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Heidegger, Martin: Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens

HEIDEGGER, Martin: Vorlesungen zur Phänomenologie des religiösen Lebens

Am 19. Januar 1919 schrieb Heidegger an seinen Freund, den Dogmatik-Professor Engelhart Krebs, "erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens, haben mir das System des Katholizismus problematisch und unannehmbar gemacht - nicht aber das Christentum und die Metaphysik, diese allerdings in einem neuen Sinne. Ich glaube zu stark .... empfunden zu haben, was das katholische Mittelalter an Werten in sich trägt... Meine religionsphänomenologischen Untersuchungen, die das Mittelalter stark heranziehen werden, sollen Zeugnis davon ablegen..."

Heidegger hielt diese Vorlesung "Einleitung in die Phänomenologie der Religion" im WS 1920/21. Ein großer Teil davon behandelt jedoch nicht die Religion, denn Heidegger entwickelt hier seine Konzeption der Phänomenologie, in Abhebung von der Philosophie der Wissenschaft; es ist die Methode, die zu Sein und Zeit führen wird. Das Vorlesungsmanuskript ist verschollen, dafür liegen insgesamt fünf Nachschriften vor. Matthias Jung und Thomas Regehly haben daraus den Wortlaut annäherungsweise rekonstruiert:

Heidegger, Martin: Phänomenologie des religiösen Lebens. 351 S., Ln., DM 88.—, kt. DM 78.—, Heidegger Gesamtausgabe, Band 60, Klostermann, Frankfurt

Eine weitere hier edierte Vorlesung behandelt "Augustinus und den Neuplatonismus", eine Freiburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1921, herausgegeben von Claudius Strube, von einer weiteren, nicht gehaltenen Vorlesung "Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik" hat Claudius Strube hier die Ausarbeitungen und Entwürfe ediert.

Einleitung in die Phänomenologie der Religion

In den Einzelwissenschaften sind die Begriffe durch die Einordnung in einen Sachzusammenhang bestimmt. Philosophische Begriffe sind dagegen schwankend, vag, mannigfaltig, fließend, wie sich das auch in einem Wechsel philosophischer Standpunkt zeigt. Es gehört zum Sinn der philosophischen Begriffe selbst, dass sie immer unsicher bleiben. Die Philosophie hat keinen objektiv ausgeformten Sachzusammenhang zur Verfügung, in den die Begriffe eingeordnet werden können, um so ihre Bestimmung zu erhalten. Das Verstehen philosophischer Begriffe ist daher ein anderes als das wissenschaftlicher. Die Auffassung des Entspringens der Wissenschaften aus der Philosophie ist ein Vorurteil, dass die heutige Auffassung der Philosophie in die Geschichte zurückprojiziert hat. Es ist dies eine bestimmte ausformende Modifikation eines in der Philosophie angelegten Moments, das aber in der Philosophie noch unmodifiziert liegt.
Der Vorwurf, sich ständig in Vorfragen zu drehen, ist der Philosophie nur dann zu machen, wenn man den Maßstab zu ihrer Beurteilung aus der Idee der Wissenschaften entnimmt und von ihr die Lösung konkreter Probleme und den Aufbau einer Weltanschauung fordert. Heidegger will nun diese Not im Vorfragen so sehr steigern, dass sie zur Tugend wird. Den Philosophen beschäftigt ernstlich das Wesen der Philosophie, ehe er sich an die positive Arbeit macht. Es ist für die Philosophie nur dann ein Mangel, dass sie sich immer wieder über ihr Wesen klar werden muss, wenn die Idee der Wissenschaft als Norm angeführt wird.

