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ESSAY

Rorty, Richard: Relativismus – Entdecken und Erfinden

aus: Heft 1/1997, S. 5-23

Richard Rorty: Relativismus – Entdecken und Erfinden

Relativismus als Antiplatonismus


Als "Relativisten" bezeichnet man die Philosophen, die mit Nietzsche darin übereinstimmen, daß Wahrheit der Wille ist, der Empfindungen Herr zu sein. So nennt man auch die, die William James darin zustimmen, daß "das 'Wahre' lediglich das Werkzeug des Glaubens" ist, und mit Thomas Kuhn, daß man Wissenschaft nicht so auffassen soll, als ob sie sich einer genauen Vorstellung davon nähere, was die Welt an sich ist. Oder allgemein: Philosophen werden "Relativisten" genannt, wenn sie nicht die aufs Denken der Griechen zurückgehende Unterscheidung akzeptieren zwischen den Dingen als solchen und ihren Relationen zu anderen Dingen, insbesondere zu menschlichen Bedürfnissen und Interessen.

Philosophen, die wie ich diese Unterscheidung nicht akzeptieren, müssen das traditionelle philosophische Projekt aufgeben, nämlich die Suche nach etwas Stabilem, das als Beurteilungskriterium für die vergänglichen Erzeugnisse unserer vergänglichen Bedürfnisse und Interessen dienen könnte. Das bedeutet zum Beispiel, daß wir die Kantische Unterscheidung zwischen Sittlichkeit und Klugheit nicht anwenden können. Wir müssen uns von der Vorstellung trennen, es gebe unbedingte, transkulturelle moralische Pflichten, die in einer unveränderlichen, ahistorischen menschlichen Natur wurzeln. Dieser Versuch, sowohl Platon als auch Kant ad acta zu legen, verbindet die europäische Philosophietradition nach Nietzsche mit dem Pragmatismus der amerikanischen Philosophie.

Der Philosoph, den ich am meisten bewundere und als dessen Anhänger ich mich am ehesten sehe, ist John Dewey. Dewey war einer der Gründer des amerikanischen Pragmatismus. Er verbrachte sechzig Jahre mit dem Versuch, den Bann Platons und Kants zu brechen. Dewey wurde oft als Relativist kritisiert, ich auch. Aber natürlich nennen wir Pragmatisten uns selbst niemals Relativisten. Normalerweise definieren wir uns negativ: wir nennen uns "Anti-Platoniker" oder "Anti-Metaphysiker" oder Gegner der Letztbegründung. Genauso aber nennen unsere Gegner sich niemals "Platoniker" oder "Metaphysiker" oder Vertreter der Letztbegründung. Sie bezeichnen sich normalerweise als Vertreter des Common sense oder der Vernunft.

Wie nicht anders zu erwarten, versucht jede Partei in diesem Streit die Terminologie so zu handhaben, daß es ihrem Standpunkt nützlich ist. Als Vertreter des Platonismus möchte man sich ebensowenig einstufen lassen wie als Relativisten oder Irrationalisten. Wir sogenannten "Relativisten" lehnen es natürlich ab zuzugeben, wir seien Feinde von Vernunft und gesundem Menschenverstand. Wir sagen, wir kritisieren nur ein paar veraltete spezifisch philosophische Dogmen. Aber was wir Dogmen nennen, ist natürlich genau das, was unsere Gegner für "gesunden Menschenverstand" halten. Diese Dogmen zu vertreten ist nach ihrem Dafürhalten "Rationalität". Entsprechend kommt die Diskussion zwischen uns und unseren Gegnern ins Stocken bei Fragen wie der, ob die Korrespondenztheorie der Wahrheit gesunden Menschenverstand ausdrückt oder nichts weiter ist als eine überholte platonistische Façon de parler. Mit anderen Worten: eines der Dinge, über die wir uns nicht einigen können, ist die Frage, ob damit eine offensichtliche Wahrheit verkörpert wird, welche die Philosophie respektieren und schützen muß; oder ob sie lediglich eine philosophische Ansicht unter vielen verkündet. Unsere Gegner sagen, die Korrespondenztheorie der Wahrheit sei so evident, daß es einfach abwegig sei, sie in Frage zu stellen. Wir dagegen behaupten, daß diese Theorie kaum einsichtig und nicht von großer Bedeutung ist – daß es sich bei ihr nicht so sehr um eine Theorie als vielmehr um ein Schlagwort handelt, das wir jahrhundertelang gedankenlos heruntergebetet haben. Wir Pragmatisten glauben, daß wir nun damit aufhören können, ohne daß es schädliche Folgen hätte.

Man kann sagen, daß wir sogenannten "Re-lativisten" behaupten, viele der Dinge, von denen der gesunde Menschenverstand glaubt, sie würden entdeckt, würden in Wirklichkeit erfunden. Wissenschaftliche und moralische Wahrheiten z. B. werden von unseren Gegnern als "objektiv" beschrieben, was heißen soll, sie seien irgendwie unabhängig von uns gegeben und harrten der Erkenntnis durch uns Menschen. Wenn unsere platonistischen oder kantianischen Gegner keine Lust mehr haben, uns "Relativisten" zu nennen, sagen sie uns nach, wir seien "Subjektivisten" oder "Sozialkonstruktivisten", nach deren Auffassung alles gesellschaftlich bedingt ist. Sie glauben, wir sagen, daß das, was man früher für objektiv hielt, sich als nur subjektiv herausgestellt habe.

Aber wir Anti-Platoniker dürfen diese Formulierung des Streitpunktes nicht akzeptieren. Wenn wir das nämlich tun, sind wir in ernsten Schwierigkeiten. Wenn wir die Unterscheidung zwischen Machen und Entdecken für bare Münze nehmen, werden uns unsere Gegner eine unangenehme Frage stellen können, nämlich diese: Haben wir die überraschende Tatsache, daß das, was wir für objektiv hielten, eigentlich subjektiv ist, entdeckt, oder haben wir sie erfunden? Wenn wir behaupten, wir hätten sie entdeckt, wenn wir also sagen, es sei eine objektive Tatsache, daß Wahrheit subjektiv ist, sind wir in Gefahr, uns selbst zu widersprechen. Nennen wir sie hingegen eine Erfindung, handelt es sich offenbar um eine bloß persönliche Schrulle. Warum sollte irgend jemand unsere Erfindung ernst nehmen? Wenn wahre Aussagen lediglich nützliche Fiktionen sind, was ist dann mit der Wahrheit eben dieser Behauptung, daß sie Fiktionen sind? Ist das auch eine nützliche Fiktion? Nützlich wofür? Für wen?

