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Poser, Hans: Von der Theodizee zur Technodizee. Ein altes Problem in neuer Gestalt

Aus Heft 3/2011


Das Technodizee-Problem

In einer Ökologie-Diskussion wurde jüngst ein Beispiel herangezogen, das ganz dem Theodizee-Problem entspricht: Tiger sind dem Menschen gefährlich; warum sollen wir sie dann schützen und nicht ausrotten? Weil die Vielfalt der Natur ein Wert ist, lautet meist die Antwort, und sie provoziert die Frage, warum Vielfalt etwas Wertvolles sei. Im 17. Jahrhundert hätte die Frage gelautet: Warum hat ein allmächtiger und gütiger Gott die so gefährlichen Tiere geschaffen? Leibniz verallgemeinert dies zum Theodizee-Problem als Frage nach dem Übel in der Welt: Vor 300 Jahren erschien jenes Buch, dem die folgenden Überlegungen gewidmet sind – die Essais de Théodicee sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal.

Leibniz gibt eine höchst komplexe Antwort auf die Leitfrage: Das Übel, so der Kerngedanke, ist um einer Maximierung der Harmonie als Vielfalt in der Ordnung willen in der besten der möglichen Welten unvermeidlich und darum zuzulassen – letztlich, um menschliche Freiheit und Verantwortung zu ermöglichen.

Der Mensch als Mängelwesen mit Vernunft bedarf zum Leben und Überleben der Technik; doch in der erwähnten Ökologie-Diskussion betonte ein Inder, dass sich das Auto als Fortbewegungsmittel dabei als viel gefährlicher erweist als alle Tiger, denn allein in Deutschland werden in jedem Jahr mehr Kinder von Autos getötet als in Jahrzehnten durch Tiger in Indien: Damit ergibt sich als eine verwandelte Form der Theodizee das Technodizee-Problem, in dem nicht Gott, sondern der Mensch für die üblen Folgen seiner Schöpfungen angeklagt wird. Haben wir dafür eine Lösung?

Elemente der Theodizee

Leibnizens Theodizee sucht eine Antwort auf die Frage, wie das Übel in der Welt angesichts der Weisheit und Güte Gottes möglich sei. Die Frage ist alt – sie wird am knappsten von Laktanz, einem der Kirchenväter, um 300 n. Chr. so formuliert:

„Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft; wenn er kann und nicht will, dann ist er missgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl missgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“
(Laktanz, De ira Dei, c. 13, von ihm fälschlich Epikur zugeschrieben)

Leibniz’ Antwort auf die Hiob-Frage ist nicht christliche Demut, sondern Ausdruck des Anspruchs des Rationalisten, die Vereinbarkeit des Leidens in der Welt mit der göttlichen Weisheit und Güte mit vernünftigen Gründen belegen zu können. Sein Lösungsweg ruht auf vier Argumentationspfeilern:

- Den ersten Pfeiler bildet die Modaltheorie (Theod. I § 37-44), die den Gedanken einer freien Wahl Gottes unter den logisch möglichen Welten begründet. Sie verlangt bei Leibniz ontologisch die regio idearum, das Reich der Ideen. Es beruht bei ihm auf dem Prinzip der Identität und des Widerspruchs.

- Der zweite Pfeiler betrifft die geschaffene Welt und besteht in der Monadenmetaphysik, die zum einen die Individualität und Finalität der Monaden als deren Lebensplan (oder mit Leibniz: als deren individuelles Gesetz) und zum anderen die Kausalität der Phänomene verknüpft. Für Leibniz beruhen beide Bereiche auf seinem Prinzip des zureichenden Grundes in der Doppelheit von Vernunftgrund und Kausalgrund.

- Der dritte und verbindende Pfeiler beruht auf dem Prinzip des Besten, das allem göttlichen wie menschlichen Handeln vorausliegt; er betrifft also das Reich der Werte, die Werte-Welt.

- Der letzte Pfeiler schließlich ist die Unterscheidung der Arten des Übels als malum metaphysicum, malum physicum und malum morale (Theod. I § 21).

 

 


Auf dieser Grundlage wird die These von der Zulassung des Übels als Preis für die Erschaffung einer Welt mit Wesen vertreten, die frei sind (Theod. I § 25): Das Metaphysische Übel besteht darin, dass die geschaffene Welt weniger vollkommen sein muss als Gott, denn sonst wäre die Schöpfung mit ihm identisch. Übel muss also zugelassen werden, wenn es eine Schöpfung geben soll. Das Physische Übel (z. B. Schmerz) muss zugelassen werden, wenn es eine dynamische Schöpfung geben soll; denn wenn die physische Welt ein Maximum an Realität enthalten soll, muss sie dynamisch sein – und damit enthält sie Tätigsein und Leiden. Das Moralische Übel (die Sünde) muss zugelassen werden, wenn es in der Welt Freiheit statt Instinkt geben soll; denn dann muss die Möglichkeit des Verstoßes gegen moralische und Gerechtigkeitsprinzipien zugelassen werden. Doch selbst wenn Gott diese Verstöße voraussieht, hat er sie nicht determiniert – für den Missbrauch der Freiheit sind wir, die vernünftigen Wesen, verantwortlich!

Allein hier schon zu enden wäre voreilig, denn Leibniz steht vor einer doppelten Schwierigkeit: Er muss zeigen, dass die menschliche Freiheit weder durch Gottes freie Wahl der zu schaffenden Welt noch durch die Kausalität des Handlungsablaufes in der Welt zunichte gemacht wird. Das erste Problem löst er durch die Unterscheidung von Vorherwissen und Vorherbestimmen (Theod. I § 2): Innerhalb einer jeden möglichen Welt beruht die freie Entscheidung eines möglichen Individuums auf einer Reflexion über Möglichkeiten, wobei die Reflexion diesem Individuum zugehört, während die Möglichkeiten auf andere mögliche Welten bezogen sind; so sieht Gott die freien Entscheidungen eines möglichen Individuums voraus, ohne sie doch zu determinieren – ihre Determination erfahren sie durch das Individuum selbst (Theod. III § 365). Damit ist für Leibniz auch das zweite Problem gelöst, denn Freiheit als Reflexion auf Möglichkeit in Gestalt von Handlungsalternativen und als vernünftige Wahl unter ihnen ist hinsichtlich der Möglichkeiten nicht gebunden an die physische, hypothetische Notwendigkeit der wirklichen Welt, ohne doch zugleich deren Determiniertheit im realen Handlungsablauf aufzuheben.

