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ESSAY

Grunwald, Armin: Synthetische Biologie. Verantwortungszuschreibung und Demokratie

Grenzmanagement und Verantwortungsfragen

Der wissenschaftlich-technische Fortschritt erweitert die Handlungsmöglichkeiten des Menschen und vermindert dessen Angewiesenheit auf das von Natur oder Kultur Vorgegebene. Grenzen des Handelns werden durchlässig oder gar aufgelöst. Damit entstehen neue Entscheidungsfreiräume und Handlungsoptionen, aber auch Orientierungsnotwendigkeiten und gelegentlich auch Orientierungsprobleme. Dies zeigt sich zurzeit deutlich in der Debatte um die Synthetische Biologie. Es geht dabei um die Vision, Lebendiges aus Nichtlebendigem neu zu schaffen und mittels Grenzmanagement traditionelle durch vom Menschen gesetzte und veränderliche Grenzen zu ersetzen.

Grenzmanagement heißt zunächst, die bestehenden Grenzen des Handelns zu erkennen und zu reflektieren. Immer wieder, so auch in der Synthetischen Biologie, kommt es zu Debatten, was 'wirklich' qualitativ neu ist. Je nach Antwort stellt sich die Frage nach dem Umgang mit sich andeutenden Grenzüberschreitungen anders. In den 1990er Jahren gab es beispielsweise einen Streit darüber, ob die Gentechnik bloß eine avancierte und effizientere Form der traditionellen Züchtung oder etwas qualitativ anderes ist – die Frage ist letztlich die, ob es sich hier um einen evolutionären Fortschritt der Wissenschaft handelt oder um einen revolutionären Durchbruch. Das Orientierungsproblem ist also nicht nur eines der ethischen Beurteilung von Handlungsoptionen, vielmehr müssen vorgängig Deutungsleistungen erfolgen, welche Auswirkungen auf die Art und Weise haben, in der sich das ethische Problem stellt.

Grenzmanagement findet im Spannungsfeld aus neuen Möglichkeiten, etablierten Moralen, Hoffnungen und Risikobefürchtungen statt und muss mit erheblichen Unsicherheiten umgehen. Damit ist es ein idealer Testfall und eine erhebliche Herausforderung für eine „pragmatistische Politikberatung“ (Jürgen Habermas), die darauf abzielt, einen demokratischen Dialog über Ziele und Grenzen der Wissenschaft zu initiieren – nicht nur für die ethischen Fragen im Umgang mit Grenzauflösung und Grenzsetzung, sondern verschärft hinsichtlich Verantwortung. Denn Verantwortung im Zusammenhang mit Expertentum hat eine inhärente Tendenz zur Technokratie und zum Paternalismus: Wenn Experten Verantwortung zugeschrieben wird oder sie diese selbst übernehmen, können Freiräume entstehen, in denen ‚verantwortungsvolle Experten’ Entscheidungen treffen, die einer demokratischen Beratung, Auseinandersetzung und Entscheidung bedürften.

Interdisziplinäre Wissenschafts- und Technikreflexion bedarf daher einerseits einer engen Verbindung zwischen normativer, analytischer und epistemologischer Reflexion, andererseits aber auch eines sorgfältigen Blicks auf die Mitgestaltungsansprüche einer demokratischen Gesellschaft sowie der Einbringung ihrer Resultate in die gesellschaftlichen Debatten. Erst dadurch können ihre Potentiale zur Orientierung einer offenen demokratischen Gesellschaft ausgeschöpft werden. Diese muss, um praktisch wirksam zu werden, zu konkreten Konsequenzen bis hin zu operativen Regeln im Umgang mit den neuen Technologien (wie der Synthetischen Biologie) führen. Die Verantwortungsdebatte setzt an dieser Stelle an, indem sie die ethischen Fragen nach Verantwortbarkeit und ihren Kriterien und Bedingungen mit einer gesellschaftlichen Praxis zusammenbringt, in der es darum geht, konkreten Akteuren und Gruppen Verantwortung in einer Weise zuzuschreiben, dass einerseits Verantwortungsübernahme im realen Vollzug möglich ist und andererseits durch Mechanismen bis hin zur Sanktionsbewehrung dafür Sorge getragen wird, dass ein faktisch wirksamer gesellschaftlicher Druck erzeugt wird, die zugeschriebene Verantwortung im faktischen Handeln und Entscheiden auch umzusetzen. Die Verantwortungsdebatte spielt sich somit an der Schnittstelle zwischen ethisch motivierten normativen Überlegungen zur Verantwortbarkeit von Handlungen und der durch Akteurskonstellationen und empirisch zugängliche Strukturen und Prozesse, z. B. im Rahmen eines 'Governance'-Ansatzes, beschreibbaren gesellschaftlichen Realität ab. Eine Verantwortungsdebatte, die sich ausschließlich über ethisch Wünschbares verständigen will, die sozialen Bedingungen der Umsetzung aber ausblendet, bleibt wirkungslos. Umgekehrt wird eine Verantwortungsdebatte, die die ethischen Fragen den Akteurskonstellationen und -einstellungen unterordnet und nicht als kognitiv eigenständig begreift, der Rationalität normativen Erwägens nicht gerecht und läuft in die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses im Sinn der Orientierung am bloß Faktischen.