Ich halte es für wichtig, daß wir, die des Relativismus Beschuldigten, diese Unterscheidungen zwischen Finden und Machen, Entdeckung und Erfindung, Objektivem und Subjektivem preisgeben. Wir sollten uns nicht als Subjektivisten oder Sozialkonstruktivisten kennzeichnen lassen. Wir müssen das Vokabular unserer Gegner zurückweisen. Das heißt wiederum, daß wir Platonismus und Metaphysik vermeiden müssen, in jenem weitgefaßten Sinn von Metaphysik, den Heidegger meinte, als er sagte, Metaphysik ist Platonismus. Whitehead meinte dasselbe, als er sagte, die gesamte westliche Philosophie sei eine Reihe von Fußnoten zu Platon. Der springende Punkt war für Whitehead der, daß wir eine Untersuchung nur dann "philosophisch" nennen, wenn sie sich um Platonische Unterscheidungen dreht.

Die Unterscheidung zwischen Entdecken und Machen ist eine Variante der Unterscheidung zwischen Absolutem und Relativem, also zwischen dem, was sein Sosein unabhängig von den Beziehungen zu anderen Dingen hat, und dem, was seine wesentliche Beschaffenheit diesen Beziehungen verdankt. Im Laufe der Jahrhunderte ist diese Unterscheidung zentral geworden für das, was Derrida "die Metaphysik der Präsenz" nennt - die Suche nach der "vollen Präsenz jenseits der Reichweite des Spiels, nach einem der Rationalität nicht mehr zugänglichen Absoluten. Wenn wir also diese Metaphysik aufgeben möchten, dürfen wir nicht mehr zwischen dem Absoluten und dem Relativen unterscheiden. Wir Anti-Platoniker dürfen uns nicht als "Relativisten" bezeichnen lassen, weil diese Bezeichnung die zentrale Frage nach der Brauchbarkeit des von Platon und Aristoteles geerbten Begriffsapparates als schon gelöst hinstellt.

Unsere Gegner unterstellen gern, daß die Preisgabe dieser Begriffe gleichbedeutend ist mit der Preisgabe der Rationalität; "Rational sein" bedeute nämlich nichts anderes als Respekt vor der Unterscheidung zwischen dem Absoluten und dem Relativen, dem Vorgefundenen und dem Geschaffenen, zwischen Objekt und Subjekt, Natur und Übereinkunft, Realität und Erscheinung. Wir Pragmatisten erwidern: wenn dies wirklich die Rationalität ausmacht, dann sind wir in der Tat Irrationalisten. Aber wir fügen hinzu, daß ein Irrationalist in diesem Sinne nicht unfähig ist zu argumentieren. Wir Irrationalisten lehnen es nur ab, auf die platonistische Art und Weise zu sprechen. Die Ansichten, von denen wir die Leute überzeugen möchten, können nicht in platonischen Begriffen ausgedrückt werden. So muß unsere Überzeugungsarbeit in der schrittweisen Einprägung der neuen Ausdrucksweisen bestehen und nicht darin, einfach im Rahmen der alten Begriffe zu argumentieren.

Um das bisher Gesagte zusammenzufassen: Wir Pragmatisten gehen mit einem Achselzucken über die Vorwürfe hinweg, wir seien "Relativisten" oder "Irrationalisten", denn nach unserer These setzen diese Vorwürfe genau diese eben zurückgewiesenen Unterscheidungen voraus. Wenn wir uns selbst eine Bezeichnung geben, sollten wir uns vielleicht am besten "Anti-Dualisten" nennen. Das bedeutet natürlich nicht, daß wir die "Gegensatzpaare" ablehnen, von denen bei Derrida die Rede ist. Wir können ohne weiteres zugeben, daß wir solche Gegensatzpaare gut gebrauchen können. Die Aufteilung der Welt in gute X und nicht-gute Non-X wird immer ein unverzichtbares Werkzeug der Erörterung sein. Aber wir lehnen eine ganz spezifische Gruppe von Unterscheidungen ab, nämlich die platonischen Unterscheidungen. Wir müssen zwar einräumen, daß diese Unterscheidungen zum Allgemeingut des abendländischen Denkens gehören, doch das ist nach unserer Anschauung kein ausreichender Grund, daran festzuhalten.

Zwei "relativistische" Traditionen

Bisher habe ich von "uns sogenannten Relativisten" und "uns Anti-Platonikern" gesprochen. Jetzt muß ich aber genauer werden und Namen nennen. Die Philosophen, an die ich denke, gehören zu einer an Nietzsche anschließenden Tradition europäischer Philosophie wie auch zu einer nachdarwinistischen Tradition amerikanischer Philosophen, nämlich der Angehörigen des pragmatistischen Traditionsstromes. Zu ersteren gehören Heidegger, Sartre, Gadamer, Derrida und Foucault, zu letzteren James, Dewey, Kuhn, Quine, Putnam und Davidson. Alle diese Philosophen wurden wegen des ihnen unterstellten Relativismus heftig angegriffen. Beide Traditionen haben versucht, die von Kant und Hegel vertretene Subjekt-Objekt-Unterscheidung ebenso in Frage zu stellen wie die von Kant und Hegel zur Formulierung ihrer eigenen Problematik benutzten Cartesianischen Unterscheidungen und die von den Griechen unternommenen Unterscheidungen, die wiederum den Rahmen des Denkens von Descartes bilden.

Das wichtigste Bindeglied zwischen den großen Namen in beiden Traditionen wie auch zwischen den beiden Traditionen selbst ist der Argwohn gegenüber denselben auf griechische Denker zurückgehenden Unterscheidungen, die es möglich, natürlich und fast unvermeidlich gemacht haben, Fragen wie "gefunden oder geschaffen?", "absolut oder relativ?", "Wirklichkeit oder Erscheinung?" zu stellen.

Bevor ich mehr über das Verbindende dieser beiden Traditionen sage, noch etwas über das Trennende. Obwohl die europäische Tradition auf dem Weg über Nietzsche und Marx Darwin eine Menge verdankt, haben europäische Philosophen immer ganz scharf zwischen empirischen Wissenschaften und der Philosophie unterschieden und oft über den "Naturalismus", den "Empirismus" und den "Reduktionismus" gespottet. Manchmal verwerfen sie die gesamte englischsprachige Philosophie, ohne sie überhaupt anzuhören, weil sie dieser Philosophie einfach unterstellen, sie sei von diesen Krankheiten infiziert.