Dahinter verbirgt sich nun noch ein weiteres Problem, das die Verbindung zur Theodizee herstellt. Gott wählt die beste der möglichen Welten und muss deshalb das malum morale – die Sünde – zulassen; und dies nicht nur als bloß theoretische Möglichkeit, sondern de facto. Damit aber wiederholt sich das Theodizee-Problem auf einer höheren Ebene. Wenn Gott die sündhafte Handlung eines Menschen zwar nicht vorherbestimmt, wohl aber voraussieht – warum lässt er sie dann überhaupt zu?

Leibnizens Antwort besteht aus zwei Teilen. Im ersten vertieft er, was wir eben schon kennen gelernt haben: Der Handelnde, der eine Sünde begeht, tut dies aus Mangel an Wissen; denn selbst wenn er weiß, dass er gegen ein menschliches oder göttliches Gebot verstößt, so fehlt ihm doch offenbar die Einsicht, warum diesem Gebot zu folgen ist. Tugend, so hatte schon Platon seinen Sokrates sagen lassen, beruht auf Wissen. Soweit das Individuum weiß, dass ihm das Wissen fehlt, ist es fraglos verantwortlich; denn nur soweit eine Monade distinkte Perzeptionen hat, kann sie frei handeln, während nicht-distinkte Perzeptionen zu einem Leiden führen, zu einem malum physicum. Doch ist dies zugleich ein malum morale, eines, das der Handelnde moralisch nicht zu verantworten hat – oder nur so weit, als er, um seine Wissenslücke wissend, versäumt hat, sein Wissen zu vergrößern? Liegt solches Wissen nicht vor, könnte jemand zum Sünder werden, ohne eigentlich verantwortlich zu sein. Noch gravierender wird dies, wenn das Übel, gar die Sünde, Teil des göttlichen Heilsplanes ist.

Damit sind wir beim zweiten Element der Leibnizschen Antwort; denn im zuletzt skizzierten Falle wäre jemand ein Sünder ohne direkte Verantwortung für sein Tun. Zwar verrät Judas Christus für dreißig Silberlinge, aber indem er so handelt, erfüllt er entsprechend der göttlichen Vorausschau eine Prophezeiung Jesu und ermöglicht den Opfertod Christi. Weil das menschliche Wissen über die Handlungsfolgen beschränkt ist, weil nur ein Teil der menschlichen Perzeptionen Apperzeptionen sein können, müssen göttliche Gnade und Vergebung hinzutreten – als Teil des Weltplanes. Das malum morale wird also von Gott vorhergesehen, zugelassen (wenn auch nicht als solches gewollt) – und endlich nicht mehr auf der Ebene dieser Welt, sondern auf der Ebene des Glaubens zum Ausgleich gebracht.

Heute erscheint uns das Theodizee-Problem als antiquierte Fragestellung des 18. Jahrhunderts, vom Spott Voltaires im Candide erschüttert, mit dem Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 widersinnig und seit Kants Rückverlagerung der Problematik von Vernunft und Verstand in das transzendentale Subjekt gegenstandslos. Gegen Leibniz gewandt konnte Schopenhauer nur noch voller Unverständnis konstatieren, diese Welt müsse die schlechteste aller möglichen Welten sein; denn wenn sie nur eine Winzigkeit übler wäre, könnte sie gar nicht mehr existieren.

Dennoch hat diese Sinnentleerung, diese Säkularisierung der ursprünglichen Fragen nicht dazu geführt, die damit verbundenen Probleme verschwinden zu lassen, sie sind nur transformiert worden. Odo Marquard hat gezeigt, wie sich die Denkfigur der „Entübelung des Übels“, in der das malum zum bonum gewandelt wird, durch das ganze 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart zieht. Der Leitgedanke, den er entwickelt, ist folgender: Hatte sich bei Leibniz Gott vor den Menschen zu verantworten, so ist es heute der Mensch, der sich vor dem Menschen zu verantworten hat – er ist Angeklagter und Ankläger zugleich. Den Grund für diese Situation sieht Marquard im Innewerden der Geschichtlichkeit des Menschen, da Geschichte seit Giambattista Vico als von uns selbst hervorgebrachte Geschichte gesehen wird.

Der Ansatz Marquards ist fruchtbar – aber er bleibt in einer geistesgeschichtlichen Orientierung stehen. Er wird damit um jenen Teil verkürzt, der gerade die modernen Lebensbedingungen ermöglichte – allem voran die verwissenschaftlichte Technik. Dort aber, so meine These, tritt uns ein Problem entgegen, das strukturell dem alten Theodizee-Problem entspricht; denn wie Gott die Welt erschuf, so schafft der Mensch dank der Technik die menschliche Lebenswelt und damit die menschlichen Lebens- und Handlungsbedingungen.

Technik als Lebensbedingung

Technologische Übel haben zwar immer wieder zu Kritik und Maschinenstürmerei geführt, letztlich jedoch wurden sie bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs als zuzulassende Übel gesehen, die den technischen Fortschritt als Fortschritt der Menschheit ermöglichen. Heute aber drohen die von uns bewirkten Technikfolgen in einer Apokalypse zu münden: Technik wird von Menschen mit dem Ziel hervorgebracht, die Lebensbedingungen zu verbessern, ja ganz im Sinne des Prinzips des Besten die besten denkbaren Lebensbedingungen zu schaffen und damit gleichzeitig die Kultur einer Gesellschaft (von der die Technik selbst ein wesentlicher Teil ist) zu sichern und deren weitere Entfaltung zu ermöglichen; darum haben wir als die Schöpfer die mit der Technik verbundenen Übel in einer Technodizee zu verantworten.

