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FORSCHUNG

Philosophie: Dieter Henrich denkt über Philosophie als kulturelles Unternehmen nach

Dieter Henrich denkt über Philosophie als kulturelles Unternehmen nach

Ehedem konnte man hoffen, das Ganze dessen, was wirklich ist, in einer höchsten Wissenschaft, der Philosophie, zu begreifen. Von ihr erhoffte man sich auch eine Orientierung für das Leben. Seit dem 20. Jahrhundert ist es aber kaum noch strittig, dass es der Vernunft des Menschen aufgegeben ist, auf eine andere Weise eine Zuordnung und Balance zu finden – zwischen dem, was zu sicherem Wissen geworden, und einer Lebensorientierung, die ein Ganzes im Blick hat, das auf demselben Weg nicht zu fassen ist.
Dieter Henrich sieht in seinem Essayband

Henrich, Dieter: Die Philosophie im Prozess der Kultur. 250 S., kt., € 11.—, 2007, stw 1812, Suhrkamp, Frankfurt

die Philosophie nunmehr als ein Unternehmen, das an den Grenzen der Erkenntnis angesiedelt ist. Ihr muss es darum gehen, zu solchen Grenzverläufen ein begründetes Verhältnis zu gewinnen – ein schwer zu meisterndes Unterfangen. Daraus leiten sich zwei weitere Aufgaben ab, die so etwas wie eine Wesensbestimmung der Philosophie genannt werden können:

 Zum einen ist Philosophie Reflexion auf die Grundlagen der Erkenntnis, woraus folgt, dass in ihr die letzte Instanz für jede Kritik überzogener Geltungsansprüche liegt.

 Zum anderen ist Philosophie Verständigung über die Situation des Menschen als Vernunftwesen vor dem Unbegreifbaren.

Die meisten bedeutenden Philosophen in der Geschichte der Philosophie haben zumindest mit dem Gesamtaufbau ihrer Lehre auch dieser Erwartung entsprochen. Dass Wissenschafts und Weisheitslehre in der Grenzregion der Vernunft eigentlich eine einzige Aufgabe ausmachen, schließt nicht aus, dass beide in einem Widerspiel zueinander stehen. Dieses Widerspiel ist gerade als Zeichen und als Folge der Lokalisierung der Philosophie an einer Grenze zu begreifen, deren Seiten nicht nach demselben Verfahren zu erschließen sind. Konzentriert man sich auf die Fragen, die eines dieser Verfahren erfordern, dann kann sich leicht der Kontakt zu den anderen Verfahrensbereichen lockern und lösen. Mit dem Grade, in dem die Philosophie sich professionalisiert, wächst diese Gefahr, bis sie nahezu unausweichlich wird.

Es sind dreierlei Arten, auf die die Philosophie – insbesondere Jugendliche – begeistern kann: als Lebenshilfe, als Argumentationsstrategie und als Erschließung eines Ganzen in einer Gedankenarchitektur, deren Weite und Subtilität ohne Vergleich ist. Diese drei Gründe, derentwegen von der Philosophie eine Anziehungskraft ausgeht, stellen aber miteinander schwer zu vereinbarende Aufgaben dar. So hat sich, was am Anfang noch vereint war, im Laufe der Geschichte in voneinander abscheidbare Gänge getrennt. Auch verschob sich der Grenzverlauf zwischen entscheidbarem Wissen und erkundendem Denken immer wieder. Aus der Philosophie schieden Gebiete aus, die Verfahren unterworfen werden konnten, die definitive Aussagen über Richtigkeit oder Wahrheit von Aussagen ermöglichen. Gegenwärtig ist die Philosophie an der Universität als akademische Disziplin in viele separate Fachprobleme verwickelt, denen man mit möglichst genauen Argumentationen nachzugehen versucht. Die Philosophie als Lebenslehre, die ihrerseits in der Verständigung über ein Ganzes verwurzelt ist, steht weitgehend im Schatten dieser Versuche.

Im zwanzigsten Jahrhundert wurde zum ersten Mal versucht, auch die Philosophie selbst als eine Wissenschaft zu etablieren, die wie jede andere ein begrenztes, als solches aber gesichertes Gebiet bearbeitet. Aus diesem Versuch hat die Philosophie einen Zugewinn an Verfahren der Aufklärung und ihrer methodischen Selbstkontrolle gewonnen. Dennoch ist gegenwärtig die Situation vom Scheitern dieses Versuchs bestimmt, es geht wieder darum, Grundfragen und Lebensfragen in Beziehung zueinander zu entwickeln. Damit wird auch die Philosophie als Lebenslehre, sofern sie die Attitüde des Lehrhaften meidet, wieder intellektuell respektabel.