Die amerikanische Pragmatismustradition hat demgegenüber bewußt die Unterscheidungen zwischen Philosophie, Wissenschaft und Politik aufgebrochen. Ihre Vertreter bezeichnen sich oft als "Naturalisten", be- streiten aber, Reduktionisten oder Empiristen zu sein. Ihr Einwand sowohl gegen den traditionellen britischen Empirismus als auch gegen den für den Wiener Kreis typischen szientistischen Reduktionismus lautet, daß keine der beiden Richtungen naturalistisch genug ist. Nach meiner vielleicht chauvinistischen Überzeugung waren wir Amerikaner konsequenter als die Europäer. Denn die amerikanischen Philosophen haben erkannt, daß die Vorstellung von einer unverwechselbaren, autonomen Kulturtätigkeit namens "Philosophie" zweifelhaft wird, wenn das Begriffssystem dieser Aktivität in Frage gestellt wird. Wenn die platonistischen Dualismen verschwinden, ist die Trennung zwischen der Philosophie und der übrigen Kultur in Gefahr.

Man kann den Unterschied zwischen beiden Traditionen auch anders herausstellen, indem man sagt, die Europäer haben eine neue, nach-nietzscheanische "Methode" charakteristischer Art entwickelt, derer sich die Philosophen bedienen können. So ist beim frühen Heidegger und beim frühen Sartre von "phänomenologischer Ontologie", beim späten Heidegger von einer geheimnisvollen Sache namens "Denken", bei Gadamer von "Hermeneutik", bei Foucault von der Archäologie des Wissens und von "Genealogie" die Rede. Nur Derrida scheint von dieser Versuchung frei zu sein; sein Begriff "Grammatologie" war eher eine flüchtige Laune als der ernsthafte Versuch, die Entwicklung einer neuen philosophischen Methode oder Strategie zu verkünden.

Die Amerikaner neigen weniger zu solchen Proklamationen. Es ist zwar richtig, daß Dewey viel von der Einführung einer "wissenschaftlichen Methode" in die Philosophie redet, aber er hat nie erklären können, was das für eine Methode sein sollte und was sie den Tugenden der Neugier, der geistigen Aufgeschlossenheit und der Umgänglichkeit hinzufügen sollte. James sprach manchmal von der "pragmatischen Methode", aber das bedeutete nicht viel mehr als das Beharren auf der antiplatonistischen Frage: "Ist unsere vermeintliche theoretische Meinungsverschiedenheit in praktischer Hinsicht von Belang?" Dieses Beharren ist aber nicht die Anwendung einer Methode, sondern eine skeptische Haltung in Bezug auf traditionelle philosophische Probleme und Begriffssysteme. Quine, Putnam und Davidson werden durchweg als "analytische Philosophen" bezeichnet, aber keiner der drei glaubt von sich, eine "begriffsanalytische" oder sonst eine Methode anzuwenden. Die sogenannte "post-positivistische" Version der analytischen Philosophie, welche diese drei Philosophen entwickeln halfen, ist bemerkenswert frei von blinder Methodenverehrung.

Die verschiedenen zeitgenössischen Vertreter der pragmatistischen Tradition neigen nicht sehr dazu, auf der charakteristischen Natur der Philosophie oder auf ihrem herausragenden Platz innerhalb der Kultur als ganzer zu insistieren. Keiner von ihnen glaubt, daß Philosophen völlig anders als Physiker oder Politiker denken oder denken sollten. Sie alle würden mit Thomas Kuhn darin übereinstimmen, daß Wissenschaft ebenso wie Politik darin besteht, Probleme zu lösen, und sie würden ihre Tätigkeit entsprechend als Problemlösen bezeichnen. Und ihr Kernproblem ist der Ursprung aller von der Philosophie hinterlassenen Probleme: Warum sind die Standardfragen, die Lehrbuchprobleme der Philosophie ebenso fesselnd wie unfruchtbar? Warum streiten sich die Philosophen heute wie zu Ciceros Zeiten immer noch ohne jedes Ergebnis, drehen sich in immer denselben dialektischen Kreisen, wobei sie einander niemals überzeugen und dennoch Studenten in ihren Bann ziehen können?

Diese Frage, die Frage nach dem Wesen der von den Griechen, Descartes, Kant und Hegel hinterlassenen Problemen führt uns zurück zur Unterscheidung zwischen Entdecken und Erschaffen, zwischen dem Finden und dem Erfinden. In der Philosophie wird seit jeher behauptet, solche Probleme würden gefunden, denn kein Reflektierender könne umhin, auf sie zu stoßen. Die pragmatistische Tradition besteht darauf, sie würden gemacht - sie seien eher künstlich als natürlich -, und man könne sich ihrer entledigen, indem man ein anderes Begriffssystem verwende als die philosophische Tradition. Aber solche Unterscheidungen zwischen Gefundenem und Erfundenem, Natürlichem und Künstlichem sind, wie schon gesagt, Etiketten, mit denen Pragmatisten sich nicht wohlfühlen können. Sie sollten einfach sagen, daß die Begriffe, in denen die traditionellen Fragestellungen der abendländischen Philosophie formuliert sind, früher nützlich waren, heute aber nicht mehr. Durch diese Formulierung kann man den Anschein vermeiden, behaupten zu wollen, die Tradition habe sich mit etwas Unwirklichem beschäftigt, während wir Pragmatisten den wirklichen Dingen zu Leibe rückten. Doch das dürfen wir Pragmatisten natürlich nicht sagen, können wir doch die Unterscheidung zwischen Realität und Erscheinung ebensowenig gebrauchen wie die zwischen Gefundenem und Erfundenem. Wir hoffen vielmehr, sie durch die Unterscheidung zwischen dem Nützlichen und dem weniger Nützlichen ersetzen zu können. Also sagen wir, daß die Begriffe der griechischen Metaphysik und der christlichen Theologie - die Begriffe der von Heidegger so genannten "ontotheologischen Tradition" - für die Zwecke unserer Vorfahren wichtig waren, während wir andere Ziele und Zwecke verfolgen, denen der Gebrauch eines anderen Begriffssystems besser dient. Wir haben andere Probleme zu lösen als diejenigen, welche unseren Vorfahren Kopfzerbrechen bereitet haben.

