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Wilfried Hinsch: Legitimität und Gerechtigkeit

Legitimität und Gerechtigkeit

von Wilfried Hinsch (Aachen)

1. Zwei Begriffe von Legitimität

Es ist hilfreich, zwischen Legitimitätsbegriffen und Legitimitätskonzeptionen zu unterscheiden. Ein Legitimitätsbegriff gibt uns die elementare Bedeutung von „Legitimität“, „legitim“, „Legitimation“ und verwandten Ausdrücken an die Hand. Er klärt uns darüber auf, was wir beispielsweise über eine gesellschaftliche Norm oder eine politische Entscheidung sagen, wenn wir sie „legitim“ nennen. Ein Legitimitätsbegriff sagt uns auch, welche Rolle Legitimitätsvorstellungen in den Sozialwissenschaften oder in Prozessen der praktisch-politischen Entscheidungsfindung spielen. Legitimitätskonzeptionen enthalten demgegenüber die Kriterien, die eine Norm oder eine Entscheidung erfüllen müssen, um im jeweils relevanten Sinne als legitim gelten zu können.
Es sollten zwei verschiedene Begriffe von Legitimität klar und deutlich voneinander unterschieden werden: der in den Sozialwissenschaften beheimatete empirische Begriff der Legitimität und der normative Begriff der Legitimität, der in der politischen Philosophie zuhause ist. Es hat den Anschein, daß der empirische und der normative Legitimitätsbegriff leicht miteinander verwechselt werden. Vor allem politische Kommentatoren neigen dazu, zwischen beiden hin und her zu schwanken. Dafür gibt es Gründe. Beiden Legitimitätsbegriffen ist gemeinsam, daß „legitim“ verwendet wird, um einen normativen Status anzuzeigen. Legitime Normen und Entscheidungen zeichnen sich dadurch aus, daß ihnen normative Autorität zugeschrieben wird. Sie werden von denjenigen, die ihnen Legitimität zusprechen, für verbindlich gehalten; es wird angenommen, es bestünde eine Pflicht, eben das zu tun, was sie vorgeben. Der empirische und der normative Legitimitätsbegriff ähneln sich auch darin, daß beide Legitimität primär als ein Phänomen innerhalb der Sphäre des Politischen betrachten. Genauer betrachtet geht es um die zulässigen Formen der Ausübung staatlicher Zwangsgewalt. Wenn wir verpflichtet sind, legitimen Normen zu folgen, dann dürfen diese, so unsere intuitive Vorstellung, vom Staat nötigenfalls auch zwangsweise durchgesetzt werden. Und, so nehmen wir ebenfalls an, nur legitime Normen dürfen zwangsweise durchgesetzt werden.
Man kann von Vielem sagen, es sei legitim: von politischen Systemen, Gesetzen, parlamentarischen Entscheidungen und Ähnlichem. Ich werde hauptsächlich von Normen sprechen: zum einen, um die Dinge übersichtlich zu halten, zum anderen, weil Normen hier eine gewisse Priorität haben. Entweder nämlich ist das, was wir legitim nennen, selber eine Norm resp. ein durch Normen konstituiertes Gebilde (zum Beispiel eine Institution) oder aber es ist etwas, dessen Legitimität sich daraus herleitet, daß es bestimmten Normen genügt. Ein Verständnis der Legitimität von Normen ist deshalb grundlegend für ein Verständnis politischer Legitimität im Allgemeinen. Auch dies gilt für den empirischen und den normativen Legitimitätsbegriff gleichermaßen.
