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FORSCHUNG

Kant: Frühe Rezeption und Interpretation der transzendentalen Deduktion

KANT

Die frühe Rezeption und Interpretation der transzendentalen Deduktion

Bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft wurden gegen deren zentrales Lehrstück der transzendentalen Deduktion, welche die Begründung synthetischer Erkenntnisse a priori liefert, eine Reihe von Einwänden erhoben. In einem Forschungsprojekt zur frühen Kant-Rezeption hat der Berner Privatdozent und Reinhold-Forscher Martin Bondeli diese Einwände herausgearbeitet:

Bondeli, Martin: Apperzeption und Erfah-rung. Kants transzendentale Deduktion im Spannungsfeld der frühen Rezeption und Kri-tik. 362 S., Ln., 2006, sFr. 75.—, € 52.50, Schwabe Philosophica X, Schwabe, Basel

Sie betreffen insbesondere zwei Punkte: das „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen begleiten muss, und die Kategorienlehre. Bondeli entwickelt in dem Buch die beiden Einwände in enger Konfrontation mit Kants Lehre und untersucht sie kritisch auf ihre Stichhaltigkeit hin.

Die Fundierung der höchsten Instanz

Im § 16 der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft geht es um die Fundierung des Ich als höchste Instanz. Kant leitet seine Ausführungen zur ursprünglichen Apperzeption mit dem berühmten Diktum ein, dass das „Ich denke“ alle meine Vorstellungen begleiten können muss. Er begründet dies damit, dass andernfalls die Vorstellungen, die ich in mir hätte, gar nicht „gedacht“ werden könnten, was gleichbedeutend sein soll mit „die Vorstellung würde entweder unmöglich oder wenigsten für mich nichts sein“. Kant führt nun sogleich eine weitere, für das Verhältnis von Denken und Anschauung folgenreiche Voraussetzung ein: die Voraussetzung, dass zu meinen Vorstellungen nicht nur Gedanken, sondern ebenfalls die vor allem Denken gegebenen Anschauungen gehören. Daraus wird gefolgert, dass gleichfalls die Anschauungen, wenn sie denn möglich und für mich bedeutsam sind, durch das „Ich denke“ begleitet werden müssen.

Dass dieses „Ich denke“, welches notwendig alle meine Vorstellungen begleiten können muss und als Vermögen der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption“ der Grund dafür ist, dass überhaupt Einheit des Mannigfaltigen bestehe, wurde vielfach als äußerst erklärungsbedürftig empfunden. Bei Karl Leonhard Reinhold wurde diese Problematik zu einem entscheidenden Antrieb der Kritik und des Neuaufbaus der Kantischen Lehre. Reinhold war zu dem Schluss gekommen, dass das „Fundament der Vernunftkritik“ nicht „fest genug“ sei. Mit sei-nem 1789 erschienenen Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens glaubte er dem abhelfen zu können.

Reinhold war vor allem durch die moraltheologischen Abschnitte zur Lektüre der Kritik der reinen Vernunft angeregt worden. Er war anfänglich der Meinung, mit Kants erster Kritik liege ein umfassendes und gut verankertes System der Vernunft vor. Als sicheres Fundament galt ihm dabei das von Kant in der Methodenlehre zusammen mit den Glaubensartikeln des Daseins Gottes und der künftigen Welt dargelegte moralische Gesetz. Als Kant nun in der 1788 publizierten zweiten Kritik den Postulaten Gottes und der Unsterblichkeit der Seele nur eine schwache, subjektive Gewissheit zuerkannte und darauf hinwies, dass einer Begründung der theoreti-schen Vernunft aus der Sicht der praktischen Grenzen gesetzt sind, war Reinhold in seiner Überzeugung erschüttert. Er ließ sich allerdings von der Idee, dass es ein sicheres Fun-dament des Kantischen Vernunftsystems ge-ben soll, nicht abbringen. Als aussichtsreiche Kandidaten für ein solches Fundament drängten sich ihm in der Folge die von der damaligen empirischen Psychologie mit zunehmender Aufmerksamkeit untersuchten Begriffe der Vorstellung bzw. des Bewusstseins auf. Die Orientierung am Bewusstseinsbegriff erschien dabei umso attraktiver, als dieser gerade auch bei Kant mit dem Lehrstück der ursprünglichen Apperzeption zu einer fundamentalen Instanz des theoretischen Vernunftsystems erhoben worden war. Reinhold gelangte aber zu der Auffassung, Kant sei mit seinem bei der Apperzeptions- und Deduktionsthematik aufgestellten „ersten Grundsatz“ nicht zur Tatsache des Bewusstseins vorgedrungen.

Die Tatsache des Bewusstseins

Bei der Tatsache des Bewusstseins, wie sie Reinhold seit dem Versuch von 1789 näher bestimmte, handelt es sich um die notwendige strukturelle Voraussetzung unseres Vor-stellungsvermögens, welches die Grundlage sowohl der theoretischen als auch des prakti-schen Vermögens darstellt. Reinhold ver-suchte in mehreren Anläufen diese Struktur des Bewusstseins als in sich einleuchtenden „Satz des Bewusstseyns“ auszuformulieren: Sie ist unentbehrlich, nicht weiter zerlegbar und insofern absolut gewiss, kurz: eine Tatsache.