Die Philosophie entspringt der faktischen Lebenserfahrung. Der Begriff der faktischen Lebenserfahrung ist fundamental. Mit der Bezeichnung der Philosophie als erkennendes, rationales Verfahren ist gar nichts gesagt, man verfällt so dem Ideal der Wissenschaft. Das Wesentliche der faktischen Lebenserfahrung liegt darin, dass das erfahrende Selbst und das Erfahrene nicht wie Dinge auseinandergerissen werden. "Erfahren" heißt nicht "zur Kenntnis nehmen", sondern das Sich-Aus-einander-Setzen mit, das Sich-Behaupten der Gestalten des Erfahrenen: Lebenserfahrung bedeutet die ganz aktive und passive Stellung des Menschen zur Welt. Deshalb insistiert Heidegger darauf, dass Wissenschaft prinzipiell verschieden von Philosophie ist. Wissenschaftliche Philosophie verharrt in "erkenntnistheoretischen" Vorüberlegungen, in der faktischen Lebenserfahrung hingegen wird der Weg zur Philosophie möglich.

Man kann die Welt formal artikulieren als "Umwelt", als das, was uns begegnet, wozu auch ideale Gegenstände wie z.B. Kunst gehören. In dieser Umwelt steht auch die "Mitwelt", d.h. die anderen Menschen in einer ganz bestimmten faktischen Charakterisierung. Ein Verunstalten, ein Abgleiten in eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie wäre es nun, diese Phänomene voneinander abzugrenzen und einzuordnen. Alles was in der faktischen Lebenserfahrung erlebt wird, trägt den Charakter des Bedeutsamen. In der Weise der Bedeutsamkeit erfahre ich alle meine faktischen Lebenssituationen. Auch die wissenschaftlichen Objekte sind stets zunächst im Charakter der faktischen Lebenserfahrung erkannt. Im Unterschied zur Wissenschaft darf die faktische Lebenserfahrung aber nicht Ausgangspunkt sein, sondern das, was das Philosophieren selbst wesentlich behindert. Denn die Lebenserfahrung hat die Tendenz, ständig in die Bedeutungszusammenhänge der faktisch erfahrenen Welt hinein zu tendieren, sie hat eine Tendenz zur Objektivierung, zur Objektsregulierung des faktisch gelebten Lebens.

Die philosophische Problematik motiviert sich prinzipiell aus dem Historischen. Die Wichtigkeit des Historischen für die Philosophie liegt vor allen Geltungsfragen.
Allerdings: Sofern man in der Erkenntnisbetrachtung der Objektivitätszusammenhänge steht, ist jede Verwendung des Sinns von "historisch" immer durch den Vorgriff auf das Objekt bestimmt. Das Objekt ist historisch, es hat die Eigenschaft, in der Zeit zu laufen, sich zu wandeln. Diese Betrachtungsweise hat aber mit der lebendigen Geschichte, die sich in unser Dasein gleichsam eingefressen hat, keine Fühlung. Wir müssen das Historische vielmehr aus dem faktischen Leben entnehmen. Objekt und Gegenstand sind nicht dasselbe. Alle Objekte sind Gegenstände, aber nicht umgekehrt alle Gegenstände Objekte. Die Verwischung dieser Unterschiede seit Platon ist verhängnisvoll. Ein Phänomen wiederum ist weder Objekt noch Gegenstand. Das macht die Phänomenologie so unendlich schwierig. Objekte, Gegenstände und Phänomene können nicht nebeneinander gestellt werden wie auf dem Schachbrett.

In der faktischen Lebenserfahrung spielt das Historische nach zwei Hauptrichtungen eine Rolle:
- Positiv gibt die Mannigfaltigkeit der historischen Gestalten dem Leben eine Erfüllung.
- Negativ ist das Historische für uns eine Last, eine Hemmung. Es hemmt unsere Naivität des Schaffens. Das geschichtliche Bewusstsein begleitet ständig wie ein Schatten jeden Versuch zu einer neuen Schöpfung.