Im Unterschied zu den ethischen Fragen als solchen, die abstrakt, d. h. losgelöst von konkreten Akteuren geführt werden können, geht es bei der Verantwortungszuschreibung und -übernahme immer konkret darum, welche Akteure welche Verantwortung in welchen Situationen übernehmen (sollen). Damit hat Verantwortungsverteilung eine politische Dimension. Anlass für die Rede über Verantwortung ist, dass die Beantwortung von Verantwortungsfragen in einem bestimmten Handlungsfeld kontrovers oder unklar ist. Zweck des Redens über Verantwortung ist, ein Einverständnis über die Verantwortungsstruktur in dem betreffenden Feld zu erzielen, um dadurch reflektiertes und 'verantwortliches' Handeln zu ermöglichen.

Synthetische Biologie: Die Verantwortungsfrage

Die Synthetische Biologie kann als eine Fortführung der Molekularbiologie mit nanotechnologischen Mitteln unter einem systembiologischen Blickwinkel aufgefasst werden. Erkenntnisse der Nanobiotechnologie können genutzt werden, um neue Funktionalitäten lebender Systeme durch Modifikationen von natürlichen Biomolekülen, durch Modifikationen am Design von Zellen oder durch das Design von künstlichen Zellen zu erzeugen. Charakteristisch ist in allen Definitionen der Synthetischen Biologie die Hinwendung zu künstlichen Formen des Lebens, entweder neu konstruiert oder durch Umgestaltung existierenden Lebens erzeugt, verbunden mit teils noch sehr diffusen Hoffnungen auf eine technologische Nutzbarkeit.

Der Ausgangspunkt der Synthetischen Biologie ist, Einheiten lebender Systeme als komplexe technische Zusammenhänge zu modellieren. Mittels eines technomorphen Blicks auf das Leben, der sich in Übertragungen von Wortverwendungen aus Maschinenbau und Elektrotechnik auf Teile lebender Systeme zeigt, werden die Funktionszusammenhänge des Lebens in einfachere technische Zusammenhänge zerlegt. Wäre diese sozusagen noch eine analytisch-technische Biologie, so wird sie zu einer synthetischen dann, wenn das Wissen um einzelne Vorgänge des Lebens so kombiniert und genutzt wird, dass im Ergebnis bestimmte erwünschte Eigenschaften an lebenden Systemen gezielt realisiert werden können.

Auf diese Weise wird die Grenze zwischen technisch verändernden Eingriffen in Lebewesen und ihrer technischen Erzeugung fließend. In der Synthetischen Biologie wird der Mensch vom Veränderer des Vorhandenen zum Schöpfer von Neuem – jedenfalls nach den Zukunftsvisionen einiger Biologen: "In fact, if synthetic biology as an activity of creation differs from genetic engineering as a manipulative approach, the Baconian homo faber will turn into a creator" (Boldt, J., Müller, O.: Newtons of the leaves of grass. Nature Biotechnology 26, 2008 S. 387-389, 2008, S. 388). Das traditionelle, naturwissenschaftlich geprägte Selbstverständnis der Biologie, das auf ein Verstehen der Lebensvorgänge zielt, wird in der Synthetischen Biologie zu einer Neukonstruktion von Natur auf der Basis des Wissens über das 'natürliche' Leben. Biologie wird dadurch von einer Wissenschaft vom Leben, wie sie dies im Namen führt, zu einer technischen Wissenschaft mit einer Dualität von Erkennen und Gestalten, die unter dem Primat der Gestaltungsziele steht.