Für das Folgende mag es genügen, eine Definition Friedrich Dessauers voranzuschicken: „Technik ist reales Sein aus Ideen durch finale Gestaltung und Bearbeitung aus naturgegebenen Beständen.“ (Dessauer, Streit um die Technik, S. 234)

Deutlich wird an Dessauers Definition, dass sich hinter ihr eine bestimmte philosophische Grundauffassung verbirgt, der Gedanke nämlich,

- dass es Ideen als etwas Immateriell-Ideelles gibt, die ein Prius gegenüber den naturgegebenen Beständen im Sinne eines realen Seins besitzen;
- weiter dass sich diese naturgegebenen Bestände gestalten und bearbeiten lassen, sodass ein verändertes reales Sein entsteht;
- schließlich, dass diese Bearbeitung final ist, also Zwecken folgt, die die kausal zu erfüllenden Funktionen des Artefakts einschließen. Zwecke aber sind nichts, das zum realen Sein gehört, sondern etwas, das auf Werten beruht, für deren Verkörperung ein reales Seiendes eingesetzt wird.

Dies alles lässt sich wiederum mit Leibniz so sehen, dass hier alle drei Welten der Theodizee-Argumentation eingehen – das Reich der Ideen, die raum-zeitliche Welt der technischen Schöpfungen und das Reich der Werte.

Neben der Beweglichkeit der gestaltenden Hand ist dabei Freiheit und Kreativität vorausgesetzt, die den homo faber, den Handwerker, zum homo creator, dem menschlichen Schöpfer werden lassen; erst damit wird Technik zum Mittel der Weltgestaltung. Zugleich aber wurde und wird diese Technik zur Gefahr, indem sie durch Versagen, durch fehlerhafte Anwendung, durch Missbrauch und als Kriegstechnik das Überleben des Einzelnen und als heutige Großtechnik in ihren Spätfolgen möglicherweise das Überleben der Menschheit selbst in Frage stellt.

Technodizee und malum technologicum

In der säkularisierten Form der Theodizee, in der Technodizee, wird die Technik angeklagt, statt menschliche Lebens- und Freiheitsbedingungen zu schaffen, eben diese einzuschränken oder gar zu zerstören. Das malum technologicum besteht in der Zulassung der Möglichkeit einer solchen Einschränkung oder Zerstörung als Preis für die Ermöglichung menschlichen Lebens, menschlicher Kultur und menschlicher Freiheit, da menschliches Leben ohne Technik nicht bestehen könnte. Wie nimmt sich nun die Anklage gegen die Technik und gegen ihre Protagonisten auf dem Hintergrund der Theodizee-Argumentation aus?

Die Argumentationsstruktur der Theodizee setzt drei ontologische Ebenen voraus:

- Die Ebene der möglichen Welten im Reich der Ideen.
- Die Ebene der Faktizität der geschaffenen Welt in der Doppelheit von Finalgrund und Kausalgrund.
- Das Reich der Werte in Gestalt des Prinzips des Besten, das allem göttlichen wie menschlichen Handeln voraus liegt.

Während bei Leibniz die Ebene der auf Gott gegründeten Möglichkeiten absoluten Vorrang hat, gilt dies heute für die Ebene der raumzeitlichen Wirklichkeit, die den Vorrang vor den technologischen Möglichkeiten besitzt; ihr nachgeordnet sind die Werte und Bewertungen, wie sie beispielsweise in der Technikbewertung und -folgenabschätzung zum Tragen kommen. Dieser Wechsel in der Gewichtung ist Folge der Säkularisierung. Sie bewirkt in unserem Zusammenhang, dass das menschliche Wissen eine höchst fundamentale Bedeutung erlangt: Die Klarheit und Distinktheit einer Perzeption hatte in der Leibnizschen Welt zwar konstitutive Bedeutung für die Individualität und Freiheit der Geist-Monade, aber in der technischen Welt wird sie zur Bedingung der technologischen Möglichkeit ebenso wie zur Bedingung der Zuschreibung eines Wertes (weil man nur das bewerten kann, was man praktisch oder theoretisch kennt und um dessen Folgen man weiß oder die man glaubt abschätzen zu können).

Die Ebene der Möglichkeit

Wie in der Theodizee geht es in der Technodizee um die Rechtfertigung der Technik als Ermöglichungsgrund einer besseren Welt. Grundsätzlich sind dabei drei Varianten des Technikverständnisses denkbar, die solche Möglichkeiten sehr unterschiedlich sehen:

Der erste Fall besteht in einer Auffassung, die sehr an Leibniz gemahnt und die sich ergibt, wenn man Friedrich Dessauer folgt. Dieser vertrat folgende Sicht: Die „Singularität der besten Lösung aller überhaupt möglichen eindeutigen technischen Probleme bedeutet, daß die Lösungen in der Potenz schon vorhanden, also prästabiliert sind. Wir machen die Lösung nicht, wir finden sie nur.“ (Philosophie der Technik, 2. Aufl. 1928, S. 19) Alle technologischen Lösungen liegen als „ideale Lösungsgestalten“ in einem platonischen Ideenreich vor; der Ingenieur tritt also an die Stelle des Leibnizschen wählenden Gottes, indem er die ideale Lösungsgestalt zu finden und zu verwirklichen sucht. Im Unterschied zur göttlichen Wahl bleibt er hierbei jedoch an den Horizont seines Wissens gebunden; eben diese Einschränkung ist die Wurzel eines Übels.

