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FORSCHUNG

Zeit: Eine Systematisierung der verschiedenen Zeitvorstellungen

ZEIT

Karen Gloy unternimmt eine Systematisierung der verschiedenen Zeitvorstellungen

Eine Systematisierung der diversen möglichen und entwickelten Zeitvorstellungen unternimmt die seit kurzem emeritierte Luzerner
Philosophin Karin Gloy in ihrem auf jahrelange Vorarbeiten zurückgehenden Buch

Gloy, Karen: Zeit. Eine Morphologie. 269 S., kt., € 45.—, 2006, Karl Alber.

Das subjektive Zeiterleben

Die subjektive Zeit, das subjektive Zeiterleben hängt von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere aber 1. von der persönlichen Konstitution, 2. der momentanen Disposition, 3. der kulturspezifischen Situation, 4. der inhaltlichen Bedeutung des Erlebten und 5. der situativen Bedeutung für den Erlebenden.

Mit der persönlichen Konstitution ist die jeweilige Veranlagung eines Menschen, seine grundsätzliche Einstellung und sein Verhalten zur Zeit gemeint. Mit der augenblicklichen Disposition die jeweilige momentane Gemütsverfassung, etwa Freude oder Trauer, Angst oder Hoffnung. Eine Rolle spielen aber auch Jugend und Alter. Der Jugend kommen die gelebten Jahre ihrer Intensität wegen lange vor, während im Alter, wo der Mensch weniger aufnahmefähig und weniger aufmerksam ist, aufgrund der geringeren Erlebnisfähigkeit die Jahre wegen der Monotonie nur so dahineilen. Was die kulturellen Bedingungen betrifft, so unterscheiden sich Völker gravierend in ihrem Zeiterleben und –verhalten. Nordeuropäer und Nordamerikaner pflegen genauer zu sein und ihren Arbeitstag wie auch ihre Freizeit exakter zu planen als südliche Völker, die recht leger mit der Zeit umgehen. Differenzen im Zeiterleben und in der Zeitverhalten lassen sich auch kulturhistorisch zwischen der vergangenen Epoche, der „guten alten Zeit“, in der alles gemächlich zuging, und der schnelllebigen, sich überschlagenden Gegenwart feststellen. Hatten die Menschen früherer Epochen keine Uhren, dafür aber Zeit, so haben die modernen Menschen zwar Uhren, dafür aber keine Zeit. Entscheidend für das Zeitempfinden ist darüber hinaus der Inhalt des Erlebten, seine Relevanz oder Irrelevanz für das Subjekt, das Interesse oder Desinteresse, das das Subjekt ihm entgegenbringt. Und schließlich darf auch die Situation und ihre Beurteilung durch das Subjekt nicht vergessen werden. Dem ungeduldigen Liebhaber, der sehnsüchtig seine Freundin erwartet, dehnen sich die Minuten zu Stunden, während der Sprengmeister, der durch einen Unfall in eine Grube fiel und nun die Zündschnur abbrennen sieht, den Tod vor Augen habend, die Zeit davonrasen sieht. Die Zeiterlebnisse, die jeder von uns aus dem Normalleben kennt, finden sich gesteigert in abnormen Situationen wie Krankheit und Tod, aber auch in psychopathologischen Situationen wie Manie, Depression, Angst und Rauschzuständen wieder.

In unserem Innenleben registrieren wir eine ganz andersartige Zeit, als es die angeblich natürliche, tatsächlich aber kulturell tief eingeschliffene gleichförmig verlaufende, quantifizierbare Zeit ist. Die gelebte, erlebte, gestimmte Zeit, d.h. die Zeit, mit der wir lebensweltlich umgehen, ist die Arbeitszeit oder die Ruhezeit, die Zeit der Anspannung und Entspannung, die Zeit des Vergnügens und des Feierns. Für jeden Anlass, für jede Begebenheit gibt es eine eigene, spezifische Zeit. Wir haben es nicht mit einer Einheit der Zeit, sondern mit einer Vielheit unterschiedlicher Zeiterfahrungen zu tun. Zurückzuweisen ist also die Meinung, Zeit und Zeitliches seien nur dort zu finden, wo ein formales, quantifizierbares Schema vorliegt, das, wie die Uhrzeit, zur Angabe aller Vorgänge, Ereignisse und Zustände taugt. Nichts dergleichen ist bei einer gestimmten Zeit der Fall. Die ursprünglichste Zeiterfahrung ist vielmehr die erlebte, konkret gefüllte, an den Inhalt gebundene Zeit, die Zeit, die Medium der Lebenswirklichkeit ist. In präreflexiver Beschreibungsweise ist sie ein Erlebnis und damit eins mit dem Subjekt. Nicht nur die stimmungsvollen Augenblicke evozieren ein Auftauchen der gestimmten Zeit, vielmehr ist das situationsbedingte Ausdrucksverhalten eine Weise direkten und unausweichlichen Weltzugangs.