Das empirische Verständnis von Legitimität geht auf Max Weber zurück. Für die Sozialwissenschaften ist es nach wie vor bestimmend, auch wenn die Webersche Legitimitätskonzeption selbst nicht unumstritten ist. Niklas Luhmanns Konzeption der Legitimation durch Verfahren etwa wendet sich inhaltlich ausdrücklich gegen Webersche Legitimitätsvorstellungen. Luhmann folgt aber ebenso wie Weber einem empirischen Legitimitätsbegriff und teilt dessen Interesse an empirischem Gehalt und sozialwissenschaftlicher Erklärung. Zum Zwecke der Begriffsklärung genügt ein elementares Verständnis von Webers Legitimitätskonzeption. Weber zufolge ist eine Norm legitim dann und nur dann, wenn sie de facto von denjenigen anerkannt wird, die sie befolgen sollen, oder zumindest von einer ansehnlichen Mehrheit dieser Gruppe. Daß eine Norm oder eine Entscheidung „anerkannt“ wird, soll in diesem Zusammenhang bedeuten, daß die Beteiligten sie als verbindlich betrachten. Sie glauben, daß sie der Norm auch unabhängig von gegebenenfalls angedrohten Sanktionen folgen sollten. Durch ihre Anerkennung wird eine Norm zu einem akzeptierten Standard oder Maßstab des eigenen Handelns, und die Normbefolgung zu einer Pflicht, deren Nicht-Erfüllung als ein Grund für Kritik betrachtet wird. Anerkennung läßt eine soziale Ordnung zu einer geltenden Ordnung im Sinne Webers werden: Die Beteiligten folgen ihr nicht lediglich aus Gewohnheit oder Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sondern weil sie dies für geboten halten.
Eine Norm im empirischen Sinne legitim zu nennen impliziert also, daß es Personen gibt, die diese Norm akzeptieren und glauben, daß sie, ungeachtet externer Sanktionen, ihr Verhalten leiten sollte. Legitime soziale Ordnungen sind deshalb Ordnungen, die weithin freiwillige Unterstützung bei den Beteiligten finden. Da kein politisches Regime und keine Gesellschaft ohne ein hohes Maß von unerzwungenem Regelgehorsam bestehen könnte, nimmt das empirische Verständnis von Legitimität natürlicherweise eine zentrale Stellung innerhalb von empirischen Theorien politischer und sozialer Ordnungen ein. Man beachte, daß die empirische Verwendungsweise des Ausdrucks „legitim“ keine normative Festlegung auf Seiten derjenigen impliziert, die ihn benutzen. Ein Anthropologe mag Normen in einer von ihr untersuchten Gesellschaft zu Recht als legitim betrachten, weil sie in der Tat die Zustimmung der Mitglieder dieser Gesellschaft finden, und zugleich selbst diese Normen für völlig inakzeptabel halten, zum Beispiel weil sie Frauen grob benachteiligen. Wer als externer Beobachter über eine Norm im empirischen Sinne sagt, sie sei legitim, sagt etwas über die normativen Überzeugungen derjenigen, auf die sich diese Norm primär bezieht. Er sagt aber nicht notwendigerweise etwas über seine eigenen normativen Überzeugungen. Ein empirisches Verständnis vorausgesetzt, sind Aussagen über die Legitimität von Normen Tatsachenbehauptungen über die mehrheitlichen subjektiven Überzeugungen von Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft. In eben diesem Sinne benutzt Weber den Ausdruck „Legitimitätsglaube“, um sich auf die subjektive psychologische Grundlage zu beziehen, die nach seiner Konzeption den entscheidenden Unterschied ausmacht zwischen einer bloßen Regularität und Zweckdienlichkeit sozialer Verhaltensmuster einerseits und einer Gesellschaftsordnung, die auf anerkannten Regeln beruht, andererseits.