Ganz im Gegensatz dazu wird im zweiten Fall Technik als eine autonome Angelegenheit mit einer eigenen Dynamik verstanden, die als vom Menschen unabhängig gesehen wird. Diese Auffassung findet sich überall dort, wo die Nichtsteuerbarkeit der Dynamik der Technikentwicklung angenommen wird. Schon Jaques Ellul hatte die Autonomie der Technik vertreten: Wir sind ihre Sklaven, denn wir gehorchen ihr nicht nur, wenn wir sie bedienen, sondern auch, wenn sie einer Weiterentwicklung bedarf (Ellul, La Technique ou l’enjeu du sciècle, 1954). Ein bis heute nachwirkendes Extrem wurde von Stanislav Lem 1959 in seinem Science-Fiction-Roman Eden entworfen. Dort zeichnet er eine dynamische, sich selbst evolvierende Technik, also eine sich selbst optimierende Evolution im Nichtbiotischen und rein Materiellen: Man denke etwa an Roboter, die selbst Roboter bauen und diese dabei gegenüber ihren eigenen Fähigkeiten verbessern. Das Beste, das jeweils verwirklicht wird, ist hier nicht Resultat einer zeitlos-göttlichen Wahl, ebenso wenig hängt es ab von einer auf Wissen und Können basierenden menschlichen Wahl, sondern es genügt den klassischen Evolutionskriterien. Damit bleibt eine solche Techno-Evolution stets abhängig von einer jeweils gegebenen Ausgangssituation. Ontologisch gesehen gibt es hier nichts als eine von sich aus wirkmächtige (technische) Wirklichkeit, denn evolutionäre „Möglichkeiten“ werden ja durchaus verwirklicht, doch nur eine oder einige von ihnen haben für längere Zeit Bestand. Der Abstrich an Vollkommenheit als Wurzel des Übels liegt hier im Evolutionsprozess, der keine absolute Optimierung, sondern nur eine jeweils relative zuwege bringt – zu schweigen vom Übel der Versklavung des Menschen.

Der dritte Fall besteht in einem grundsätzlich anderen Verständnis der technischen Möglichkeit, nämlich in der Auffassung, dass alle Technik vom Menschen ausgeht. Menschen schaffen Technik zur Befriedigung ihrer soziokulturellen Bedürfnisse, indem sie nach technischen Mitteln als vom Menschen erdachte Möglichkeiten dafür fragen. Es wird also kein vorgegebenes platonisches Reich der Ideen angenommen; vielmehr sind wir es, die wir ein solches Ideenreich auf der Grundlage unseres Wissens zu entwerfen vermögen. Von Dessauer wird dabei aufgenommen, dass zu Beginn eine Idee – allerdings eine von Menschengeist entworfene konstruktive Idee – als Möglichkeit gegeben ist, die im technischen Artefakt ihre Realisierung erfährt. Das Malum der Angewiesenheit des Menschen auf Technik wird hierbei als anthropologische Konstante vorausgesetzt. Die jeweils geschaffene Technik beruht auf einer Optimierung unter den Möglichkeiten, die darauf gerichtet ist, das intendierte Ziel bestmöglich – etwa über einen möglichst geringen Aufwand – zu erreichen. Dabei ist ein Übel unvermeidlich: Die beste technologische Lösung ist stets nur eine relativ beste, nämlich bezogen auf die faktischen Ausgangsbedingungen, vor allem bezogen auf den Stand von Wissen und Können, doch ebenso sehr auf praktische Gegebenheiten wie die Verfügbarkeit von Material, Energie, Arbeitskräften etc. Die Bindung an den Wissensstand erlaubt aber zugleich den Fortgang der Optimierung im Zuge der Erweiterung des Wissens: Die Fortschrittshoffnung ist deshalb Bestandteil dieser Auffassung. Um der Zielerreichung willen ist also der Aufwand für die technische Lösung zuzulassen, mehr noch, um dieses Fortschritts willen erscheinen die technogenen Übel zulässig, weil sie selbst durch das Lernen aus Fehlern Anlass zu ihrer Überwindung geben: Die ganze Technikgeschichte ist voller Beispiele hierfür.

Der erste Fall wird heute praktisch nicht mehr vertreten; der zweite lässt menschlichem Handeln und menschlicher Verantwortung keinerlei Raum, so dass der dritte Fall als einzig ernstzunehmender Ansatz zurückbleibt. Doch zeigt sich bei allen eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: Unabhängig von der gewählten Ontologie beruht das malum technologicum, das technologische Übel, darauf, dass stets nur ein relatives Optimum erreicht werden kann, dessen Unvollkommenheit unvermeidlich ist. Aber diese zuzulassende Unvollkommenheit, diese Form des malum technologicum ist kein malum morale, sondern korrespondiert dem malum metaphysicum. Es hinzunehmen ist unumgänglich, wenn eine technische Entwicklung möglich sein soll – unabhängig von der Frage, ob diese der Mensch oder eine innere Dynamik vorantreibt. Solches Übel ist nicht sehr schwerwiegend, weil alle drei Deutungen seine Verringerung im Laufe der Geschichte versprechen, wie Leibniz dies hinsichtlich der Entwicklung des Guten als Vervollkommnung in der geschaffenen Welt angenommen hat. Aber die heutigen Probleme stellen sich dort, wo wir dem Leibnizschen Optimismus nicht folgen, weil wir die technologische Entwicklung nicht mehr unmittelbar als einen Forschritt begreifen können. So bleibt als Pendant zum metaphysischen Übel der Theodizee das Grundübel, dass wir Menschen auf Technik angewiesen sind, ohne dass damit eine Fortschrittsverheißung gesichert wäre, weil immer nur relativ gute Problemlösungen denkbar und damit möglich und erreichbar sind: Die Welt der technischen Möglichkeiten ist selbst eine vielschichtige geschichtsabhängige Konstruktion menschlichen Denkens.