Philosophie aus einem pragmatistischen Standpunkt

Ich will nun darauf eingehen, wie das philosophische Fragen vom pragmatistischen Standpunkt aus aussieht - wenn man es also nicht mehr als den Versuch beschreibt, der inneren Natur der Realität zu entsprechen, sondern es als einen Versuch auffaßt, Übergangszwecken zu dienen und Übergangsprobleme zu lösen.

Die Pragmatisten hoffen, mit der Vorstellung aufräumen zu können, die uns, in Wittgensteins Worten, "gefangen hält", mit der von Descartes und Locke stammenden Vorstellung von einem Bewußtsein, das mit einer Realität außerhalb seiner selbst in Berührung zu kommen versucht. Also beginnen sie mit einer darwinistischen Schilderung des Menschen als eines Tieres, das sein bestes tut, um mit seiner Umwelt fertigzuwerden; sich anstrengt, Werkzeuge zu entwickeln, welche es ihm ermöglichen, mehr Lust und weniger Schmerz zu empfinden. Zu den von diesen Tieren entwickelten Werkzeugen gehören auch Worte.

Es gibt keinen Weg, wie Werkzeuge uns aus dem Kontakt mit der Realität lösen könnten. Ganz gleich, ob es sich um einen Hammer oder um ein Gewehr, eine Überzeugung oder eine Feststellung handelt, der Gebrauch von Werkzeugen gehört zur Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung. Wer den Gebrauch der Worte nicht als versuchte Wiedergabe des inneren Wesens der Umwelt, sondern als Benutzung von Werkzeugen zum Überleben in dieser Umwelt begreift, verwirft damit die vom Erkenntnisskeptiker gestellte Frage, ob das menschliche Bewußtsein mit der Realität in Verbindung steht. Kein Organismus - sei es der Mensch oder sonst ein Wesen - steht je in engerer Beziehung zur Realität als ein anderer Organismus. Gerade diese Idee, "keine Berührung mit der Realität zu haben", baut auf die nicht-darwinistische, cartesianische Vorstellung eines Bewußtseins, das sich irgendwie freischwebend bewegt und nicht den Kausalkräften unterliegt, die auf den Körper wirken, dessen Beziehungen zum übrigen Universum vielmehr durch Repräsentationen vermittelt statt kausal sind. Um unser Denken von den letzten Spuren des Cartesianismus zu befreien, um in unserem Denken ganz darwinistisch zu werden, dürfen wir Wörter nicht mehr als Repräsentationen betrachten, sondern als Knoten in dem kausalen Netz, das den Organismus und seine Umwelt miteinander verbindet.

Wenn man Sprache und Forschung aus diesem biologistischen Blickwinkel betrachtet, wie er in den letzten Jahren unter anderem durch die Arbeit von Humberto Maturana bekannt geworden ist, ist man in der Lage, die Vorstellung des menschlichen Geistes als eines inneren Raumes, in dem sich die menschliche Person befindet, aufzugeben. Wie der amerikanische Philosoph Daniel Dennett gezeigt hat, ist es nur diese Vorstellung von einem cartesianischen Theater, die uns glauben macht, es gebe ein großes philosophisches oder wissenschaftliches Problem bezüglich des Wesens oder des Ursprungs unseres Bewußtseins. Wir können ersatzweise das Bild eines erwachsenen menschlichen Organismus gebrauchen, dessen Verhalten so komplex ist, daß man es nur voraussagen kann, wenn man dem Organismus intentionale Zustände zuschreibt. Nach dieser Erklärung sind Überzeugungen und Wünsche weder vorsprachliche Bewußtseinsweisen, deren sprachliche Formulierung - je nachdem - möglich oder ausgeschlossen ist, noch Bezeichnungen für immaterielle Ereignisse. Vielmehr sind sie das, was in der philosophischen Fachsprache "sentential attitudes" heißt - also Dispositionen des Organismus oder des Computers, Sätze zu behaupten oder zu leugnen. Wenn wir Pragmatisten Überzeugungen und Wünsche auch denen zuschreiben, die keine Sprache gebrauchen (wie Hunden, Kleinkindern oder Thermostaten), meinen wir das metaphorisch.

Die Pragmatisten ergänzen diese biologistische Betrachtungsweise mit Charles Sanders Peirces Definition einer Überzeugung als Handlungsgewohnheit. Wenn ich aufgrund dieser Definition jemandem eine Überzeugung zuschreibe, sage ich einfach, daß er oder sie sich normalerweise so verhalten wird wie ich, wenn ich bereit bin, die Wahrheit eines bestimmten Satzes zu bekräftigen. Wir schreiben Überzeugungen solchen Wesen zu, die Sätze gebrauchen oder von denen man sich vorstellen kann, daß sie Sätze gebrauchen, aber wir tun das nicht bei Felsen oder Pflanzen. Nicht etwa, weil die ersteren ein spezielles Organ oder eine bestimmte Fähigkeit - Bewußtsein - hätten, die den anderen abgeht, sondern einfach deshalb, weil die Handlungsgewohnheiten von Felsen oder Pflanzen hinreichend bekannt und einfach sind, sodaß ihr Verhalten voraussagbar ist, ohne daß man ihnen "sentential attitudes" zuschreibt.

Wenn wir Sätze äußern wie "ich bin hungrig", dann äußern wir nach dieser Auffassung nicht etwas, was vorher "innen" war, sondern wir helfen lediglich unserer Umgebung, unsere zukünftigen Handlungen vorherzusehen. Solche Sätze berichten auch nicht von Ereignissen, die sich im versiegelten Inneren des Bewußtseins einer Person abspielen. Es sind lediglich Werkzeuge, mit denen unser Verhalten mit dem Verhalten anderer koordiniert wird. Das soll nicht heißen, daß man mentale Zustände wie Überzeugungen und Wünsche auf physiologische oder Verhaltenszustände zurückführen kann. Es heißt nur, daß es sinnlos ist zu fragen, ob eine Überzeugung die - sei es geistige oder physische - Realität genau wiedergibt. Die Frage sollte vielmehr lauten: "Welchem Zweck dient diese Überzeugung?" und ist der Frage ähnlich: "Zu welchem Zweck ist es sinnvoll, dieses Programm in meinen Computer zu laden?". Meiner Auffassung nach gleicht der Körper einer Person analog der Hardware eines Computers, und ihre Überzeugungen und Wünsche gleichen der Software eines Computers. Niemand weiß oder interessiert sich dafür, ob irgendein beliebiges Teil der Software die Realität genau wiedergibt. Vielmehr geht es darum, ob diese Software eine bestimmte Aufgabe besonders effizient bewältigt. Dementsprechend meinen die Pragmatisten, die Frage, die wir hinsichtlich unserer Überzeugungen stellen müssen, lautet nicht, ob sie sich auf die Realität oder nur auf Erscheinung beziehen, sondern lediglich, ob sie die geeignetsten Handlungsgewohnheiten sind, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen.