Diese 'technische' Perspektive auf das Leben ist vorbereitet durch eine lange Geschichte technischer Eingriffe in lebende Systeme und in den Gang der Evolution, die zur Wortprägung der 'Biofakte' (Nicole Karafyllis) geführt hat. Neu ist der Anspruch, in nicht allzu ferner Zukunft aus nicht lebenden Bestandteilen wie organischen Molekülen Einheiten herzustellen, die lebenstypische Eigenschaften wie Stoffwechsel und Reproduktion aufweisen. Wenn das gelingt, und dies ist mehr als eine bloße Vision, tritt damit unzweifelhaft der genannte Fall der erheblichen Kontingenzsteigerung menschlichen Handelns ein, welcher zu einem Orientierungsbedarf in Bezug auf Grenzmanagement und Grenzpolitik führt.

Etwa seit 2006 ist eine internationale Debatte über ethische, rechtliche und soziale Fragen der Synthetischen Biologie entbrannt. Diese knüpft an die Debatten zu gentechnisch veränderten Organismen an, reicht aber aufgrund der größeren Reichweite und Tragweite darüber hinaus. Allerdings kann bislang über Risiken von Verfahren oder Produkten der Synthetischen Biologie konkret noch wenig gesagt werden – vielmehr ist der Forschungsprozess selbst Gegenstand der ethischen Debatte, es geht um die Frage nach der Verantwortbarkeit des weiteren Forschungsprozesses, um Sicherheitsstrategien, das Vorsorgeprinzip und Formen des 'Containment', wie sie aus der Geschichte der Gentechnik vertraut sind. Es geht um Fragen nach der Verantwortung der beteiligten Wissenschaftler und Disziplinen, nach der Verantwortbarkeit bestimmter Forschungsrichtungen sowie nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Selbststeuerung und Selbstverpflichtung und staatlicher Regulierung.

Selbstverpflichtung versus Fremdregulierung

Der Begriff der Verantwortung führt auf die Frage, wer in der Synthetischen Biologie warum und mit welcher Legitimation Risiken produzieren, anderen zumuten oder verhindern darf. Erschwerend kommt hinzu, dass es hier um unklare Risiken geht, von denen nicht einmal klar ist, ob und in welchem Ausmaß sie sich von bloß spekulativem Verdacht unterscheiden. Es existieren auch keine Mechanismen, die es erlauben, die Risiken mit den Chancen nach anerkannten Verfahren, z. B. der Kosten/Nutzen-Analyse, abzuwägen.

Eine ähnliche Situation bestand in der Frühzeit der Gentechnik. So ist es nicht überraschend, dass immer wieder die bekannte Konferenz von Asilomar (1975) als Vorbild für das weitere Vorgehen in der Synthetischen Biologie genannt wird. Damals waren hinsichtlich der Gentechnik neben einer weltweiten Aufbruchstimmung zugleich erste Anzeichen öffentlicher Kritik und Forderungen nach staatlicher Regulierung zu beobachten. Die Konferenz hatte Selbstverpflichtungen der Gentechniker in Bezug auf Verantwortungsübernahme und Vorsorge zum Ergebnis. Allerdings sind die Deutungen der Konferenz kontrovers. Zum einen wird sie positiv als Beispiel für eine proaktive Verantwortungsübernahme durch die Wissenschaft gerühmt; zum anderen wird ihr nachgesagt, sie habe vor allem dem Zweck gedient, einer staatlichen Regulierung zuvor zu kommen, damit die Gentechniker möglichst unbehelligt weiter ihren Forschungen nachgehen konnten.

Auf der zweiten weltweiten Konferenz der Synthetischen Biologie im Jahre 2006 wurde der Vergleich mit Asilomar bemüht und eine Erklärung zur Verantwortung der Biologen verabschiedet. Diese bezieht sich allerdings nur auf den möglichen Missbrauch, vor allem durch Terroristen, und den militärischen Einsatz synthetischer Biologie und stellt für diesbezügliche Möglichkeiten eine Reihe von Selbstverpflichtungen auf, die vor allem der Sicherstellung, der Vertrauenswürdigkeit, der Weitergabe von Wissen und biotischen Materialien gewidmet sind.

35 Nichtregierungsorganisationen (darunter ETC-Group, Greenpeace, Third World Network) haben auf derselben Konferenz einen gemeinsamen Brief verfasst, in dem sie sich gegen diese Beschränkung der Verantwortungsfrage auf die Verhinderung möglichen Missbrauchs von Ergebnissen der Synthetischen Biologie wenden. Sie argumentieren, die freiwillige Verantwortungsübernahme durch Wissenschaftler sei undemokratisch und paternalistisch, da Wissenschaftler in derart weit reichenden Fragen nicht 'in eigener Sache' entscheiden dürften. Die Organisationen fordern statt einer Beschränkung auf Missbrauchsszenarien z. B. durch Terroristen eine breite Untersuchung und Debatte der gesellschaftlichen Folgen der synthetischen Biologie durch Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen. Damit wird ein zivilgesellschaftlicher Mitgestaltungsanspruch erhoben.
In dieser laufenden Debatte hat auch die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften Position bezogen (acatech 2009). Sie bemüht ebenfalls die Parallele zur Gentechnik und kommt zu dem Schluss: Es ist noch eine offene Frage, ob die Risiken der Synthetischen Biologie anders gelagert oder in ihrer Größenordnung anders einzuschätzen sind als die Risiken der bisherigen Genforschung. Zunächst sei aber davon auszugehen, dass die bestehenden Regelungen und Regulierungen ausreichen, um die Risiken zu vermeiden oder abzumildern.