Die Ebene der Faktizität der Welt

Während es bei Leibniz um die Welt als Gottes Schöpfung geht, dreht sich in der Technik alles um die menschliche Schöpfung von Artefakten und artifiziellen Prozessen. Wie bei Leibniz zeigt sich hier eine Doppelung, denn jedes Artefakt unterliegt einerseits den Naturgesetzen – und nur deshalb kann es funktionieren –, andererseits ist es Mittel zu einem Zweck und in diesem Sinne teleologisch: Ein Artefakt verstehen verlangt den Zweck zu kennen, für den es konzipiert und realisiert wurde und für den es eingesetzt wird. Zwecke kommen jedoch in der Natur nicht vor; wenn in der Medizin bei der Charakterisierung von Organen oder in der Biologie bei manchen evolutionären Deutungen von Zwecken die Rede ist, so wird eine der Technik entlehnte Sicht analogisierend übertragen. Für jede Technik ist hingegen ihr Zweck ihre Wesensbestimmung und Essenz, also etwas Ideelles. In jedem Artefakt kommen deshalb eine materielle und eine ideelle Seite zusammen wie dies für Leibniz’ Monadenwelt gilt.
Zugleich verlangt eben diese Zweckbestimmtheit das Funktionieren der Technik, welches wiederum Naturgesetzlichkeit, in der Regel Kausalität, voraussetzt: Auf bloße Wahrscheinlichkeit stochastischer Zweckerfüllung wird sich kein Flugzeugkonstrukteur und kein Fluggast einlassen wollen. Das gilt nicht nur für die klassische Maschinentechnik, sondern auch für Informationstechnologien, denn von der Hardware geradeso wie von der gespeicherten Software erwarten wir fehlerloses Funktionieren. Die Doppelheit, die Leibniz mit dem Prinzip des zureichenden Grundes verbindet, nämlich die durchgängige Kausalität der Körperwelt und die Finalität der Individuen, kehrt hier in der Doppelheit von Kausalität und Zweck des Artefaktes wieder – doch mit dem gravierenden Unterschied, dass menschliche technische Schöpfungen diese Doppelheit – Kausalität und Zweckerfüllung – als konstitutive Bedingung in den technologischen Schöpfungsplan eingehen lassen, weil wir die Naturgesetze nicht wählen können.

Wie aber ist nun das korrespondierende technologische Übel beschaffen? Bestand es in der Theodizee als zuzulassendes physisches Übel im Schmerz als Folge von Aktivität und Passivität, so mag man das Pendant zum einen in unvermeidlichen gelegentlichen Funktionsausfällen und zum anderen in den durchweg unvermeidlichen Folgen der Technik sehen: Folgenlose Technik ist unmöglich, deshalb sind Technikfolgen niemals vermeidbar.

Die Ebene der Wertung

Bemerkenswert für die Gegenwart ist eine Veränderung der Sicht vieler Phänomene, die Leibniz dem malum physicum zugerechnet hat oder zugeordnet hätte: Ein Erdbeben ist die Folge der tektonischen Dynamik der Erde – also ein malum physicum im Blick auf die Folgen für den Menschen. Genau das wurde mit dem Erdbeben von Lissabon zum Problem, denn Gott wäre dieses Ereignis als malum morale zuzuschreiben. Doch wie könnte er den Tod tausender unschuldiger Menschen verantworten? Damit wäre genau der vierte Fall der Laktanzschen Unterscheidung gegeben. Hier lässt sich nun eine bemerkenswerte Parallele zum Technodizee-Problem feststellen; dieses sei an einem Beispiel verdeutlicht: Als sich vor einigen Jahren Erdbeben vergleichbarer Stärke und ähnlicher Nähe zu Städten einerseits in der Türkei, andererseits in Japan ereigneten, kamen in der Türkei Hunderte von Menschen, in Japan dagegen nur einige wenige ums Leben – doch nicht Gott wurde eine Schuld zugesprochen, sondern den Baufirmen, die in der Türkei keine erdbebensicheren Gebäude errichtet oder bei der Ausführung gepfuscht hatten. Das malum technologicum einstürzender Häuser wurde also nicht als malum physicum und unvermeidliche Folge des Erdbebens gesehen, sondern als malum morale angesichts eines verantwortungslosen Umgangs mit technischen Möglichkeiten. Das Gleiche lässt sich heute auch bei anderen Naturkatastrophen wie Tsunamis, Hurrikanen und Überschwemmungen beobachten, wo das Fehlen von Dämmen, Vorwarnsystemen und Schutzmaßnahmen moniert wird, obgleich nicht die Einzelereignisse, wohl aber deren Häufigkeit bei einigen von ihnen nach heutigem Wissensstand technogenen Ursprungs sind. Das malum morale ist damit zur ständigen Begleitung des malum technologicum auch dort geworden, wo eine unmittelbare Verletzung der zu tragenden Verantwortung gar nicht vorliegt – so etwa bei einem unverschuldeten Autounfall, der dennoch Veranlassung gibt, die Konstruktion so zu ändern, dass dieser Unfalltyp vermieden oder in seinen Folgen abgemildert wird. Damit erweist sich die Werte-Ebene als die aus heutiger Sicht bedeutungsvollste.

Die Wertungseben der Theodizee gründete sich auf das Prinzip des Besten. Genau dieses Prinzip ist auch für die Technik und ihre Entwicklung leitend – als Suche nach der unter gegebenen Bedingungen besten Lösung. Damit wird ein normatives Element schon auf der Ebene der jeweils verfügbaren Möglichkeiten zum tragenden Auswahlprinzip. Dabei geht es nicht um bloßes Funktionieren, sondern um die Erfüllung individueller und sozialer Bedürfnisse, verstanden als Werte.
Von der Grundintention her wird mithin das Prinzip des Besten geradeso wie bei Leibniz zur entscheidenden Klammer – doch mit einer gravierenden Einschränkung: Während die göttliche Sicht ganzen möglichen Welten in ihrer Totalität gilt, um darunter zu wählen, ist solcher Holismus der menschlichen Wahl verwehrt. Zwar kann die Begrenztheit unseres Wissens um Möglichkeiten und Folgen durch den Einsatz von Computer-Simulationen und die Wahl unter ihnen verringert, grundsätzlich jedoch nicht aufgehoben werden. Auch dieses ist ein unüberwindliches Übel, das zugleich zum schwerwiegenden Anlass der Technodizee wird: Wenn alle Technik letztlich auf ein Optimum zur Sicherung des Überlebens und darüber hinaus des Lebens im Sinne eines menschenwürdigen Daseins abzielt – wie kann sie dann nicht nur zu diesem oder jenem Übel, sondern zur Gefährdung des Überlebens der ganzen Menschheit führen?