Die Philosophie ist Teil des kulturellen Lebens. Von dessen Wandlungen werden auch produktive Wendungen im philosophischen Leben begünstigt. Je länger in der Philosophie eine Meisterkonzeption vorherrscht, um so deutlicher treten Gründe und Motive hervor, die ihr entgegenstehen und die sie selbst beiseite drängen musste. Damit öffnet sich ein Resonanzraum für Alternativen. Kulturelle Wandlungen können nun einen Umbruch gegen solche etablierten Denkgewohnheiten bewirken.

Henrich sieht die Beziehung von Philosophie und Kultur dialektisch: Die Verstehensart, die in einer Kultur Bedeutung hat, kann in der Philosophie aufgenommen werden und zur Auswirkung kommen. Umgekehrt kann eine Verstehensart, die in der Philosophie ausgearbeitet wurde, von vielen Menschen, direkt oder indirekt, aufgenommen werden. So gewinnt sie für eine Kultur Bedeutung und kann ihr einen Impuls bei der Verwandlung der Verstehensart geben, an der sich das soziale Verhalten orientiert. Die Beglaubigung der Philosophie ist aber immer von einer Lebenspraxis abhängig, die sich ihrerseits unter dem Einfluss von Lebensbedingungen in einer Kultur vollzieht. Jede Philosophie entwirft oder impliziert auch eine solche Praxis und kann damit den Kulturprozess beeinflussen. Der Prozess der Kultur und der Prozess der Philosophie sind also miteinander verschlungen, obwohl sie sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Die Philosophie ist aber nicht Stifterin von Kultur, sondern immer auch aus einer Kultur heraus in ihren Gang gebracht.

Wird die Philosophie im deutschen Sprachraum wieder einmal ihrer verlorenen Weltstellung nahe kommen? Für Henrich hängt dies nicht nur vom Können und Bemühen einzelner, sondern auch von den kulturellen Bedingungen ab, unter denen die Philosophie zu leben hat. Zwar könnte man denken, dass sich die Voraussetzungen dafür verbessert haben: Die Verwandlung der Weltlage im Jahr 1989 hat die Teilung des Landes beendet, und eine selbstsichere und weltoffene Kreativität hätte die Folge sein können. Das ist aber nicht der Fall, Henrich sieht vielmehr eine noch ungelöste Befangenheit, die sich mit einer kulturellen Depression zu verbinden droht. Er sieht uns als Zeugen, was es bedeutet, wenn die Kultur in einer Gesellschaft die eigenständige Gravitation und damit die Klarheit und Weite der Übersicht verloren hat. An deren Stelle sind eurobürokratische Vorgaben getreten.

Was die Philosophie betrifft, ist gegenwärtig ein Generationenwechsel abgeschlossen worden. Henrich sieht dafür als Marken die Emeritierung von Habermas (1994) und den Tod von Hans Blumenberg (1996). Es waren insbesondere drei Schulen, aus denen nach dem Krieg viele Talente kamen: Bonn und die Umgebung von Erich Rothacker, Mün¬ster, und das Seminar von Joachim Ritter und Heidelberg mit Gadamer. Die drei hatten die Abwendung von der systematischen Philosophie und die Konzentration auf ein Geschichtsdenken gemeinsam. Es verband sie auch, dass sie dialogisch zu philosophieren verstanden und dass sie sich auf eine Vielfalt von Begabungen förderlich einzulassen wussten. Aus Bonn kamen Apel, Habermas, Hermann Schmitz und Pöggeler, aus Münster Lübbe, Marquard und Spaemann, während sich in Heidelberg Walter Schulz, Wolfgang Wieland und Dieter Henrich habilitierten. Unter den Bedeutenden, die erst nach dem Krieg mit dem Studium begannen, sind nur Blumenberg, Hübner, Patzig, Theunissen und Tugendhat nicht von einem dieser drei Orte bestimmt gewesen. Für diese Generation stand der Universalismus, den Platon in den Begriff der Philosophie hat einfließen lassen, ganz außer Frage. Zu den Kriterien, denen ein Philosoph genügen musste, war gehörte selbstverständlich, dass er des Griechischen mächtig war und sich luzide über Kunst und Literatur zu äußern vermochte. Doch hatten die Schulzusammenhänge, die früher eine Argumentationskultur einzuüben vermochten, ihre Attraktion verloren, autodidaktische Züge wurden bei der Behandlung der Themen unausweichlich. Da bei der Philosophie überzeugende Begründungsgänge unabdingbar sind, wurde mit mehr oder weniger Erfolg der Versuch gemacht, Anschluss an eine im Englischen entwickelte Argumentationskultur zu gewinnen.