Bondeli zufolge wird mit dieser Tatsache des Bewusstseins das Subjekt oder Ich von Rein-hold in ähnlicher Weise begründet wie bei Kant. Es wird gezeigt, dass es Bestandteil dieser Tatsache ist und insofern keiner weite-ren Rechtfertigung bedarf. Allerdings hatte sich Reinhold mit hartnäckigen Einwänden auseinanderzusetzen, welche die behauptete Evidenz und absolute Gewissheit der Tatsache des Bewusstseins betreffen. In Reaktion darauf veränderte Reinhold den Satz des Bewusstseins. War dieser zuvor dahingehend ausformuliert worden, dass im Bewusstsein Subjekt und Objekt durch die Vorstellung aufeinander bezogen und voneinander unterschieden sind bzw. werden, wird er nun durch die Bestimmung ergänzt, das Beziehen und Unterscheiden von Subjekt und Objekt mittels Vorstellung werde „durch das Subjekt“ geleistet. Mit dieser Ergänzung wird das vorstellende Subjekt nicht mehr bloß als gegebene Instanz, worauf etwas bezogen ist und wovon etwas unterschieden wird, aufge-fasst, sondern auch als Akteur des Beziehens und Unterscheidens.

Daraus ergibt sich aber die Schwierigkeit, dass mit dem Subjekt-Akteur als einer unter-scheidenden Instanz ein Subjekt in die Bewusstseinsstruktur eingeführt wird, welches der dort zugrunde gelegten Subjekt-Auffassung widerspricht. Hinzu kommt ein weiteres Problem. Wenn die Einheit des Sub-jekts ein umfassendes, neben Anschauung und Verstand (bzw. die Kategorien) auch die Vernunft (bzw. die Ideen) einschließendes Synthesisvermögen ist, so ist diese Einheit, dem Aufbau der KrV entsprechend, selber ebenfalls eine Idee. Reinhold vertritt deshalb ab 1792 die Ansicht, die Tatsache des Bewusstseins sei auf eine komplementäre Tat-sache des Selbstbewusstseins angewiesen. Zwar ist der Satz des Bewusstseins nach wie vor der oberste Grundsatz der Philosophie, deren Quelle jedoch in der „inneren Erfahrung“ und dem „reinen Selbstbewusstseins“ besteht. Reinhold geht nun dazu über, die der Tatsache des Bewusstseins auferlegte Beweislast auf ein Fundament der praktischen Philosophie (dem Sittengesetz) und der theoretischen Philosophie zu verteilen. Damit ist er zu seinem Ausgangspunkt zurückgekehrt, wonach das System durch einen moralischen Ausgangspunkt zu begründen ist. Und nach einer kurzen Denkentwicklung mit Fichte folgt in Reinholds Denken eine anti-subjektivistische Wende: das Fundament sieht er nun in einem nur im Medium des Glaubens erreichbaren Sein.

Salomon Maimon bemüht sich, in seinem Versuch über die Transzendentalphilosophie von 1790 das transzendentale Ich im Einklang mit Kant als etwas Bleibendes in allem Wechselnden aufzufassen. Gleichzeitig be-streitet er aber entschieden die Auffassung, das Ich sei lediglich ein Produkt des Denkens, ein Begriff, dem nichts Reales entspreche.

Gottlob Ernst Schulze meint im ersten Band von seine, Grundriss der philosophischen Wissenschaften von 1788, Kants Einheit der Apperzeption müsste, um zu überzeugen, als Kategorie ausgewiesen werden. Schulz ge-lingt es damit, einen problematischen Punkt ausfindig zu machen, der Folgen hat für die Entwicklung der nachkantischen Philosophie bei Fichte, Schelling und Hegel.

Die Kategorienlehre

Zum anderen wurde der nach dem Prinzip der Ermöglichung von Erfahrung geführte Beweis, der in der sogenannten „objektiven Seite“ der transzendentalen Deduktion zur Anwendung gelangte, als problematisch empfunden. Kant hatte ein „Principium“ der transzendentalen Deduktion aufgestellt, welches besagt, dass bestimmte Verstandesbegriffe a priori, die Kategorien, deshalb gültig sind, weil sie Begriffe darstellen, ohne die eine Artikulation von Erfahrungssätzen jeder Form unmöglich wären. In dieser Beweisart sah man das geniale und entscheidende Argument, aber auch die Achillesferse innerhalb der Kantischen Begründung syntheti-scher Urteile a priori. Schulze erkannte darin einen fehlerhaften Schluss von der notwen-digen Denkbarkeit einer Sache auf deren Sein und hielt deswegen die transzendentale Deduktion insgesamt für ein verfehltes Unternehmen.

Salomon Maimon trug wiederholt den Einwand vor, Kant setzte ein „Faktum“ der Erfahrung „unbezweifelt“ voraus, so dass sein Beweis in fehlerhafter Weise zirkulär werde. Im Unterschied zu Schulze hielt Maimon den Beweis aber nicht für unrettbar. Vielmehr war er gleichzeitig der Meinung, jene Beweisart, die sich des Prinzips der Ermöglichung von Erfahrung bediene, lasse sich in modifizierter Form und mit einem abgeschwächten Anspruch aufrecht erhalten.

Maimons konstruktive Kritik erwies sich als wegweisend für jene Autoren, die den trans-zendentalen Begründungsanspruch fortzuführen versuchen. So glaubte Reinhold, mit der Freilegung eines höheren Fundaments der Vernunftkritik lasse sich die Zirkularität eliminieren.