Der Begriff der Verantwortung lässt sich als theoretisches Pendant zu Leibniz’ Erhebung des Individuums zur Substanz auffassen, denn Verantwortung – ein sehr moderner Begriff – kann nur Individuen zugesprochen werden, überdies nur solchen, die zur Reflexion auf ihr Handeln fähig sind. Jemand (der Handelnde oder das Verantwortungssubjekt) muss sich für etwas (die Handlung) vor jemandem (die Verantwortungsinstanz) im Hinblick auf etwas (Normen, Regeln oder Werte) verantworten. Dieser Verantwortungsbegriff liegt sowohl der Theodizee wie der Technodizee zugrunde, denn in der Theodizee muss sich Gott als Individuum vor der menschlichen Vernunft für seine Schöpfung angesichts des Übels verantworten, während sich in der Technodizee der Mensch vor dem Menschen für seinen Gebrauch der Technik als Optimierung seiner Lebensbedingungen im Hinblick auf die üblen Folgen verantworten muss.

Traditionell war Gott die letzte und höchste Verantwortungsinstanz. Doch in der Theodizee wie in der Technodizee liegen die Dinge anders; denn in beiden Fällen ist die letzte Instanz der Mensch. Damit ergibt sich für uns eine vollkommen neue Dimension des Problems. In der Tradition steht ein einzelnes Individuum vor Gott; in der Theodizee wird Gott als Handelnder als Individuum verstanden und tritt nicht einem Individuum, sondern dem Menschengeschlecht als Verantwortungsinstanz gegenüber; doch in der Technodizee können wir angesichts der heutigen großtechnischen Systeme kein einzelnes Individuum als Handelnden mehr herauslösen! Gerade hieraus erwächst die am Lemschen Beispiel beschriebene und von Ellul als Versklavung des Menschen gesehene Vorstellung einer sich völlig unabhängig von menschlicher Steuerung in Eigendynamik entwickelnden Technik. Sie ist in dieser Sicht jeder Zuschreibung von Verantwortung entzogen, und das Problem der Technodizee wird gegenstandslos!

Ein Ausweg bietet sich auf dem Hintergrund des Leibnizschen Monaden-Gedankens an. Er zeigt uns, dass auch in einer komplexen Handlungsstruktur gleich welcher Art letztlich immer nur Individuen handeln – jedoch unter Kompossibilitätsbedingungen aller Individuen; damit aber bleiben die Individuen Verantwortungssubjekte, und Leibniz’ Freiheitsbegriff weist hierzu den Weg. Um diesen Gedanken auf unser Problem übertragen zu können, muss man in der Technodizee das Individuum einem Vorschlag Hans Lenks folgend als Mithandelnden auffassen, etwa als Mitglied einer Kommission, als Experte, Planer, Geldgeber, Hersteller, Anwender etc. In dieser Sicht gewinnt der Begriff des Individuums eine neue Bedeutung und gestattet es, die Verantwortungszuschreibung als Mitverantwortung weiterhin auf das Individuum zu beziehen.

In der Leibnizschen Theodizee dient die Konstruktion möglicher Welten und die Monadenkonzeption dazu, die göttliche Schöpfung vermöge des Prinzips des Besten so zu deuten, dass Gott das Übel nicht gewollt, sondern in seinen drei Gestalten des malum zugelassen hat, um eine dynamische Welt freier Individuen schaffen zu können. Entscheidend sind hierbei die Kriterien, die im Prinzip des Besten formuliert werden, nämlich eine Maximierung von realitas (Seinsfülle) bei gleichzeitiger Maximierung der perfectio (naturgesetzliche wie moralische Ordnung) – was beides zusammen für Leibniz ein Maximum an Vollkommenheit und Harmonie bedeutet. Im Falle menschlicher Handlungen, also für das malum morale, wird daraus die Forderung, dass jede Handlung nach Vollkommenheit zu streben hat, um gut zu sein, denn „gut ist, was zur Vervollkommnung beiträgt“ (Leibniz, GP VII. 195). Letztlich muss Leibniz voraussetzen, dass das Gute frei von jeder Subjektivität an einem objektiven Optimum orientiert ist, während das Übel nicht dessen Gegenpol bedeutet, sondern in der graduellen Entfernung vom Guten besteht.

Welches Prinzip des Besten kommt demgegenüber im Rahmen einer Technodizee zum Tragen? Und wie nimmt sich in seinem Licht das malum technologicum aus? Schon Leibnizens Formulierung des Prinzips des Besten bereitet Schwierigkeiten, weil zwei unterschiedliche Größen (realitas und perfectio – Seinsfülle und Vollkommenheit) maximiert werden sollen; das aber kann nur gelingen, wenn für beide eine Gewichtung und ein daraus resultierendes gemeinsames Maß angebbar ist. Diese Schwierigkeiten kehren im Bereiche der Technikbewertung in verschärfter Form wieder, weil eine Technologie nicht nur hinsichtlich des Erreichens eines gesteckten Ziels (d .h. hinsichtlich ihrer Funktionstüchtigkeit) zu bewerten ist. Vielmehr gehen als weitere Faktoren neben der technischen Effektivität und Wirtschaftlichkeit etwa Sicherheit, Gesundheit und Umweltverträglichkeit ebenso ein wie grundlegende personale und gesellschaftliche Werte. Diese Wertebenen umschließen zahlreiche Unterwerte; überdies stehen sie vielfach in einem Spannungsverhältnis; so hat höhere Sicherheit ihren Preis und tangiert damit die Wirtschaftlichkeit. Darüber hinaus ist nicht nur der Stand des Wissens und Könnens nie abzustreifen, sondern auch die kultur- und geschichtsabhängige Gewichtung der einzelnen Werte und Wertebenen: Der homo creator bleibt immer an seine Ausgangsbedingungen gebunden.