Phänomenologisch wäre es falsch zu behaupten, dass Ausdruckscharaktere nur subjektiv seien, dass der Mensch das ihn Anmutende, das Atmosphärische, nur am eigenen Leib spüre und dann das Gespürte nachträglich auf die ihm anderweitig zugängliche Welt – in diesem Fall die Zeit – übertrage. Wenn wir von dem abrupten Abbruch eines Musikstücks, von seiner Unterbrechung bis zum nächsten Einsatz sagen, die Stille sei bedrückend oder unerträglich, so ist damit die reale Situation gemeint. Der Zugang zur gestimmten Zeit erfolgt denn auch über deren inhaltliche Füllung. Diese schließt Leere mit ein, da auch sie empfunden wird, wie Pausen belegen, die den Menschen oft geradezu erdrücken.

Die noch tieferen biologischen Grundlagen der Erlebniszeit bilden die natürlichen Vorgänge des Ein und Ausatmens, des Aufwachens und des Einschlafens und des Tages und Nachtrhythmus. Wiewohl sie äußerlich als gegensätzliche Vorgänge aufscheinen, gehören sie und derselben Relativbewegung, ein und derselben Rhythmik an. Das subjektive Zeitgefühl stellt sich als ein Relativum dar, das bis zum Zeitstillstand gedehnt und gekürzt werden kann. Im alltäglichen Leben, eingebunden in die alltäglichen Verrichtungen und Geschäfte, sind wir von der Welt
vereinnahmt und nehmen uns selbst und unser Zeitempfinden nicht wahr. Existent und präsent ist nur die Welt, sind nur die Dinge und unser Ich ist von der Welt absorbiert. Mit dem Ich ist auch das Zeitempfinden aufgehoben. Das ursprüngliche und natürliche Verhalten des Menschen zur Welt ist beherrscht vom Eindruck der Dinge, denen der Mensch in Selbstvergessenheit ausgeliefert ist und die er auf sich einwirken lässt. Und solange wir in das alltägliche, geschäftige Leben eingebunden und von ihm absorbiert sind, leben wir bewusst und reflexionslos in ihr, und das gilt gerade auch für das Zeitbewusstsein, das noch nicht entwickelt ist.

Extrembeispiele für das subjektive Zeiterleben sind auf der einen Seite das Zeitlupenphänomen mit dem bekannten Beispiel der Langeweile und das Zeitrafferphänomen. Während die erste mittels der Zeitlupe die Dehnung und Verlangsamung der Zeit bis zum Stillstand zum Ausdruck bringt, kann man sich auf der anderen Seite die Zeit als bis auf einen kleinen Punkt zum Erliegen gebracht denken. Man sagt dann, dass die Zeit wie im Fluge vergangen und man nicht wisse, wo sie geblieben sei.

Handlungszeit

Die Zeit ist nicht bloß gelebte, gestimmte Zeit, sie ist auch Handlungszeit, die auf bewussten, geplanten Handlungen des Subjekts bzw. auf analogen unbewussten Vorgängen der Natur basiert. Es waren die Phänomenologen Husserl, Sartre, Bergson und MerleauPonty, die diese Organisationsstruktur nachdrücklich an Zeitphänomen wie der Melodie oder dem Vers aufwiesen.

Der spezifische Zeittyp der Handlungszeit ist reicher strukturiert als die kaum oder gar nicht strukturierte, diffuse Dauer der erlebten, gestimmten Zeit. Bei der Handlungszeit handelt es sich entsprechend der Handlungsstruktur um ein Gestaltphänomen, und zwar um ein gerichtetes. Cassirer spricht diesbezüglich von Zeitgestalt. Im Vergleich nicht nur mit der erlebten, sondern auch mit der mentalen Vulgärzeit stechen an ihr hervor:
 Die Konkretheit. Es ist eine bestimmte Zeit, die für die Feldbestellung erforderlich ist, für das Pflügen und die Aussaat des Korns. Jedes Geschehen hat seine eigene Zeit, die ihm und nur ihm allein zugehörig und mit der Zeit keines anderen Geschehens kompatibel ist. „Das braucht seine Zeit“, bedeutet, dass das Gelingen eines Vorhabens eine gewisse Zeitspanne benötigt, die nicht unterschritten werden darf.

 Eine Besonderheit im Unterschied zu der Allgemeinheit der erlebten Zeit.

 Die Qualität im Unterschied zu deren Quantität.

 Die Endlichkeit im Unterschied zu deren Unendlichkeit.