Wenn wir sagen, daß eine Überzeugung, soweit wir wissen, wahr ist, sagen wir nach dieser Auffassung, daß, soweit wir wissen, keine alternative Überzeugung eine bessere Handlungsgewohnheit darstellt. Wenn wir sagen, unsere Vorfahren haben - fälschlicherweise - geglaubt, daß die Sonne sich um die Erde dreht, und daß wir zu Recht glauben, daß sich die Erde um die Sonne dreht, so sagen wir, daß wir ein besseres Werkzeug haben als unsere Vorfahren. Diese könnten erwidern, daß ihr Werkzeug es ihnen ermöglichte, an die buchstäbliche Wahrheit der christlichen Überlieferung zu glauben, während unseres das nicht tut. Unsere Erwiderung darauf wäre, daß die Vorteile der modernen Astronomie und der Raumfahrt gewichtiger sind als diejenigen des christlichen Fundamentalismus. In dieser Auseinandersetzung zwischen uns und unseren mittelalterlichen Vorfahren sollte es dabei nicht darum gehen, wer von uns das Universum richtig verstanden hat, sondern darum, welchen Sinn es hat, Überzeugungen von der Bewegung der Himmelskörper zu haben, darum, welche Ziele mit der Verwendung bestimmter Werkzeuge erreicht werden sollen. Die Wahrheit der Heiligen Schrift zu bekräftigen ist ein solches Ziel, die Raumfahrt ist ein anderes.

Wir Pragmatisten können in der Vorstellung, man solle die Wahrheit um ihrer selbst willen erstreben, keinen Sinn sehen. Wir können die Wahrheit nicht als Ziel einer Untersuchung betrachten. Zweck einer Untersuchung ist vielmehr, eine Übereinkunft zwischen Menschen sowohl darüber zu erzielen, was man tun soll wie auch über die zu erreichenden Ziele und die Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen. Eine Untersuchung oder Fragestellung, die keine Koordination des Verhaltens erzielt, ist keine Untersuchung, sondern reine Wortspielerei. Für eine bestimmte Theorie über die Mikrostruktur materieller Körper einzutreten oder auch für das richtige Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Regierungsgewalten bedeutet darüber zu reden, was wir tun sollen: wie wir die Werkzeuge, die wir zur Verfügung haben, nutzen sollen, um technologischen oder politischen Fortschritt zu erzielen. Also gibt es für Pragmatisten keinen Bruch zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften, auch nicht zwischen Politik, Philosophie und Literatur. Alle Kulturzweige gehören zum selben Bemühen, das Leben besser zu machen. Es gibt keinen tiefen Graben zwischen Theorie und Praxis, weil nach der pragmatistischen Auffassung alle sogenannte "Theorie", die keine bloße Wortspielerei ist, schon zur Praxis gehört.

Überzeugungen nicht als Vorstellungen, sondern als Handlungsgewohnheiten aufzufassen macht die Frage "Finde oder erfinde ich, mache oder entdecke ich?" sinnlos. Es hat keinen Sinn, die Interaktion des Organismus mit seiner Umgebung so aufzuspalten. Ein Beispiel: Wir sagen normalerweise, daß ein Bankkonto eher eine soziale Konstruktion als ein Objekt der natürlichen Welt ist, während eine Giraffe eher ein Objekt der natürlichen Welt als eine soziale Konstruktion ist. Bankkonten werden gemacht, Giraffen werden entdeckt. Die Wahrheit, die in dieser Ansicht steckt, ist einfach diese: gäbe es keine menschlichen Wesen, so gäbe es doch immer noch Giraffen, wogegen es Bankkonten nicht gäbe. Aber diese kausale Unabhängigkeit der Giraffe vom Menschen bedeutet nicht, daß das Sosein der Giraffen unabhängig ist von menschlichen Bedürfnissen und Interessen. Im Gegenteil, wir beschreiben Giraffen so, wie wir es tun, als Giraffen, wegen unserer Bedürfnisse und Interessen. Wir sprechen eine Sprache, in der das Wort "Giraffe" vorkommt, weil das unseren Zwecken entspricht. Dasselbe gilt für Wörter wie "Organ", "Zelle", "Atom" und so weiter - die Namen für die Teile, aus denen Giraffen bestehen, sozusagen. Alle Beschreibungen, die wir von Dingen geben, sind Beschreibungen, die unseren Zwecken entsprechen. Die Grenzlinie zwischen Giraffe und sie umgebender Luft ist klar genug für einen Menschen, der jagen will. Für eine sprachgebrauchende Ameise oder Amöbe oder für einen Raumfahrer, der uns von weit oben beobachtet, ist diese Grenzlinie nicht so deutlich, und es ist nicht selbstverständlich, daß so jemand ein Wort für "Giraffe" in seiner Sprache hat. Allgemeiner ausgedrückt: es ist nicht unmittelbar einsichtig, daß eine bestimmte der Millionen von Beschreibungsmöglichkeiten des Raum-Zeit-Teils, der von dem eingenommen wird, was wir eine Giraffe nennen, dem, was die Dinge an sich sind, näher kommt als irgend eine andere. Ebenso sinnlos ist es zu fragen, ob eine Giraffe wirklich eine Ansammlung von Atomen ist oder in Wirklichkeit eine Ansammlung tatsächlicher und möglicher Empfindungen in menschlichen Sinnesorganen, oder eigentlich etwas anderes; so scheint die Frage "Beschreiben wir sie (die Giraffe), wie sie wirklich ist?" eine Frage zu sein, die wir nie zu stellen brauchen. Alles, was wir wissen müssen, ist, ob eine rivalisierende Beschreibung für uns zweckdienlicher sein könnte.

