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Ethik: Ernst Tugendhaft gründet Gerechtigkeit auf Gleichheit


Ernst Tugendhat gründet Gerechtigkeit auf Gleichheit

Manche Autoren meinen, der Glaube an die Menschenrechte sei ein spezielles Phänomen der westlichen Kultur, und andere glauben, in anderen Kulturen analoge Überzeugungen suchen zu müssen. Ernst Tugendhat hält in seinem Buch

Tugendhat, E.: Anthropologie statt Metaphysik, 204 S., Ln., 2007, € 19.90, C.H. Beck, München

beide Auffassungen für falsch: Die Menschenrechte sind der wesentliche Bestandteil der Legitimität jedes Staates, sofern und wann immer man den Glauben an eine traditionalistische, d. h. autoritäre Legitimation verworfen hat. Wenn die Legitimität sich nicht mehr auf Autorität beruft, kann sie sich nur auf die Menschenrechte gründen: Das war das, was in den nordamerikanischen und französischen Revolutionen erkannt worden ist. Alle Rechtfertigung durch Autorität ist immer letztlich ungültig, weil sich die Autorität nicht ihrerseits rechtfertigen lässt. Der Glaube an die Menschenrechte ist für Tugendhat etwas Unhistorisches: es ist die einzig denkbare Bedingung für eine definitive Begründung der Legitimität eines Staates bzw. eines menschlichen Zusammenlebens.

Der Glaube an die Menschenrechte als entscheidende Grundlage der Legitimität setzt die normative Gleichheit aller Menschen voraus. Der Egalitarismus besteht in der Überzeugung, dass in einem legitimen Staatswesen alle Bürger die gleichen Grundrechte haben, und dass dies darüber hinaus für alle Menschen gilt. Der Begriff der Gleichheit ist eng mit dem der Gerechtigkeit verbunden.

Die Idee des Egalitarismus ist jedoch nicht, dass die Menschen tatsächlich gleich sind, sondern dass sie trotz ihrer Ungleichheiten (des Geschlechts, der Rasse usw.) normativ als gleich gelten sollen. Tugendhat vermutet den Ursprung dieser Idee im Christentum: Gott liebt alle Menschen gleichermaßen. Nun haben viele christliche Vorstellungen ihre Überzeugungskraft verloren. Dass dies für die Idee der Gleichheit nicht der Fall ist, liegt darin, dass diese ihre Gültigkeit in sich hat.

Was aber ist der Ursprung unserer Überzeugung, dass es keine Legitimität ohne Gleichheit gebe? Diese Frage hat Tugendhat seit langem beschäftigt. Als er den Dialog in Laetitia schrieb, dachte er, er hätte eine Lösung gefunden, aber dann kamen ihm Zweifel, und nun stellt er eine neue Lösung vor.
Tugendhat ging davon aus, dass eine nichtautoritäre Moral auf die Interessen der Mitglieder einer Gesellschaft bezogen und dass sie für alle gleichermaßen begründet und daher auch für alle gleichermaßen gut sein müsse. Er war der Ansicht, dass man den Ursprung der Gleichheit als normativen Grundbegriff sehen müsse. Allerdings beinhaltete diese Erklärung eine gewisse Zirkularität: Der selbe Begriff der Gleichheit, der für den Gehalt der Moral gilt, kehrt in der Art der Begründung wieder. Es kommt aber noch etwas weiteres dazu: Zu behaupten, dass eine nichtautoritäre Moral nur als begründet angesehen werden kann, wenn sie für alle gleichermaßen begründet ist, erscheint wie eine willkürliche Definition. Warum, so kann man entgegnen, muss eine nichtautoritäre Moral so verstanden werden?

In seiner neuen Lösung nimmt Tugendhat keinen Bezug mehr auf Moral und auf die Frage, wie sie begründet wird, dafür auf die anthropologische Struktur bzw. auf eine grundsätzliche Alternative im sozialen Handeln. Menschen können sowohl alleine handeln als auch gemeinsam mit anderen. Wenn Menschen ein gemeinsames Unternehmen durchführen, hängt dieses Handeln von ihrem Wollen ab. Wie verbindet sich das Wollen der verschiedenen Personen zu einer gemeinsamen Handlung? Tugendhat sieht nur zwei Möglichkeiten. In dem einen Fall ist es einer von ihnen, der der Bestimmende ist; im anderen Fall gibt es hinsichtlich Bestimmung und Unterwerfung zwischen A, B, C eine Symmetrie. Nicht einer entscheidet und bestimmt, sondern alle entscheiden gemeinsam und dass heißt, dass alle gleichermaßen dazu beitragen, wie gehandelt wird. Hier hat Tugendhat zufolge der Gleichheitsbegriff seinen Ursprung.