Worin besteht das malum technologicum hier? Seine Voraussetzung ist die anthropologische Mängelstruktur des Menschen, welche die Technik als Überlebensbedingung unausweichlich macht. Doch über diese Minimalbedingung hinaus hat Technik immer dazu gedient, Bedürfnisse besser zu befriedigen; Bedürfnisse ihrerseits erweisen sich dabei als soziokulturell vermittelt und damit regional wie geschichtlich unterschiedlich. Nun ist aber die Herstellung und Verwendung jedes technischen Artefakts – vom Messer bis zur computergesteuerten systemtechnischen Großanlage – mit einem malum technologicum verbunden, denn nur auf einem Umweg über Arbeitsaufwand und finanziellen Aufwand und unter Inkaufnahme von Sicherheits-, Gesundheits- und Umweltgefahren ist das Ziel der Bedürfnisbefriedigung zu erreichen, für das die Technik das Mittel sein soll. Überdies kann Technik versagen – auch das ist trotz des ständig steigenden Sicherheitsanspruchs nie auszuschließen, sondern ein im Grundsatz unüberwindliches malum. Ebenso ist das malum morale des Missbrauchs als Folge des Missbrauchs menschlicher Freiheit als Möglichkeit niemals zu verhindern, also nicht auszuschließen. Das Mittel, das menschliches Überleben und die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse ermöglicht, verlangt also unumgänglich die Zulassung dieser technogenen Formen des malum. Die Rechtfertigung hierfür beruht auf einer Argumentation, die derjenigen der Leibnizschen Theodizee ganz analog ist: das malum in all diesen Gestalten zu tragen und zu ertragen muss sich relativ zum Ziel lohnen. Es lohnt die Mühe, Holz zu schlagen, um zu heizen; es lohnt, Industrieroboter zu entwickeln, um Autos durch sie bauen zu lassen anstelle der Fließband- oder gar Handarbeit. Aber auch in der gegenwärtigen Einschätzung des Individualverkehrs: es lohnt trotz der Gefahr eines Verkehrsunfalls, ein Auto zu benutzen. Ebenso lohnt sich der gesetzgeberische und sicherheitstechnische Aufwand zur Vermeidung des Missbrauchs der Technik oder des fahrlässigen Umgangs mit ihr, um derartige Fälle zu begrenzen.
Der entscheidende Punkt ist hierbei die Erwartungssicherheit, die an die Stelle der göttlichen Vorausschau tritt, d.h. die sich auf Wissen und Erfahrung stützende Gewissheit, dass sich die Mühe der Produktion und die damit verbundenen Formen des malum technologicum zuzulassen lohnt. Nur auf Wissen und Können beruhende Sicherheit erlaubt es überhaupt, die Mühen, Entbehrungen, Gefahren des malum technologicum abzuschätzen und gegen die erwarteten Verbesserungen zur Vermeidung der Gefährdungen im Vergleich zum Status quo abzuwägen.

Das Scheitern der Technodizee?

In seiner Theodizee hat Leibniz die Sünde, das malum morale, als Preis für die Möglichkeit freien Handelns dargestellt. Wenn wir unsere Freiheit missbrauchen, so zerstören wir in der Vorstellung der Leibnizschen Theodizee keineswegs die Möglichkeit der Freiheit. Hinsichtlich der Technik befinden wir uns jedoch in einer gänzlich veränderten Lage, auch wenn immer gilt, dass Freiheit stets mit der Möglichkeit zum unmoralischen und unverantwortlichen Handeln Hand in Hand geht: Technik ist die Bedingung der Möglichkeit unseres Überlebens in der Welt. Diese Möglichkeit kann verfehlt werden, das Küchenmesser kann zum Morden, die Kriegstechnik, die uns schützen soll, zum Töten genutzt werden. Die Technik kann, wie wir uns auszudrücken pflegen, ‚versagen’, die Dampfmaschine kann explodieren, das Flugzeug abstürzen. In all diesen Fällen – beim willentlichen Töten wie beim tödlichen Unfall – wird für den Betroffenen, für das einzelne Individuum, das Mittel, das dem besseren Leben, zumindest aber dem Überleben dienen soll, zum Verhängnis. Mit solchem malum technologicum hat die Menschheit immer zu leben verstanden, wird doch seine Zulassung als Garant für eine positive Gesamtbilanz gesehen. Unvergleichlich gravierender liegen jedoch die Dinge, wenn wir in freien Handlungen (und möglicherweise unwissend) Technikfolgen herbeiführen, die die Bedingungen des Überlebens überhaupt zerstören. In solchen Handlungen vernichten wir mit der menschlichen Gattung zugleich alle Freiheit.

Auch die Probleme, die Leibniz durch den Rekurs auf eine Gesamtharmonie zu lösen sucht, kehren wieder. Wird nämlich die erstrebte Harmonie dieser Welt wie im Leibnizschen Prinzip des Besten definiert, stehen wir unmittelbar vor der Frage, wie viel Menschenleben uns etwa die Erhaltung der Tiger in der freien Natur wert ist. Diese Frage stellt sich überall dort wieder, wo als Antwort auf das malum technologicum die unversehrte Bewahrung der Natur in ihrem Artenreichtum verlangt wird – so bei Albert Schweitzer, so bei Hans Jonas: Die Verantwortung, die Menschen tragen, wird hier immer noch bezogen auf die eine zu bewahrende Welt, die einen Wert in sich trägt. Dass ihr dieser Wert bei Leibniz zugesprochen wird, liegt an ihrer Gottgeschaffenheit, und natürlich ist es Gott, der sie in seinem Weltplan in Harmonie bewahrt. Das säkularisierte Pendant, das den Menschen zur Bewahrung verpflichten will, muss hingegen für eine wie immer geartete Begründung zusätzliche Voraussetzungen einführen. Diese Lage verschärft sich, wenn wir an jenen Hinweis des Inders denken, dass mehr Kinder durch Autos als durch Tiger getötet werden. Die Theodizeeargumentation macht uns also auf eine ernste Lücke in der Technodizee aufmerksam.