Obzwar Handlung ein genuin intentionaler Akt ist, womit auch die ihm zugehörige Zeit eine genuin intentionale Struktur erhält, bedeutet das keineswegs, dass die Handlungszeit einsinnig auf die Zukunft, auf das vor ihr Liegende ausgerichtet sein muss wie bei der Linearzeit. Die Intentionen eröffnen zwar eine bestimmte Ausrichtung auf das Handlungsfeld, bleiben jedoch ohne Fixierung der Richtung. Damit zusammen hängt, dass die Handlungszeit noch ganz und gar Präsenzzeit ist, Gegenwärtigkeit, die nicht verwechselt werden darf mit punktueller Momentaneität. Sie ist Extensionalität, wenngleich gerichtete, jedoch mit dem Zusatz, potentiell nach allen Seiten gerichtet zu sein. Die Modi Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, die der Linearzeit angehören, sind der Handlungszeit fremd, auch wenn sich diese gegenüber der gelebten, gestimmten Zeit durch Intentionalität zu strukturieren beginnt. Der Handlungszeit fehlt jede Sukzessivität, die gerade die Linearzeit auszeichnet, sie kennt nur eine Pluralität disparater, isoliert auftretender Handlungen, ohne dass sie synchron verbunden und als gleichzeitig identifizierbar wären. Sucht man nach Anwendungen und Realisationen der Handlungszeit, so sieht man sich auf die mythischen Vorstellungen archaischer Völker verwiesen, insbesondere auf kosmogonische Mythen, die von der Erschaffung der Welt und der Erde auf der Folie der Handlungslogik berichten. Die mythische Zeitauffassung vollzieht den Schöpfungsakt der Welt und ihrer Ordnung immer wieder neu, ohne fortlaufende Zählung.

Während die eschatologische (teleologische) Zeit die Gestalt eines einseitig gerichteten Prozesses vom Jetzt und Hier zum Dort, also eine einsinnig gerichtete Entwurfsstruktur hat, hat die oszillierende Zeit die Gestalt einer sich gegenläufigen Bewegung und Richtung, wie wir sie am Hin und Her des Pendelschlags beobachten. Die zyklische Zeit wiederum weist eine Kreisgestalt auf, bei der sich die Handlung selbstbezüglich schließt, die Richtung jedoch gleichgültig ist. Alle stimmen darin überein, handlungsbezogene Zeitstrukturen zu sein. So erklärt etwa Anaximandros die Entstehung der Dinge aus dem apeiron, und in dieses gehen sie auch wieder zurück.

Einen Beleg für die handlungsorientierte Zeitauffassung bietet die Sprache. Es sind vor allem die Sprachen der so genannten „Primitiven“, der Eingeborenenstämme Afrikas, Nord und Südamerikas, die als Beweis herangezogen werden können, da diese Völker einen ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit haben und dementsprechend völlig andere Artikulations und Explikationsformen als die sogenannten entwickelten Kulturvölker haben.

Mathematische Linearzeit

Der uns heute meistvertraute Zeittyp, das „vulgäre Zeitverständnis“, wie Heidegger diesen Typus nennt, ist die Uhrzeit bzw. die Weltzeit.
Während bei den Zeitgestalten die Form an den konkreten Inhalt gebunden und von diesem abhängig war, trennen sich bei der Linearvorstellung Form und Inhalt. Die Zeit wird zum abstrakten leeren Schema, in das beliebig konkrete Inhalte integrierbar sind. Bei der Beschreibung orientiert man sich hier vorrangig am Raum. Man spricht von einem Zeitraum, einer Zeitstrecke, stellt Zeiten durch den Weg des Uhrzeigers auf dem Zifferblatt dar oder misst Zeiten an den Umlaufbahnen der Planeten. Mit dieser Verräumlichung erlangt die Zeit einen lagezeitlichen Charakter, wie er primär für den Raum charakteristisch ist. Im Raum stehen die Teile in festen, konstanten Beziehungen zueinander, die Konstanz dieser Verhältnisse überträgt sich mit der Spatialisierung auf die Zeit, die so als Lagezeit bezüglich des Früher oder Später eine Invarianz erhält.