Wenn man ein Gut untere mehrere verteilen kann, kann man das unter den Begriff einer gemeinsamen Handlung subsumieren. Wenn die Stücke einer Torte verteilt werden, hängt die Art der Verteilung davon ab, ob die Tätigkeit der Gruppe durch Macht bestimmt
wird oder ob sie sich als symmetrisch versteht. Das bedeutet, dass gleichzeitig mit dem Begriff der Gleichheit auch der der Gerechtigkeit aufkommt. Die Gerechtigkeit hat danach ihren Ursprung gemeinsam mit der Gleichheit bei einer gemeinsamen Tätigkeit als Alternative zur einseitigen Macht. Gerechtigkeit hat also einen deskriptiven Ursprung. Vielleicht wäre es terminologisch richtiger, auf der primären deskriptiven Ebene einfach von Gleichheit und Symmetrie zu sprechen und von Gerechtigkeit erst auf der zweiten Ebene der präskriptiven Dimension. Das Motiv für die Moral liegt (teilweise) in der positiven Bewertung der Symmetrie.

Alle autoritäre Moral gründet in einer verschleierten Macht. Eine solche kann die Tatsache überlagern, dass eine Verteilung, die nicht machtbestimmt ist, nur symmetrisch sein kann. Dieser Faktor von Macht tritt ans Licht, wenn man nach der Rechtfertigung der Autorität fragt. Auf die Frage: „Warum?“ kann man als Antwort auch darauf aufmerksam machen, dass es eine Norm der Ungleichheit gibt, die gleichwohl gerecht ist. Auf die Frage eines Kindes, warum es weniger von der Torte bekomme als andere, wird ihm z.B. gesagt: weil es nicht an Hunger leide. Der Fehler derer, die glauben, dass alle Gerechtigkeit relativ zu bestimmten Standards sei, besteht nach Tugendhat jedoch darin, dass sie sich nicht fragen, wie diese Standards ihrerseits zu begründen sind. Sie sehen nicht, dass das Gerechte, wenn man den Standard nicht begründen kann, zu etwas Relativem und Konventionellem wird, das im Widerspruch zum Sinn von Gerechtigkeit steht. Wenn man aber den Standard der propositionalen Gerechtigkeit begründen will, wird man erneut zur Gleichheit zurückgeführt und wenn sie sich nicht darauf zurückführen lässt, ist sie ungültig.

Unbefriedigend ist es, Gerechtigkeit auf eine allgemeine Intuition zurückzuführen. Warum erscheint es intuitiv gerecht, dem Behinderten mehr Mittel zu geben und dem, der sich anstrengt, ein höheres Entgelt? Die Antwort ist in beiden Fällen, dass es sich um eine Kompensation handelt. Man macht eine vor¬ausgehende Ungleichheit wieder gut, und das heißt, die ungleiche Verteilung ist gerade deswegen gerecht, weil sie die Gleichheit wiederherstellt. Auf keinen Fall sollten wir aber einer gerechten Ungleichheit, wie das gewöhnlich geschieht, intuitiv vertrauen (denn sie könnte einfach auf sozialen Konventionen beruhen), sondern man sollte immer fragen, was der Grund dafür ist. Beispielsweise bei jener ungleichen Verteilung, von der heute die meisten meinen, dass sie gerecht sei und die man Verteilung nach Verdienst nennt. Dabei verdienen diejenigen, die besser ausgebildet sind und angeblich mehr zum sozialen Wohl beitragen, mehr als alle anderen. Eine solche Verteilung ist nicht gerecht, sondern lediglich innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft nützlich. Gerecht wäre dagegen eine Verteilung der Einkommen, in der diejenigen, die eine Tätigkeit ausführen, die in sich selbst befriedigend ist, weniger verdienen, und die, die die schmutzige Arbeit verrichten, mehr Gehalt beziehen. Man könnte dann frei wählen zwischen schwerer Arbeit verbunden mit mehr Einkommen oder angenehmer Arbeit verbunden mit weniger Einkommen. Wir hätten ein Ergebnis, bei dem die Summe gleich wäre: der, der mehr von dem einen hätte, hätte weniger von dem anderen.