Wir können bei dem Versuch, sich gegen das Historische zu behaupten, drei Wege unterscheiden. Dabei ist der platonische Weg der populärste. Danach ist die historische Wirklichkeit nur zu verstehen durch Bezug auf das Reich der Ideen, seien diese nun Substanzen, Werte oder Vernunftprinzipien. Man kommt dabei zu einem Begriff der Wahrheit, der als Gültigkeit an sich von theoretischen Sätzen gefasst wird. Der heutige Platonismus ist gegenüber dem ursprünglichen modifiziert durch die Aufnahme der Philosophie Kants; im Neukantianismus wird der Platonismus "transzendental", bewusstseinsmäßig gewendet, zwischen das Zeitliche (Historische) und das Überzeitliche (Ideenreich) tritt vermittelnd das Reich des Sinns.- Der zweite Weg ist der des radikalen Sich-Auslieferns. Die Geschichte treibende und Geschichte erkennende Gegenwart wird mit hineingestellt in den objektiven Prozess des historischen Geschehens. Das leistende Leben und Dasein verlangt eine Sicherung und ihm entspringt die Bekümmerung. Für die dies leistende geschichtliche Wirklichkeit haben Spengler und andere den Namen "Kultur". Der dritte Weg versucht einen Kompromiss zwischen den beiden Positionen, er wird als Lebensphilosophie bezeichnet. Geschichte wird verstanden als eine ständige Verwirklichung von Werten, die allerdings nie voll verwirklicht werden.

So tendiert das Leben dahin, sich entweder gegen die Geschichte (erster Weg), oder mit der Geschichte (zweiter Weg) oder aus der Geschichte (Kompromiss) zu sichern. Das, was beunruhigt, ist die Lebenswirklichkeit, das menschliche Dasein in seiner Bekümmerung um seine eigene Sicherung. Allerdings wird es in diesen drei Wegen nicht in sich selbst genommen, sondern als Objekt betrachtet und als Objekt in die historische objektive Wirklichkeit gestellt. Es wird auf die Bekümmerung nicht geantwortet, sondern sie wird sogleich objektiviert. Heidegger will demgegenüber das bekümmerte Dasein aus der Lebenserfahrung heraus verstehen. Wie steht das faktische Leben aus sich zur Geschichte? Dabei bleiben Theorien beiseite, der Sinn der Geschichte wird aus dem faktischen Leben heraus zu bestimmen versucht. Es geht aber auch nicht um die Frage, ob es nicht unmöglich ist, den Sinn der Geschichte mit den heute bestehenden philosophischen Mitteln zu fassen. Vielmehr soll durch die Explikation des faktischen Daseins das gesamte traditionale Kategoriensystem gesprengt werden: so radikal neu werden die Kategorien des faktischen Daseins sein. Das faktische Dasein, als ein objektiv verlaufendes Geschehen, kann nicht einfach ein blindes sein, sondern es muss einen Sinn in sich tragen und fordert damit eine bestimmte Gesetzlichkeit.

Heidegger führt hier den Begriff der formalen Anzeige ein. Dieser gehört in die "Theorie" der phänomenologischen Methode selber, zum Phänomen des Unterscheidens. Die Formalisierung leitet die Betrachtung, bringt aber keine vorgefassten Meinung in die Probleme hinein und ist nicht an das bestimmte Was des zu bestimmenden Gegenstands gebunden. Sie biegt ab von der Sachhaltigkeit des Gegenstandes, sie betrachtet den Gegenstand nach der Seite hin, dass er gegeben ist, er wird bestimmt als das, worauf der erkenntnismäßige Bezug geht. Dabei kann gefragt werden nach dem ursprünglichen "Was", das im Phänomen erfahren wird (Gehalt), nach dem ursprünglichen "Wie", in dem es erfahren wird (Bezug) und nach dem ursprünglichen "Wie", in dem der Bezugssinn vollzogen wird (Vollzug). Diese drei Sinnesrichtungen stehen aber nicht einfach nebeneinander: "Phänomen" ist eine Sinnganzheit nach diesen drei Richtungen und "Phänomenologie" ist Explifikation dieser Sinnganzheit. In der Philosophiegeschichte hat die formale Bestimmung des Gegenständlichen die Philosophie völlig beherrscht. Die formale Anzeige will nun Abhilfe bringen. Sie gehört als methodisches Moment der phänomenologischen Explikation selbst zu. Die formale Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen, in einem negativen Sinn, gleichsam als Warnung. Der Bezug und Vollzug des Phänomens wird nicht im voraus bestimmt, er wird in der Schwebe gehalten. Das ist eine Stellungnahme, die der Wissenschaft auf das Äußerste entgegengesetzt ist. Es gibt keine Einfügung in ein Sachgebiet, man lässt gerade alles dahingestellt. Die formale Anzeige bedeutet die das Ansetzen der phänomenologischen Explikation. Auf das Historische angewendet, muss das Zeitproblem so aufgefasst werden, wie wir in der faktischen Erfahrung Zeitlichkeit ursprünglich erfahren - abgesehen von allem reinen Bewusstsein und aller reinen Zeit. Damit schließt der erste Teil und Heidegger geht zu einer phänomenologischen Interpretation des Galaterbriefes über.