Interessant daran ist, dass die Diagnose einer offenen Frage in die keineswegs mehr offene Positionsbestimmung mündet: "Zunächst ist davon auszugehen, dass die bestehenden Regelungen … ausreichen …". Dies ist anscheinend der Primat für eine 'wait and see' Strategie, nach der zunächst davon ausgegangen werden könne, dass eine neue Technologie bis zum Beweis des Gegenteils keine unüblichen Risiken mit sich bringt, also mit den vorhandenen Mitteln bewertet werden kann. Auf der Basis eines 'starken Vorsorgeprinzips' würde der Schluss jedoch genau andersherum ausfallen.

Um das einschränkende 'zunächst' einzulösen, werden im acatech-Papier ein Monitoring durch die Zentralkommission für Biologische Sicherheit (ZKBS) mit entsprechender Begleitforschung gefordert, sowie, und das führt unmittelbar zur Verantwortungsfrage und ihrer Operationalisierung, weitere Elemente einer Governance-Struktur: „Außerdem ist es ratsam, durch Schaffung geeigneter interdisziplinärer Diskussionsplattformen die Selbstkontrolle der Wissenschaft zu fördern“. Damit stellt sich acatech – nicht überraschend für eine ingenieurwissenschaftliche akademische Vereinigung – auf die Seite der Befürworter von freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wissenschaft.

Freiwillige Selbstverpflichtungen und Ethik-Kodizes haben in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. So hat z. B. der Verein Deutscher Ingenieure auf dieses Instrument gesetzt. Auf der europäischen Ebene wurde ein 'Code of Conduct' für die Nanotechnologie verabschiedet. Im (bio-)medizinischen Bereich hat die Zahl der Ethik-Kommissionen zugenommen; ihre Themen übersteigen mittlerweile den ursprünglichen Rahmen der Beurteilung von Experimenten am Menschen weit. Bereits wird von einer 'Ethisierung der Wissenschaften' in dem Sinne gesprochen, dass einerseits moralische Kriterien und ethische Reflexion stärker in die Governance der Wissenschaften hineinspielen, und dass andererseits Verantwortung stärker den Wissenschaftlern als Individuen und als Teil des Wissenschaftssystems zugeschrieben wird. Derartige Elemente eines 'soft law' scheinen gegenwärtig gegenüber regulatorischen Instrumenten an Bedeutung zu gewinnen. Neue Wortschöpfungen wie 'Responsible Innovation' (hierzu gibt es ein gleichnamiges Forschungsprogramm der niederländischen Forschungsförderorganisation NWO) oder 'Responsible Development' illustrieren diese Anzeichen einer 'Ethisierung'.

Ist dies aus Sicht von Wissenschafts- und Technikethik zunächst selbstverständlich begrüßenswert, so ist jedoch Vorsicht geboten, um nicht die eingangs genannten politischen Dimensionen von Verantwortung in diesem Feld zu entpolitisieren und in das moralische Empfinden von individuellen Wissenschaftlern hinein zu verlagern. Um hierzu eine reflektierte Position zu gewinnen, die Diagnosen und Schlussfolgerungen erlaubt, bedarf es einer Rückbesinnung auf den Verantwortungsbegriff.

Der Verantwortungsbegriff und seine politische Dimension

Die Frage nach der Verantwortung von Wissenschaftlern und ihren Grenzen füllt spätestens seit der Erfindung der Atombombe Bücher, Tagungsprogramme und Leserbriefspalten in Zeitungen. Normativer Ausgangspunkt für Beurteilungen der Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts war angesichts einer Vielzahl globaler Schreckensszenarien mit der Möglichkeit eines Endes der Menschheitsgeschichte zunächst die 'unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein' (Jonas): "Niemals darf Existenz oder Wesen des Menschen im Ganzen zum Einsatz [...] gemacht werden" (Das Prinzip Verantwortung. S. 81). Eine "Heuristik der Furcht" in Kombination mit dem Prinzip des "Vorrangs der schlechten Prognose" soll Orientierungen ermöglichen, wie mit technischen Innovationen umzugehen sei. Es resultiert nach Jonas ein kategorischer Imperativ, so zu handeln, dass „die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf der Erde“ (ebd., S. 36). Als operative Modelle für Verantwortungsübernahme stellte Jonas die Rolle von Eltern für ihre Kinder und die des Staatsmanns für die anvertrauten Bürger in den Vordergrund. Neben anderen Kritikpunkten, z. B. an Jonas’ teleologischer Deutung der Natur, führte dies zu dem Vorwurf des Paternalismus.