In einem Punkt jedoch differiert die Zeit erheblich vom Raum. Während der Raum isotrop ist, ist die Zeit anisotrop. Bezüglich der Zeit wird ein Richtungssinn angenommen, aufgrund dessen sie sich als einsinnig und unumkehrbar, d.h. irreversibel von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft erstreckt, während im Raum die Richtungen austauschbar, also umkehrbar sind. In die verräumlichte Lagezeit spielt noch ein anderes, fremdes Element hinein, das aus der Handlungszeit resultiert: Indem ein Zentrum auf der Zeitachse als Gegenwart fixiert wird, bekommt alles Zurückliegende die Bedeutung der Vergangenheit und alles Vorausliegende die Bedeutung des Zukünftigen. Als Konsequenz aus der Formalisierung der Zeit, die analog dem Raum erfolgt, ergibt sich ein universelles Koordinatensystem aus Raum und Zeitachse, das qualifiziert ist, das gesamte Seiende aufzunehmen und jedem seine Stelle und sein Verhältnis zu anderem Seienden anzuweisen.

Der Übergang von der gestalthaften zur mathematischen Linearzeit, die Entstehung der generellen mentalen Zeitform aus der inviduellen, konkreten Handlungszeit basiert auf drei Schritten. Der erste besteht in der Egalisierung der verschiedenen Zeitgestalten und ihrer gleichförmigen Aneinanderreihung, wobei das Maß für die Homogenisierung beliebig ist. Durch diese monotone Vertaktung gehen die diversen rhythmischen Zeitgestalten in eine gleichförmige Zeitreihung über. Da bloße Kontinuität als nachbarschaftliches Nebeneinander zur Entstehung eines Kontinuums nicht genügt, ist als zweite Bedingung die Synthesis der gleichartigen, metrisierten Teile vonnöten, die zu deren Verschmelzung und Ineinanderübergehen führt. Die dritte Bedingung ist die Ausrichtung der Zeitge¬staltung zur Zeitgeraden. Dies lässt sich so vorstellen, dass die gestalthafte Zeiteinheit, die intern zwar einen Richtungssinn von einem Handlungsursprung auf ein Handlungsziel hat, jedoch bezüglich des gesamten Handlungsfeldes nach allen Seiten offen ist, eine Beschränkung der Pluralität der Richtungsmöglichkeiten auf eine einzige Dimension sowie eine Kanalisation in eine Richtung erfände. Der Bildungsprozess der Linearzeit gehört derselben Mentalitäts und Kulturepoche an wie der der Zahl, sie kommen aus derselben gestalttheoretischen Konzep¬tion und sind nicht unabhängig voneinander zu denken. Zahlen waren ursprünglich Ge¬stalten.

Der Nachweis eines einsinnigen Zeitverlaufes ist eines der bislang ungelösten Probleme der Physik. Im Alltag ist die Vorstellung eines Gestern und Vorgestern sowie eines Morgen und Übermorgen wie auch die Vorstellung von der Vergänglichkeit alles Irdischen und der Unwiederbringlichkeit von Situationen und Ereignissen das Selbstverständlichste der Welt. Es ist unsere geschichtliche, kulturelle und wissenschaftliche Prägung, die uns einen Zeit und Geschichtsfluss suggeriert.
In der Physik, zumal in der Mechanik einschließlich der Quantenmechanik gilt die Reversibilität, d. h. die Umkehrbarkeit der Gesetze. Der Wind, der eine Figur in den Sand zeichnet, kann sie auch wieder auslöschen. Wie lässt sich unter solchen Bedingungen die Irreversibilität, die Unumkehrbarkeit der Zeit, die durch den Zeitpfeil ausgedrückt wird, legitimieren? Aus der Biologie wird der Gedanke der Evolution zur Stützung herangezogen. Der naheliegendste Hin¬weis auf irreversible Prozesse dürfte Gloy zufolge jedoch aus der alltäglichen, biologisch fundierten Lebenserfahrung des Alterungs und Verfallsprozesses alles Organischen und der anschließenden Verwesung des Leichnams stammen.

Die Einsteinsche spezielle Relativitätstheorie aktualisierte die Annahme eines perspektivischrelativistischen Zeitkontinuums, wie es bereits fünfhundert Jahre zuvor durch die Entdeckung der perspektivischen Malerei eingeführt worden war: die Abhängigkeit der Lagen und Distanzen der Gegenstände im Raum vom Standpunkt und Blickwinkel des Betrachters. Diese Entdeckung wurde von Einstein ergänzt um die Abhängigkeit der Zeitbestimmung, der messbaren Dauer, der ubiquitären Gleichzeitigkeit und der Sukzession selbständiger, kausal nicht verbundener Ereignisse vom Beobachter und seinem Bezugssystem.
Gravierender für das Zeitverständnis war jedoch die Entdeckung der Quantentheorie. Diese reduziert die Natur auf Erscheinungen, da Ort und Impuls niemals gleichzeitig exakt angebbar sind. Viele Physiker verspüren die wissenschaftliche Nichtmehranwendbarkeit der vulgären Linearzeit, sehen jedoch keinen geeigneten Weg für eine Neukonzeption der Zeit und halten daher am traditionellen Modell fest.