Dort, wo nicht mehr eine Gottgeschaffenheit der Welt als Begründung herangezogen wird, sondern allein der Mensch als Referenzpunkt zugelassen bleibt, steht die Möglichkeit offen, der Harmonie der Natur als solcher einen Wert zuzusprechen. Doch die Schwierigkeit, der wir uns zu stellen haben, liegt nicht an der Oberfläche, denn zu bestimmen wäre – wie bei Leibniz –, worin Harmonie, allgemein gesprochen, bestehen soll. Diese Frage erschöpft sich nicht im Problem einer befriedigenden Definition von Harmonie, sie dringt tiefer und betrifft mit Bezug auf die weltumgestaltende Technik vielfach solche Folgen und Nebenfolgen technologischer Handlungen, die nach bestem Wissen nicht vorhersehbar sind. Ein drastisches Beispiel für solche unausweichliche und schicksalhafte Tragik liefert die Energieproblematik. Die Weiterverwendung fossiler Brennstoffe könnte die Erde für den Menschen unbewohnbar machen; doch eine sofortige Reduzierung des Energieverbrauches auf das Maß regenerativer Energien würde Millionen von Menschen verhungern lassen. Wie immer wir uns entscheiden, es wird sich nur um das Maß des kleineren Übels handeln, selbst wenn sich andere Energiequellen finden und erschließen lassen.

Betrachten wir wiederum die parallele Problematik in der Theodizee, so zeigen sich hier zwei nie zu lösende Probleme. Das erste tut sich auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Gottes Wahl des Besten holistischer Natur ist und eine Gesamtbilanz voraussetzt, die sich gar auf alle logisch möglichen Welten bezieht. Niemals aber ist diese Bilanzierung aus menschlicher Warte möglich. Die zweite Problematik erwächst aus der Begrenzung unseres Wissens. Nun sahen wir, dass eine auf Unwissenheit beruhende Handlung in der Theodizee nicht schlechthin als malum morale, als Sünde bezeichnet werden kann. Leibnizens Ausweg bestand im Verweis auf den göttlichen Heilsplan und die göttliche Gnade. Dafür ist jedoch in der Technodizee kein Raum; denn hier tritt uns ein malum vor Augen, wie es menschliches Denken und Reflektieren nie zu gewärtigen hatte: die Gefahr der Selbstzerstörung der ganzen Menschheit. So lässt uns die parallele Struktur von Theodizee und Technodizee auf eine letzte, in der Technodizee ungelöste Schwierigkeit aufmerksam werden. Diese rückt ins Bewusstsein, wenn wir das Wissen über Folgen besitzen oder erlangt haben, ohne doch die technogenen Handlungsbedingungen noch ändern zu können. Die Technik kennt keine ausgleichende Gnade für menschliche Verfehlungen. Wie die Theodizee am Erdbeben von Lissabon scheiterte, so droht die Technodizee als Zulassung des technologischen Übels um einer besseren Welt willen deshalb an der technogenen Zerstörung unserer Lebensbedingungen zu scheitern. Hiroshima, Bophal, Seveso und die immer häufigeren klimabedingten Naturkatastrophen erscheinen als die apokalyptischen Vorboten. Weder im Falle der Unwissenheit noch im Falle des mangelnden Wissens können wir auf einen Leibnizschen Weltplan hoffen, der in Gnade und Vergebung einen letzten Ausgleich verheißt. Die menschliche Freiheit, Wurzel der kreativen und lebenssichernden Technik, so könnte das Resultat sein, hat sich in der Evolution nicht bewährt.

Freiheit, schreibt Leibniz, hat Vernünftigkeit zur Voraussetzung: „Einsicht ist gewissermaßen die Seele der Freiheit.“ (Theod. III § 288) Noch haben wir die Chance, sie zu nutzen, denn „die freie Substanz trifft ihre Entscheidung von sich aus und folgt hierbei dem Motiv des Guten, das der Verstand erkennt“ (ebenda). Vorbedingung hierfür allerdings ist, das Prinzip des Besten so zu reformulieren, dass es sich nicht nur auf unsere temporären Ziele richtet, sondern mit Leibniz als ein universelles Harmonieprinzip gefasst wird, wissend um seine jeweils historisch-kontingente Begrenztheit und seine Bedingtheit in den verwendeten Kriterien. Seine Funktionsweise wäre dabei die einer regulativen Idee. Dann jedenfalls hätten wir, hätte die Menschheit noch eine Chance – gewiss jedoch nicht ohne Technik, sondern nur mit ihr, wohl aber mit einer im Sinne einer solchen Idee verbesserten, verfeinerten, intelligenteren Technik. Ohne sie können wir nicht leben – mit ihr müssen wir künftigen Generationen eine Welt hinterlassen, in der sie ein lebenswertes Leben führen können. Das malum technologicum aber wird bestehen bleiben, weil menschliches Leben ohne Technik nicht möglich wäre. Doch unsere Pflicht ist es, unsere Vernunft, unseren kreativen Ideenreichtum und unser Wissen um Werte zu nutzen, um im Geiste von Leibniz und im Sinne des Prinzips des Besten in jedem Schritt für die Bewahrung einer lebenswerten Welt auch für künftige Generationen zu sorgen.

Von der Redaktion stark gekürzter Text. Der Originaltext erscheint als eigene Publikation:
Hans Poser: Von der Theodizee zur Technodizee. Ein altes Problem in neuer Gestalt. 40 S., kt., € 5.—, 2011, Hefte der Leibniz- Stiftungsprofessur Heft 2, Wehrhahn-Verlag, Hannover.