Neuere Formulierungen stellen das Adressatenproblem der Verantwortung in den Mittelpunkt: angesichts komplexer arbeitsteiliger Handlungszusammenhänge gehe es darum, das Subjekt der Verantwortung zu bestimmen, um zu verhindern, dass Verantwortungsethik zu einem adressatenlosen Moralisieren werde und es zu einer 'Verantwortungsverdünnung' komme (Bechmann, G. (1993): Ethische Grenzen der Technik oder technische Grenzen der Ethik? Geschichte und Gegenwart 12, 1993, S. 213-225). Die Arbeitsteiligkeit des Handelns dürfe die Folgenverantwortung nicht einfach auflösen, sondern es gehe darum, sie auf die involvierten Individuen nach Maßgabe ihrer Bedeutung und Handlungsmöglichkeiten in dem betreffenden kollektiven Handlungszusammenhang zu verteilen und institutionelle Möglichkeiten zu schaffen, diese verteilte Verantwortung auch zusammenführen zu können (Lenk, H. Zwischen Wissenschaft und Ethik, 1992).
Verantwortung ist Resultat einer Zuschreibungshandlung, entweder wenn Handelnde sie sich selbst zuschreiben und damit etwas über die Beurteilung ihrer eigenen Handlungen oder den Umgang mit deren Folgen aussagen, oder durch die Verantwortungszuschreibung durch andere. Die Rede „Wer trägt welche Verantwortung?“ ist verkürzt: die Zuschreibung von Verantwortung stellt selbst eine Handlung dar, welche unter Zwecken und relativ zu Zuschreibungsregeln erfolgt. Diese Zuschreibungsregeln sind selbst rechtfertigungspflichtig, indem sie z. B. den Kreis der verantwortungsfähigen Individuen abgrenzen und Kriterien angeben, welche Voraussetzungen Individuen erfüllen müssen, um zur Verantwortung gezogen werden zu können.

Die Fassung des Verantwortungsbegriffs als Zuschreibungsbegriff hat Folgen. Die Forderung nach pragmatischer Konsistenz rationaler Akteure führt darauf, dass eine Instanz, die bestimmten Personen oder Gruppen eine spezifische Verantwortung zuschreibt, darauf achten muss, ob diese die zugeschriebene Verantwortung auch faktisch wahrnehmen können. Wenn nicht, würde die Zuschreibung ins Leere laufen und bliebe belanglos, ohne dass den Akteuren, denen die Verantwortung zugeschrieben worden war, daraus ein Vorwurf gemacht werden könnte. Wenn die zuschreibende Instanz nun selbst in der Lage ist, die Bedingungen zu beeinflussen, unter denen die Übernahme von Verantwortung praktisch möglich ist, kann dieses Argument der pragmatischen Konsistenz dahingehend verschärft werden, dass die zuschreibende, also Verpflichtungen delegierende Instanz sich damit selbst verpflichtet, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die verantwortlich gemachten Akteure ihrer Verantwortung auch gerecht werden können. Die Verpflichtung Anderer geht einher mit der Selbstverpflichtung, adäquate Bedingungen zu schaffen. Dieses kann ein starkes Argument sein, vor allem, wenn die Verantwortung abstrakt von 'der Gesellschaft' zugeschrieben wird.

Der Verantwortungsbegriff muss als zumindest dreistelliger Begriff rekonstruiert werden: jemand (ein Verantwortungssubjekt) verantwortet etwas (Handlungsresultate als Objekt der Verantwortung) vor einer Instanz (einer Person, einer Institution, einem Regelwerk, einer Moral). Die moralische Dimension erschließt sich jedoch erst in der Rekonstruktion des Verantwortungsbegriffs als vierstellig, wenn gefragt wird, relativ zu welchen Regelsystemen Verantwortung übernommen werden soll. Diese Regeln bilden den normativen Rahmen für die Beurteilung von Handlungen als verantwortbar. Kommt es hier zu normativen Unsicherheiten, z. B. aufgrund moralischer Konflikte, ist eine ethische Reflexion auf diese Regeln und ihre Rechtfertigbarkeit erforderlich.