Den genannten Philosophen, so Henrichs Fazit, ist es mit ihrer philosophischen Arbeit gelungen, die Kredibilität des Denkens in deutscher Sprache nach dem Krieg wiederherzustellen bzw. zu erhalten. Insbesondere Gadamer und Habermas wurden in viele Sprachen übersetzt, mit Beifall aufgenommen und in die philosophischen Zentren der Welt eingeladen.

Ob sich das in der neuen Generation fortsetzt? Für Henrich stehen verlässliche Anzeichen dafür aus, er hält es für wahrscheinlich, dass andere Determinanten den weiteren Gang bestimmen. Er sieht gegenwärtig einen großen Druck hin zu Vorsicht und Verhaltenheit. Öffentlich findet das Fach Philosophie nur mit dem Beachtung, was aus ihm zu den jeweils aktuellen Grundkontroversen des politischen Systems verlautet. Die Philosophie selber, deren Solidität außer Zweifel steht, ist weitgehend auf die akademischen Einrichtungen beschränkt. Dort ist sie zwar nicht in Schulen, wohl aber in eine Vielzahl weit voneinander wegführender Interessen und Orientierungsfelder zerstreut. Debatten, die für alle im Fach eine Bedeutung gewannen, hat es während der letzten Jahrzehnte nur vereinzelt gegeben. Viele der Lehrenden stehen unter dem Eindruck, mit ihrer Leistung isoliert und ohne Resonanz zu sein. Sie glauben, dass in der schnelllebigen Medienwelt nur durchdringt, wer auch als Guru mit schnellen Effekten auffällig zu werden weiß. Hinzu kommt, dass Deutsch zu einer Fremdsprache dritten Ranges herabsinkt. Philosophiestudenten aus den USA und Japan kommen immer seltener nach Deutschland. Einen Mangel sieht Henrich darin, dass in Deutschland philosophische Zentren fehlen, in denen eine belebende Konkurrenz zwischen renommierten Autoren und jungen Talenten besteht. In der Folge werden Einsätze zu philosophischen Debatten überwiegend von angelsächsischen (und zu einem kleineren Teil auch von französischen) Autoren vorgegeben.

Henrich schmerzt es sichtlich, dass das Universitätssystem zwar expandiert, aber an Gestaltungskraft verliert. Was ist zu tun? Henrich plädiert dafür, dass die Bildungseinrichtungen danach streben sollen, soviel Selbständigkeit wie irgend möglich zu erhalten. Was die Philosophie konkret betrifft, so sollten Zentralorte für philosophische Studien und/oder ein Fördersystem für besonders aussichtsreiche Studierende eingerichtet werden. Solche Zentren hätten eine kleine Studentenzahl, langandauernde internationale Gastprofessuren und die Pflicht zur Teilnahme an öffentlichen Debatten über wichtige Konfliktfragen.

Man geht aber gegenwärtig in Deutschland den umgekehrten, den falschen Weg: Mit den neuen Studiengängen wird die Philosophie in ein Prokrustesbett eingezwängt. Henrich hofft, dass viele sich zur Philosophie hinreichend motivierte Studenten diese Auflagen mit der linken Hand erledigen, um dem nachzugehen, was eigentlich ihr Ziel ist. Aber er fragt sich, ob sie dann noch Lehrer finden werden, die nicht unter der neuen Lehrlast längst außer Atem gekommen sind. Der Entschluss zum Studium der Philosophie bildet sich oft erst im Laufe des Studiums eines anderen Faches und häufig unter dem Eindruck bedeutender Lehrer heraus. Das aber setzt voraus, dass, wer in die Universität eintritt, nicht auf der Stelle in Studienkohorten eingezogen und mit einem durchkalkulierten Studienplan seiner Erkundungsfreiheit beraubt wird.