenem Geist, Fremdpsychischem und gemeinsamer Umwelt ergebe ein Gesamtbild unseres Wissens, schrieb Manfred Geier in der „Süddeutschen Zeitung“ über das Buch: „Wer diese Dreifaltigkeit auflöse oder sich nur auf eines der drei Standbeine zu stützen versuche, müsse sich in den Spielformen des Wissens verlieren oder einem Mythos auf den Leim gehen“.


NEUANKÜNDIGUNG

Summa theologiae russisch

Das Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropa-Studien der Katholischen Universität Eichstätt hat mit der Übersetzung der ca. 4000 Druckseiten der Summa theologiae des Hl. Thomas ins Russische begonnen. Leiter des Projektes ist Nikolaus Lobkowicz, gefördert wird es mit einer Spende von 100'000 Euro durch die italienische Casamarca-Stiftung. Das Werk erscheint in einem russischen Verlag.