Für das Weitere ist darüber hinaus eine fünfstellige Rekonstruktion angemessen: jemand ist verantwortlich für etwas vor einer Instanz relativ zu einem Regelwerk und relativ zu einem Wissensstand. Der Bezug auf einen Stand verfügbaren Wissens ist in Fragen prospektiver Verantwortung unverzichtbar, einschließlich der Reflexion der epistemologisch prekären Struktur des prospektiven Wissens über Technikfolgen. In Verantwortungsdebatten muss der Stand des verfügbaren Wissens über die zu verantwortende Zukunft erhoben und unter epistemologischen Aspekten kritisch reflektiert werden. In Bezug auf weit reichende Zukunftsfragen, die nur unter hoher Unsicherheit beurteilt werden können (wie in der Synthetischen Biologie), ist dies ein entscheidender Aspekt, indem der Relation zwischen dem verfügbaren Wissen – dem, was 'auf dem Spiel' steht – und den normativen Kriterien für Verantwortung und Verantwortbarkeit die entscheidende Bedeutung zukommt. Die heutigen Entscheidungen haben einen weit reichenden, wenn nicht dominierenden Einfluss auf die zukünftigen Entwicklungen – aber wir wissen nicht, welchen. Wenn dies das letzte Wort wäre, würde jede Verantwortungsethik obsolet: das, was nicht gewusst werden kann, kann auch nicht verantwortet werden. Mit dem Wissen über mögliche Entscheidungsfolgen verschwindet auch der Gegenstand einer Verantwortungsethik. Ist also, wie eingangs gesagt, die normative Verantwortungsdebatte in Kontakt mit den empirischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen, müssen 'nach der anderen Seite' epistemische Bedingungen der Möglichkeit von Verantwortung bedacht werden. Damit stellen sich in prospektiven Verantwortungsdebatten Fragen in drei Dimensionen:
- epistemische Dimension: was wird gewusst, was kann gewusst werden, welche Unsicherheiten bestehen fort, wie können sie qualifiziert werden, und was steht im Falle des Falles auf dem Spiel?
- ethische Dimension: können die in Frage stehenden Handlungen, z. B. wissenschaftliche Entwicklungen, gerechtfertigt werden, unter welchen Bedingungen können sie dies, welche ethischen Reflexions- und Argumentationsmuster sind einschlägig?
- politische Dimension: wie soll Verantwortung verteilt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen sind betroffen und sollen über die Verantwortungsverteilung mitentscheiden, handelt es sich um Fragen, die die ‚Polis’ betreffen oder können sie an Gruppen oder Teilsysteme delegiert werden?

Häufig werden Verantwortungsdebatten auf die Ebene (b) beschränkt und ausschließlich im Rahmen der Verantwortungsethik behandelt. Resultat sind die bekannten und teils oben genannten Vorwürfe des bloß Appellativen, der epistemologischen Blindheit und der politischen Naivität. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass Verantwortungsfragen unabdingbar interdisziplinär sind und gerade dadurch ihre Spezifik gewinnen – spezifische Probleme, aber auch ihren spezifischen Reiz.
Wenn Verantwortungsfragen in ein pragmatistisches Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit eingebettet werden sollen, ist ein breiterer Ansatz erforderlich, der sowohl den Realitäten einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, den demokratischen Beteiligungsansprüchen der Bürger und den spezifischen Gegebenheiten in den Wissenschaften gerecht wird. Dazu gehört die Forderung nach einer demokratisch geführten Deliberation:
„Einer Politikberatung kommt dabei die Aufgabe zu, Forschungsergebnisse aus dem Horizont leitender Interessen, die das Situationsverständnis der Handelnden bestimmen, zu interpretieren, Projekte zu bewerten und Programme anzuregen und auszuwählen, die den Forschungsprozeß in die Richtung praktischer Fragen lenken…Die Aufklärung eines wissenschaftlich instrumentierten politischen Willens kann nach Maßgabe rational verbindlicher Diskussion nur aus dem Horizont der miteinander sprechenden Bürger hervorgehen und muß in ihn zurückführen (Habermas in Habermas, J., Hrsg., Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt, S. 137).

