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FORSCHUNG

Mittelalter: Wielands Typologie der mittelalterlichen Philosophie

MITTELALTER

Georg Wieland versucht eine Typologie der mittelalterlichen Philosophie

Georg Wieland unterscheidet in seinem Artikel

Wieland, G.: Bildung, Weisheit, Wissenschaft – Versuch einer Typologie mittelalterlicher Philosophie,: in: Wissen und Verantwortung. Festschrift für Jan P. Beckmann, Band I, 2005, Karl Alber, Freiburg

drei Phasen der Philosophiegeschichtsschreibung des Mittelalters:

- Eine metaphysische Phase, die wesentlich durch E. Gilson und dessen Deutung der mittelalterlichen Philosophie bestimmt ist und die die mittelalterliche Philosophie wesentlich als „christliche Philosophie“ begreift;

- eine sprachanalytisch-logische Phase, die von dem lingustic turn der analytischen Philosophie beeinflusst ist und sich wesentlich für das Phänomen der Sprache und ihre unterschiedlichen Artikulations- und Argumentationsformen interessiert. So ist in der Cambridge History of Later Medieval Philosophy, die diese Phase repräsentiert, von insgesamt 46 Kapiteln nur noch eines einem klassischen metaphysischen Thema gewidmet.

- eine neueste historisch-historistische Phase, in der man sich unter dem Eindruck des postmodernen Pluralitätspathos anschickt, die mittelalterliche Philosophie in der Vielfalt ihrer Erscheinungen und am „Ort ihres Entstehens“ zu erforschen. Von hier aus erklärt sich das wachsende Interesse an bisher unbekannten (oft anonymen) Texten.

Für Gilson und dessen an der Theologie orientierte Interpretation lag es auf der Hand, dass die großen Entwürfe des mittelalterlichen Denkens ihre Kraft und Originalität aus ihrer theologischen Interessenlage schöpften und dass die größten Philosophen des Mittelalters Theologen waren. Unter der Dominanz der analytischen Philosophie tritt diese Perspektive deutlich zurück. Nicht mehr Theologie und Metaphysik, sondern Sprache, Semantik und Logik treten in den Vordergrund des Interesses; nicht mehr Thomas, sondern Ockham zieht die größte Aufmerksamkeit der Forscher auf sich. Und während die erste und zweite Phase Philosophiegeschichte mit Blick auf die großen Denkerpersönlichkeiten betreiben, verwandelt sich die mediävistische Historiographie unter dem Eindruck postmoderner Pluralitätserfahrung: nicht mehr die großen Denker, sondern die Vielzahl der Artisten, nicht mehr nur die großen Systeme, sondern die Vielzahl der Entwürfe stoßen auf Interesse.

Wieland hält alle drei Phasen für der Sache unangemessen und einseitig und verweist auf zwei grundlegend verschiedene Typen mittelalterlicher Philosophie:

1. Der dialektische Einheitstyp der mittelalterlichen Philosophie

Aus der Perspektive etwa des Deutschen Idealismus und der von ihr beeinflussten Philosophiegeschichtschreibung bilden die drei mittelalterlichen Philosophen Eriugena, Eckhart und Cusanus eine denkerische Einheit. Werner Beierwaltes, der beste Kenner einer solchen Betrachtungsweise, charakterisiert die diesen Denkern eigene Gemeinsamkeit so: Philosophie und Theologie sind keine getrennten, einander hierarchisch oder gar antagonistisch gegenüberstehende Größen, sondern sie gehen ineinander über; sie bilden so eine lebendige Einheit. Dieser innigst verbundene Wirkungszusammenhang macht das aus ihm entspringende Denken – durch seine systematische Intensität und Universalität – zu einer neuen Denkgestalt, die im frühen Mittelalter mit Eriugena eine erste Form annimmt, sich paradigmatisch im späten Mittelalter bei Meister Eckhart und im Übergang zur Neuzeit bei Cusanus wiederholt, um sich in differenzierter Form im Deutschen Idealismus fortzusetzen.

Es sind drei wesentliche Merkmale, die zum Typus eines solchen Denkens gehören:
a) Einheit von Philosophie und Theologie,
b) die Universalität der Betrachtung, welche die Gesamtheit der Wirklichkeit umfassend in den Blick nimmt,
c) die Intensität der gedanklichen Durchdringung, die Ganzes und Teil als einen unlösbaren Zusammenhang begreift.

2. Der Differenztyp der mittelalterlichen Philosophie

Dies ist bei den Differenzdenkern wie Thomas von Aquin, Duns Scotus oder Ockham anders. Sie alle verbindet – ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede – eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten, durch die sie sich deutlich von den Einheitsdenkern absetzen. Das erste entscheidende Merkmal dieses Denktyps besteht in einer doppelten Differenz, welche das Einheitsdenken nicht kennt: nämlich in der Differenz von Theologie und Philosophie und in der von Physik und Metaphysik. Zum Differenzdenken gehört noch ein zweites, nicht weniger gewichtiges Merkmal: Theologie und Philosophie in der Fülle ihrer Disziplinen werden in einem emphatischen Sinne als Wissenschaften begriffen. Grundlage dieses Gedankens ist der Wissenschaftsbegriff der Zweiten Analytik des Aristoteles. Danach kann nur jene Form von Erkenntnis den Anspruch erheben, Wissenschaft im strengen Sinn des Wortes zu sein, die als Schlussfolgerung aus einem logisch korrekten Demonstrationsprozess hervorgeht. Hinzu kommt noch ein drittes Merkmal des Differenzdenkens. Ebenso wie in ihm die Natur der raumzeitlichen Wirklichkeit eine eigene nicht abgeleitete Bedeutung gewinnt und aus eigenen physischen Prinzipien erklärt werden soll, so auch die menschliche Natur. Dies eröffnet wiederum die Perspektive dafür, die raumzeitlichen Bedingungen metaphysischen Handelns ohne Rekurs auf metaphysische Prinzipien in den Griff zu nehmen; modern gesprochen, Handlungstheorien zu entwickeln, die als anthropologische Voraussetzungen ethischer und politischer Reflexion dienen.