Die Abhängigkeit der Beschreibungen von Zwecken ist das Hauptargument des Pragmatisten für seine Auffassung, wonach die Erkenntnis nicht an Repräsentationen gebunden ist, also die Auffassung, daß Fragenstellen auf Nützlichkeit für uns zielt und nicht auf eine genaue Erklärung des Ansichseins der Dinge. Weil jede unserer Überzeugungen in der einen oder anderen Sprache formuliert sein muß, und weil Sprache nicht den Versuch darstellt, etwas da draußen zu kopieren, sondern vielmehr ein Werkzeug ist, um mit dem da draußen umzugehen, gibt es keine Möglichkeit, "den Beitrag des Objekts zu unserer Erkenntnis" von dem "Beitrag unserer Subjektivität" abzutrennen. Sowohl die Worte, die wir gebrauchen, als auch unsere Bereitschaft, bestimmte Sätze unter Verwendung dieser und keiner anderen Worte auszusagen, sind das Produkt phantastisch komplexer Kausalverknüpfungen zwischen menschlichen Organismen und dem Rest des Universums. Es gibt keine Möglichkeit, dieses Netz kausaler Verknüpfungen zu zerteilen, um den relativen Gehalt an Subjektivität und Objektivität in einer gegebenen Überzeugung zu vergleichen. Es gibt, wie Wittgenstein sagt, keine Möglichkeit, zwischen Sprache und ihr Objekt zu treten, die Giraffe an sich von unserer Sprache über Giraffen zu trennen; wie Hilary Putnam, der führende Pragmatist der Gegenwart, es ausgedrückt hat: "...wesentliche Bestandteile dessen, was wir 'Sprache' oder 'Geist' nennen, dringen so tief in die Realität ein, daß schon das bloße Vorhaben, uns als 'Kartographen' von etwas 'Sprachunabhängigem' darzustellen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist."

Der platonistische Traum von der vollkommenen Erkenntnis ist der Traum, uns von allem, was in uns ist, freizumachen und uns vorbehaltlos dem zu öffnen, was außerhalb ist. Aber diese Unterscheidung zwischen innen und außen ist unannehmbar, wenn man einen biologistischen Standpunkt einnimmt. Wenn der Platoniker auf dieser Unterscheidung beharrt, muß er eine Erkenntnistheorie verwenden, die sich nicht mit anderen Disziplinen verknüpfen läßt und gelangt zu einer Beschreibung von Erkenntnis, die dem Rest der Wissenschaft den Rücken kehrt. Das heißt soviel wie die Erkenntnis zu etwas Übernatürlichem, einer Art Wunder zu machen.

Moralische Entscheidung als Kompromiß zwischen konkurrierenden Gütern

Die Vermutung liegt nahe, bei dem Gedanken, bei allem, was wir sagen, tun und glauben, handle es sich um die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Interessen, sei einfach eine neue Formulierung des aufklärerischen Säkularismus, der besagt, daß die Menschen sich selbst überlassen sind und kein übernatürliches Licht haben, das sie zur Wahrheit führt. Aber die Aufklärung ersetzt die Vorstellung einer solchen übernatürlichen Führung durch die Idee einer quasi göttlichen Fähigkeit, genannt "Vernunft". Und diese Idee ist es, die von amerikanischen Pragmatisten und post-nietzscheanischen europäischen Philosophen be- kämpft wird. Was an ihrer Kritik dieser Idee am schockierendsten erscheint, ist nicht ihre Beschreibung der Naturwissenschaften als Versuch, die Realität mehr zu handhaben als sie darzustellen. Es ist vielmehr ihre Beschreibung moralischer Entscheidung als ständiger Kompromiß zwischen konkurrierenden Gütern und nicht als Entscheidung zwischen dem absolut Richtigen und dem absolut Falschen.

Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern und Gegnern der Letztbegründung innerhalb der Erkenntnistheorie gleichen den Gelehrtenstreitereien, die man getrost den Philosophieprofessoren überlassen kann. Aber ein Streit über das Wesen der moralischen Entscheidung ist wichtiger. Denn bei solchen Entscheidungen steht die Vorstellung von uns selbst auf dem Spiel. Wir hören es nicht gern, wenn man sagt, unsere Wahl habe zwischen alternativen Gütern stattgefunden und nicht zwischen Gut und Böse. Die Debatten zwischen Pragmatisten und ihren Gegnern oder zwischen den Nietzscheanern und deren Gegnern machen nun einen zu bedeutenden Eindruck, als daß man sie den Philosophieprofessoren überlassen könnte. Jeder will einsteigen. Das ist der Grund, warum Philosophen wie ich sich plötzlich in Zeitschriften und Zeitungen attackiert sehen, von denen man geglaubt hätte, sie nähmen unsere Existenz gar nicht wahr. Diese Vorwürfe lauten, ohne Erziehung der Jugend an den Glauben an absolute moralische Werte und objektive Wahrheit sei die Zivilisation zum Untergang verurteilt. Wenn die jüngere Generation nicht dieselbe Bindung an starke moralische Prinzipien hat wie wir, dann sei der Kampf um menschliche Freiheit und menschlichen Anstand verloren. Wenn wir Philosophielehrer solche Artikel lesen, stellen wir fest, daß uns eine enorme Macht über die Zukunft der Menschheit unterstellt wird. Denn alles, was fehlt, um Jahrhunderte menschlichen Fortschritts zunichte zu machen, so wird in diesen Artikeln behauptet, ist eine Generation, die die Lehren des moralischen Relativismus, die Anschauungen, die Nietzsche und Dewey gemeinsam haben, für sich übernimmt.

Freilich gibt es viele Meinungsverschiedenheiten zwischen Dewey und Nietzsche. Nietzsche hielt die glücklichen wohlhabenden Massen, die Deweys sozialdemokratisches Utopia als "die letzten Menschen" bewohnen würden, für wertlose Kreaturen, zur Größe nicht imstande. Nietzsche war so instinktiv anti-demokratisch, wie Dewey instinktiv demokratisch war. Aber beide stimmen nicht nur bezüglich des Wesens der Erkenntnis überein, sondern auch hinsichtlich des Wesens der moralischen Entscheidung. Dewey sagte, jedes Übel sei ein zurückgewiesenes Gutes. William James sagt, jedes menschliche Bedürfnis habe prima facie ein Anrecht auf Befriedigung, und der einzige Grund, die Befriedigung zu verweigern, sei seine Kollision mit einem anderen menschlichen Bedürfnis. Nietzsche hätte dem voll zugestimmt. Er hätte diesen Punkt als Konkurrenzkampf von Trägern des Willens zur Macht formuliert, wogegen James und Dewey den Begriff "Macht" mit seinen sadistischen Obertönen etwas irreführend gefunden hätten. Aber diese drei Philosophen äußerten identische Kritik an aufklärerischen, insbesondere an kantischen Versuchen, moralische Prinzipien als Produkte eines besonderen Vermögens - der "Vernunft" - anzusehen. Sie alle dachten, das seien nicht ganz aufrichtige Versuche, so etwas wie Gott inmitten einer säkularen Kultur lebendig zu halten.