Es geht hier darum, wie eine Gesellschaft, die von der Biologie Beiträge zur Lösung praktischer Fragen, z. B. im Hinblick auf Gesundheit oder Umweltprobleme, erwartet, die Wissenschaft dazu bewegen kann, sich ihrer Wünsche anzunehmen und auf ihre Belange und auch Sorgen einzugehen. Damit werden, zumindest wenn man die demokratietheoretische Ideale etwa von Habermas teilt, die in dem Brief an die zweite Synbio-Konferenz geäußerten Sorgen berechtigt sind. Daraus ergeben sich als Anforderungen an die Zuschreibung von Verantwortung in der Synthetischen Biologie nachstehende Punkte:

- die Verantwortungsdebatte darf sich nicht auf die Delegierung der Verantwortung für aus der Synthetischen Biologie emergierende gesellschaftliche Weichenstellungen an ‚verantwortliche’ Wissenschaftler’ beschränken;
- demokratische Beteiligungsansprüche erstrecken sich nicht nur auf die Sicherstellung der Beachtung von Risikofragen und die umsichtige Handhabung von Wissen, Können und Materialien durch die Wissenschaften;
- vielmehr umfasst die demokratische Mitwirkung auch die Agenda der Synthetischen Biologie und damit z.B. die Ausgestaltung von Programmen der Forschungsförderung;
- um Mitwirkungs- und Beteiligungsansprüche zu realisieren, bedarf es einer interessierten und aufgeklärten Öffentlichkeit;
- in epistemologisch prekären Situationen besonders hoher Unsicherheit bedarf es anerkannter Verfahren der Qualifizierung dieser Unsicherheiten;
- ein Paternalismus, in dem die ‚verantwortlichen’ Wissenschaftler die Verantwortung für Bürger und Gesellschaft übernehmen, bedarf der Zustimmung der möglicherweise von den Folgen Betroffenen.

Arbeitsteilige Verantwortung

Fragen der Zuschreibung von Verantwortung, die die Polis betreffen, bedürfen demnach der Einbettung in die umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der Beachtung der Governance-Strukturen und der Rücksicht auf Mitspracherechte und demokratische Beteiligungsansprüche. Es muss auf die Wissensstrukturen, Wissensprobleme und Kompetenzen der Beteiligten Rücksicht genommen werden. Verantwortungszuschreibung stellt sich auf diese Weise als komplexes, die Reichweite philosophischer Ethik weit übersteigendes Unterfangen heraus.

Bestimmte in der öffentlichen, aber auch teils in der ethischen Debatte verbreitete Strukturen der Verantwortungszuschreibung erscheinen vor diesem Hintergrund naiv. Etwa wenn gefordert wird, dass Wissenschaftler die Folgen ihres Handelns in der Weise einer kompletten Wissenschafts- und Technikfolgenbeurteilung reflektieren sollen und damit die Hoffnung verbunden ist, dass damit negative, nicht intendierte Folgen vermieden werden könnten. Solche Erwartungen werden der Einbettung wissenschaftlichen Handelns in eine demokratische Gesellschaft gerecht und verkennen die Wissens- und Beurteilungsprobleme.

Hinsichtlich der Synthetischen Biologie müssen die Folgenbeurteilungen, auf denen eine Verantwortungszuschreibung aufruht, in operativer Hinsicht Einfluss auf Wissenschafts- und Technologiepolitik und damit staatliche Forschungsförderung haben. Simplifizierte Verantwortungszuschreibung an die Synthetische Biologie in dem oben erwähnten Sinne reicht nicht, das Beurteilungsproblem – wie sollen Folgen der Synthetischen Biologie auf Wünschbarkeit oder Zumutbarkeit hin beurteilt werden – zu lösen. Diese Art der Verantwortungszuschreibung würde vielmehr Mandat und Kompetenz der Synthetischen Biologie übersteigen. Es muss es zu einem gesellschaftlichen ‚Unsicherheitsmanagement’ kommen, für das die Experten der Synthetischen Biologie nicht unbedingt Experten sind. Weder individuelle Wissenschaftler noch Disziplinen wie die synthetische Biologie, aber auch nicht die Philosophie können allein diese Fragen Erfolg versprechend bearbeiten. Synthetische Biologen sind Experten für Synthetische Biologie, nicht für mögliche gesellschaftliche Folgen ihres Handelns und auch nicht für die Frage der Akzeptabilität unklarer Risiken und den Umgang mit ihnen.

Die darf jedoch nicht dazu führen, die Synthetische Biologie von Verantwortung freizustellen. Dadurch, dass sie nun einmal Experten in ihrem Feld sind, und zwar die einzigen Experten, erwachsen Verpflichtungen, sich mittels dieses Expertenwissens in die gesellschaftlichen Prozesse der ‚Verarbeitung’ der Herausforderungen durch Synthetische Biologie einzubringen. Insbesondere ist von ihr eine transparente Information der Öffentlichkeit zu erwarten. Zu ihrer Verantwortung gehört auch die Mitwirkung an interdisziplinären und gesellschaftlichen Dialogen sowie in der Politikberatung.