Der zweite Teil hat eine "phänomenologische Explikation konkreter religiöser Phänomene im Anschluss an paulinische Briefe" zum Thema. Das Eigentümliche des religionsphänomenologischen Verstehens ist es, so beginnt Heidegger, das Vorverständnis für einen ursprünglichen Weg des Zugangs zu finden. Dahinein muss die religionsgeschichtliche Methode hineingearbeitet werden und zwar so, dass man sie selbst kritisch prüft, sie einer Destruktion unterzieht. Die formale Anzeige verzichtet auf das letzte Verständnis, das nur im genuinen religiösen Erleben gegeben werden kann. Anhand des Galaterbriefes versucht Heidegger dies zu exemplifizieren. Er will dabei erst ein allgemeines Verständnis dieses Briefes suchen und dann in die Grundphänomene des urchristlichen Lebens eindringen.

Augustinus und der Neuplatonismus. Frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1921

Die mittelalterliche Theologie ruht auf Augustinus. Nur in scharfer Auseinandersetzung mit augustinischen Gedankenrichtungen hat sich die Rezeption des Aristoteles durchgesetzt. Und innerhalb des Protestantismus ist Augustinus der am meisten geschätzte Kirchenvater geblieben. Ein Doppeltes bewegte Augustinus: philosophisch ein christlich gefärbter Platonismus gegen Aristoteles, theologisch eine bestimmte Auffassung der Sünden- und Gnadenlehre.
Heidegger untersucht drei gängige Augustinus-Auffassungen, diejenigen von Troeltsch, Harnack und Dilthey bzw. die kulturgeschichtliche, die dogmen- und die wissenschaftsgeschichtliche. Die Frage, welche davon die objektiv richtige sei, ist falsch gestellt und zeigt eine Verkennung des Sinnes historischer Objektivität. Die Unterscheidung von "wahr" und "falsch" im üblichen Sinne darf nicht einfach auf die Geschichte übertragen werden. Genauso verkehrt wäre aber ein daraus resultierender Skeptizismus. Heidegger interpretiert nun eingehend das Buch X der Confessiones.

Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik (Ausarbeitungen und Entwürfe zu einer nicht gehaltenen Vorlesung 1918/19)

Eine phänomenologische Erforschung des religiösen Bewusstseins verzichtet auf eine konstruktive Religionsphilosophie, geht nicht im Historischen als solchem auf und führt die "echt geklärten und als echt ursprünglich erschauten Phänomene in das reine Bewusstsein und seine Konstitution" zurück. Das Problem liegt im Gewinnen und Verstehen solcher Phänomene aus dem Historischen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass nur ein Mensch, der religiös ist, religiöses Leben verstehen kann, denn in andern Fall hätte er ja keine echte Gegebenheit. Andererseits werden durch das Urverstehen die Erlebnisse in die Sphäre der absoluten Verstehbarkeit gebracht: Sie sind verstanden, "und zwar echt verstanden", denn das phänomenologische Urverstehen ist so "ursprünglich absolut", dass es die Eingangsmöglichkeiten in die verschiedenen Erlebniswelten und Formen in sich trägt. Die Fragen, die wir "echt und rein methodisch" an das religiöse Leben stellen sind: Welche Grundschichten, Formen, Bewegtheiten ergeben sich da? Wie konstituiert sich dieses Leben?