Kritiker des moralischen Relativismus glauben, wenn es kein Absolutes gäbe – also nichts, was sich ebenso wie Gott unerbittlich weigert, menschlicher Schwäche nachzugeben – , hätten wir keinen Grund, weiterhin dem Bösen zu widerstehen. Wenn das Böse nur ein geringeres Gut, jede moralische Entscheidung ein Kompromiß zwischen konkurrierenden Gütern ist, dann, so sagen sie, hat moralisches Ringen keinen Zweck. Das Leben derer, die für den Widerstand gegen Ungerechtigkeit starben, wird sinnlos. Aber für uns Pragmatisten ist das moralische Ringen eine Fortsetzung des Existenzkampfs, und es gibt keinen klaren Bruch zwischen dem Ungerechten und dem Unklugen, dem Bösen und dem Unzweckmäßigen. Den Pragmatisten geht es um Mittel, menschliches Leid zu verringern und menschliche Gleichberechtigung zu vermehren, die Möglichkeit für alle menschlichen Kinder zu erhöhen, das Leben mit der gleichen Chance auf Glück zu beginnen. Dieses Ziel steht nicht in den Sternen und ist genausowenig ein Ausdruck dessen, was Kant "reine praktische Vernunft" genannt hat, wie ein Ausdruck des Willens Gottes. Es ist ein Ziel, für das es sich lohnt zu sterben, aber es bedarf keiner Unterstützung durch übernatürliche Kräfte.
Die pragmatistische Auffassung dessen, was die Gegner des Pragmatismus "feste moralische Prinzipien" nennen, besagt, daß solche Prinzipien Kurzformeln vergangener Bräuche sind - Resümees der Gewohnheiten unserer besonders bewunderten Vorfahren. So sind z. B. Mills Prinzip der größeren Glückseligkeit und Kants kategorischer Imperativ Verfahren, mit denen wir uns an bestimmte gesellschaftliche Bräuche erinnern – Bräuche bestimmter Gebiete des christlichen Abendlandes, der Kultur, die – in Worten, wenn nicht in Taten – egalitärer war als jede andere. Die christliche Lehre, daß alle Mitglieder der Gattung Brüder und Schwestern sind, ist die religiöse Ausdrucksweise für das, was Mill und Kant in nichtreligiösen Begriffen formulierten: daß Erwägungen der Familienzugehörigkeit, von Geschlecht, Rasse, Religion und dergleichen uns nicht davon abhalten sollten, die anderen ebenso zu behandeln, wie wir es von ihnen erwarten. Solche Erwägungen sollten uns nicht davon abbringen, sie als Menschen wie wir anzusehen, die denselben Respekt verdienen, den auch wir zu genießen hoffen.

Aber es gibt andere feste moralische Prinzipien als solche, die den Egalitarismus verkörpern. Ein solches Prinzip ist dieses: die Entehrung einer Frau der eigenen Familie muß mit Blut vergolten werden. Ein anderes: es ist besser, keinen Sohn zu haben als einen, der homosexuell ist. Diejenigen von uns, die Blutfehden und Schwulenklatschen verhindern wollen, nennen diese Prinzipien eher "Vorurteile" als "Einsichten". Es wäre schön, wenn die Philosophen uns Beweise dafür geben könnten, daß die Prinzipien, die wir billigen, wie die von Mill und Kant, auf eine Weise "rational" sind, wie es die Prinzipien der Blutfehde und der Schwulenklatscher nicht sind. Aber zu sagen, sie seien rationaler, heißt einfach, sie seien universalistischer – daß sie nämlich den Unterschied zwischen Frauen aus der eigenen Familie und anderen Frauen, zwischen Homosexuellen und Heterosexuellen, als relativ bedeutungslos ansehen. Es ist jedoch nicht klar, ob das Verschweigen bestimmter Gruppen von Leuten ein Merkmal für Rationalität ist.

Um diesen letzten Punkt einzusehen, betrachte man das Prinzip "Du sollst nicht töten", ein Grundsatz mit bewundernswertem Allgemeinheitsanspruch. Ist er aber rationaler als das Prinzip "Töte nicht, es sei denn, du bist ein Soldat, der sein Land verteidigt, oder du verhinderst einen Mord, oder du bist ein Scharfrichter, oder du praktiziert barmherzig Euthanasie"? Ich weiß nicht, ob das mehr oder weniger rational ist, und daher halte ich den Begriff "rational" in diesem Gebiet nicht für nützlich. Wenn man mir sagt, daß eine von mir ausgeführte umstrittene Handlung durch die Subsumtion unter ein allgemeines rationales Prinzip gerechtfertigt werden muß, so mag ich mir vielleicht ein solches Prinzip ausdenken können, das auf den Anlaß paßt, aber manchmal kann ich vielleicht nur sagen: "Nun, in dem Moment schien es das beste zu sein, was ich tun konnte, unter Berücksichtigung aller Umstände." Es ist nicht einsichtig, daß die letztgenannte Rechtfertigung weniger rational ist als ein allgemein klingendes Prinzip, das ich mir zur Rechtfertigung meiner Handlung ad hoc ausgedacht habe. Es ist nicht einsichtig, daß die moralischen Dilemmata, denen wir in einer sich schnell verändernden Welt begegnen - im Zusammenhang mit Bevölkerungskontrolle, den Leistungseinschnitten im öffentlichen Gesundheitsdienst und ähnlichem - , auf die Formulierung von Prinzipien zum Zwecke ihrer Lösung warten sollten.