Wissenschaft einschließlich der Synthetischen Biologie ist gefragt, ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren und aktiv in den verschiedenen Facetten zu übernehmen. Standesethos oder Selbstverpflichtungserklärungen ersetzen weder ethische Reflexion noch demokratische Meinungsbildung. Dies gilt insbesondere angesichts der durch die Entwicklungen in der Synthetischen Biologie in den Blick geratenden neuen Möglichkeiten in Bezug auf technisch veränderte oder neu erzeugte Lebensformen sowie die dadurch involvierten höheren Vorsorgelasten. Hier wird es in Zukunft darum gehen, das Vorsorgeprinzip zu operationalisieren, etwa durch geeignete Containment-Strategien nach dem Vorbild der Entwicklungen in der Gentechnik, die Schritt für Schritt durch systematische Folgenuntersuchungen den Wissensbestand über Risiken ausweiten und auf diese Weise das zunächst 'unklare' Risiko zu einem Risiko im Sinne des klassischen Risikomanagements transformieren. Staatliche Maßnahmen müssen dabei nicht gleich in Form von Regulierungen umgesetzt werden, sondern könnten sich z. B. als eine systematische Bebachtung der weiteren Entwicklung in der Synthetischen Biologie im Rahmen der Technikfolgenabschätzung ausdrücken, begleitet durch philosophische Deutungen der jeweils entstehenden Risiko- und Chancensituationen in Bezug auf involvierte normative Rahmen und durch ethische Reflexion.

Verantwortung für die Synthetische Biologie kann also nur arbeitsteilig getragen werden kann. Die Synthetische Biologie selbst hat dabei einen besonderen Platz, weil ihr Wissen durch andere Beteiligte nicht ersetzt werden kann. Sie spielt jedoch nur ein Instrument unter vielen. Andere Beteiligte sind zum einen weitere Wissenschaften wie die Governance-Forschung, die Wissenschaftsforschung, Ethik und Technikfolgenabschätzung, Risikoforschung und, sobald die Entwicklung soweit ist, auch Innovationsforschung. Das Konzert der Verantwortungsträger ist damit zunächst ein interdisziplinäres Konzert.

Die involvierte demokratische Dimension führt dazu, dass dieses Konzert darüber hinaus auch transdisziplinär sein muss. Beteiligungsansprüche von Bürgern und Initiativen von Verbänden und Nichtregierungsorganisationen regen die gesellschaftliche Deliberation an. Medien transportieren diese Debatten in eine größere Öffentlichkeit. Akademien und Stiftungen, aber auch politische Institutionen sollten diese Deliberation unterstützen. Wissenschaftliche Politikberatung darf vor diesem Hintergrund sich nicht auf enge Expertenzirkel beschränken.

Eine weitere Komplexitätsstufe besteht in der internationalen Dimension. Die folgenden Forderungen sind berechtigt, aber wohl (noch?) ziemlich weltfremd: "For synthetic biology a strong case can be made for international dialogue on the appropriate role of regulatory oversight. The difficulties which arise from piecemeal and divergent national approaches to the regulation of innovative technology in life sciences were very apparent in the case of GM crops, and this experience offers lessons for synthetic biology" (IRGC – International Risk Governance Council,: Risk Governance of Synthetic Biology, 2009, S. 17). Hier ist gegenüber einer nicht existierenden Weltöffentlichkeit die Gemeinschaft der Synthetischen Biologie, die international organisiert ist, eindeutig im Vorteil. Das Fehlen einer internationalen Ebene, auf der demokratische Deliberation stattfinden könnte, muss Ansporn sein, wenigstens bestimmte Formen zu entwickeln und die ersten Elemente einer ‚Global Governance’ zu nutzen. So wurde 1998 die UNESCO-Kommission ‚World Commission on the Ethics of Scientific Knowledge and Technology (COMEST) gegründet, deren Mandat neben der Politikberatung auch die Förderungen der öffentlichen Debatte umfasst. Gleichwohl bleibt vieles noch zu tun.

UNSER AUTOR:

Armin Grunwald ist Professor für Philosophie am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Leiter des dortigen Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse.

Von der Redaktion gekürzter Text eines Manuskripts zu Vorträgen des Autors an den UniversitätenBonn, Freiburg und Dortmund. Der Originaltext mit den Literaturangaben erscheint im Band Boldt/Müller/Maio (Hrsg.): Leben schaffen? (Mentis, Paderborn, Frühjahr 2012).