Wir Pragmatisten sehen es so: die Vorstellung, daß hinter jeder richtigen Handlung ein rechtfertigendes Prinzip stehen muß, heißt soviel, daß es so etwas wie ein allgemeines, übernationales Gericht gibt, vor dem wir stehen. Wir wissen, daß die besten Gesellschaften diejenigen sind, die von Gesetzen geregelt werden und nicht von den Launen eines Tyrannen oder des Mobs. Wir sagen, ohne die Herrschaft des Gesetzes ist das menschliche Leben der Emotion und Gewalt ausgeliefert. Das läßt uns glauben, daß es so eine Art unsichtbares Tribunal der Vernunft geben muß, das Gesetze erläßt, die wir irgendwo tief in uns als bindend anerkennen. So etwas in der Art verstand Kant unter moralischer Verpflichtung. Aber, um es noch einmal zu sagen, das kantische Bild des menschlichen Wesens kann nicht mit der Geschichte oder der Biologie zur Übereinstimmung gebracht werden. Beide Wissenschaften lehren uns, daß die Entwicklung von Gesellschaften, die durch Gesetze und nicht durch Menschen beherrscht wurden, eine langsame, späte, zerbrechliche und nicht zwingende Errungenschaft der Evolution war.

Dewey glaubte, daß Hegel gegenüber Kant im Recht war, indem er darauf bestand, allgemeine moralische Prinzipien seien nur von Nutzen, insoweit sie die natürliche Folge der geschichtlichen Entwicklung einer bestimmten Gesellschaft seien - einer Gesellschaft, deren Institutionen der sonst leeren Hülle des Prinzips Inhalt gäben. Kürzlich kam Michael Walzer, bekannt durch sein Werk Spheres of Justice, Hegel und Dewey zu Hilfe. In seinem neuen Buch Thick and Thin behauptet Walzer, man sollte die Gebräuche und Institutionen bestimmter Gesellschaften nicht als zufällige Zuwächse eines gemeinsamen Kerns allgemeiner moralischer Rationalität - des transkulturellen moralischen Gesetzes - verstehen. Vielmehr sollte man die umfangreiche Schicht von Gebräuchen und Institutionen als vorausliegend und als das betrachten, was moralische Loyalität gebietet. Die schwache Moralität, die aus den verschiedenen inhaltsreichen Moralitäten abstrahiert werden kann, besteht nicht aus Geboten einer von allen geteilten menschlichen Fähigkeit namens "Vernunft". Schwache Ähnlichkeiten dieser inhaltsreichen Moralitäten sind zufällig, genauso zufällig wie die Ähnlichkeiten zwischen den anpassungsfähigen Organen der verschiedenen biologischen Arten.

Jemand, der die anti-kantische Haltung, die Hegel, Dewey und Walzer gemeinsam ist, einnimmt und aufgefordert wird, die inhaltsreiche Moralität der Gesellschaft, mit der er sich identifiziert, zu rechtfertigen, wird dies nicht tun können, indem er über die Rationalität seiner moralischen Anschauungen spricht. Vielmehr wird er über die verschiedenen konkreten Vorteile der Praktiken seiner Gesellschaft gegenüber den Praktiken anderer Gesellschaften sprechen. Die Diskussion über die relativen Vorteile der verschiedenen inhaltsreichen Moralitäten wird offensichtlich genauso ergebnislos sein wie eine Diskussion über die relativen Vorzüge eines geliebten Buches oder Menschen gegenüber einem anderen geliebten Buch oder Menschen. Die Vorstellung einer von allen geteilten Quelle der Wahrheit namens "Vernunft" oder "menschliche Natur" ist für uns Pragmatisten gerade die Vorstellung, daß eine solche Diskussion eben zu Ergebnissen führen können sollte. Wir sehen diese Vorstellung als eine irreführende Art, die Hoffnung auszudrücken - die auch wir teilen - , daß die menschliche Gattung als ganze allmählich in einer globalen Gemeinschaft zusammenkommen sollte, in einer Gemeinschaft, die das meiste der inhaltsreichen Moralität der industrialisierten Demokratien Europas in sich aufnimmt. Irreführend ist diese Art der Formulierung deshalb, weil sie suggeriert, das Streben nach einer solchen Gemeinschaft sei in jedem Mitglied der biologischen Spezies von vornherein angelegt. Uns Pragmatisten kommt das so vor, als würde man behaupten, das Bestreben, eine Anakonda zu sein, sei in alle Reptilien eingebaut oder das Streben nach Menschenähnlichkeit in alle Säugetiere. Deshalb begreifen wir den Vorwurf des Relativismus lediglich im Sinne der Beschuldigung, wir sähen Glücksgefühle, wo unsere Kritiker insistieren, sie sähen das Schicksal. Wir glauben, daß die utopische Weltgemeinschaft, die durch die Charta der Vereinten Nationen und durch die Deklaration der Menschenrechte von Helsinki in Aussicht genommen wird, genausowenig das Schicksal der Menschheit ist, wie es ein atomarer Holocaust wäre oder die Verdrängung demokratischer Regierungen durch einander befehdende Kriegsherren. Wenn uns eine der beiden letztgenannten Möglichkeiten bevorsteht, wird unsere Spezies Pech gehabt haben, aber nicht irrational gewesen sein. Sie wird nicht bei der Erfüllung ihrer moralischen Verpflichtungen versagt, sondern nur die Chance verpaßt haben, glücklich zu sein.

Ich weiß nicht, wie man die Frage erörtern soll, ob es besser ist, menschliche Wesen in dieser biologistischen Weise zu verstehen oder eher so, wie Platon und Kant es getan haben. Also kenne ich auch kein schlüssiges Argument für den Standpunkt, den meine Kritiker "Relativismus" nennen und den ich vorzugsweise als Abneigung gegen Fundierungsgedanken oder "Anti-Dualismus" bezeichne. Es ist sicher nicht genug, wenn sich meine Partei auf Darwin beruft und die Gegner fragt, wie sie es vermeiden können, das Übernatürliche in Anspruch zu nehmen. Wenn man den Streit punkt so formuliert, nimmt man eine Menge Vorentscheidungen in Kauf. Es ist auch sicher nicht genug, wenn meine Gegner sagen, der biologistische Standpunkt beraube den Menschen seiner Würde und seiner Selbstachtung. Beide Parteien können vermutlich nicht mehr tun, als ihre Gründe immer wieder von neuem und in stets wechselnden Zusammenhängen zu formulieren. Der Streit zwischen denen, wie unsere Spezies wie unsere Gesellschaftsordnung für einen Glücksfall halten, und denen, nach deren Auffassung der Spezies wie der Gesellschaft ein tiefsitzender Wesenszweck innewohnt, ist von zu grundsätzlicher Art, als daß er von einem neutralen Standpunkt beurteilt werden könnte.

Übersetzt von Claudia Moser. Leicht gekürzte Fassung. Der vollständige Text, übersetzt von Andrew Inkpin und Mike Sandbothe, erschien 1997 in dem Band Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.), Die Wiederentdeckung der Zeit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.