Wenden wir uns nun dem normativen Legitimitätsbegriff zu, wie er etwa in den Arbeiten von Jürgen Habermas (1988) und John Rawls (1993) an zentraler Stelle auftaucht. Für ihn interessiert sich die politische Philosophie hauptsächlich. Der normative Legitimitätsbegriff zeichnet sich gegenüber dem empirischen Legitimitätsbegriff erstens durch die Annahme ‚objektiver‘ Legitimitätskriterien aus und zweitens durch die mit ihm unvermeidlich verbundenen normativen Festlegungen. Durch die normative Verwendung des Prädikats „legitim“ gibt ein Sprecher zu erkennen, daß er selbst bestimmte Normen für gut und richtig hält, weil sie aus seiner Sicht sachlichen Legitimitätskriterien, sagen wir Erfordernissen der Gerechtigkeit und der Rationalität, genügen.
Die Rede von Objektivität ist hier in einem schwachen Sinne zu verstehen. Wenn wir eine soziale Regelung im normativen Sinne als legitim bezeichnen, beziehen wir uns damit nicht lediglich auf die subjektiven Überzeugungen von Personen. Wir unterstellen vielmehr bestimmte Sachkriterien der Legitimität, deren Erfüllung unabhängig davon ist, ob wir oder andere sie für erfüllt halten. Eine Regel kann dann im normativen Sinne legitim sein, obwohl sie mehrheitlich für illegitim gehalten wird und umgekehrt. „Objektivität“ bedeutet hier aber nicht, daß bestimmte Legitimitätskriterien etwa alternativlos richtig oder wahr wären. Im Gegenteil unterscheiden sich verschiedene normative Legitimitäts¬konzeptionen eben dadurch, welche objektiven Kriterien der Legitimität sie in Anschlag bringen. Worauf es ankommt, ist lediglich, daß die Beantwortung der Frage, ob eine Norm legitim ist oder nicht, den normativen Konzeptionen zufolge keine bloße Angelegenheit subjektiver Überzeugungen ist, sondern dadurch bestimmt wird, inwieweit eine Norm zum Beispiel bestimmten Gerechtigkeits- und Rationalitätsanforderungen genügt.
Darüber hinaus impliziert der normative Legitimitätsbegriff moralische Zustimmung von Seiten derer, die den Begriff auf eine Regel oder ein System von Regeln anwenden und schließt damit eine normative Festlegung ein. Zu sagen, daß eine institutionelle Regelung im normativen Sinne legitim sei, bedeutet, öffentlich anzuerkennen, daß diese Regelung normative Autorität hat und den beteiligten Personen Verpflichtungen auferlegt. Dies ist etwas anderes als lediglich festzustellen, daß es Leute gibt, die glauben, die betreffende Regelung habe normative Autorität. Der Unterschied zwischen normativer und empirischer Legitimität ist demnach der Unterschied zwischen (a) dem zum Ausdruck Bringen einer normativen Überzeugung und der damit verbundenen Festlegung auf die normativen und logischen Konsequenzen dieser Überzeugung einerseits und (b) dem Konstatieren, daß es Leute gibt, die diese Überzeugung haben, ohne sich selbst zu der Wahrheit (oder Gültigkeit) dieser Überzeugung und ihren logischen Konsequenzen zu bekennen, andererseits.

2. Legitimität und Gerechtigkeit

Ich wende mich nun einer bestimmten normativen Konzeption von Legitimität, der kontraktualistischen Konzeption, zu und diskutiere anschließend die Beziehung zwischen den Begriffen der Gerechtigkeit und der Legitimität. Ich beginne mit der für moderne demokratische Legitimitätskonzeptionen zentralen Idee der öffentlichen Rechtfertigung von Normen, um dann die aus meiner Sicht für alles Weitere grundlegende Unterscheidung zwischen politischer Gerechtigkeit und Legitimität einzuführen.
Es gehört zum Selbstverständnis demokratischer Bür¬ger, daß sie einander als freie und gleiche Perso¬nen betrachten, die grund¬sätzlich fä¬hig und bereit sind, gemeinsamen Regeln folgend, fair zu kooperieren. Einer Person zuzumuten, Normen anzuerkennen, die ihr willkürlich oder ungerecht erschei¬nen müssen, kann allenfalls in Ausnahmesituationen zulässig sein; denn prima facie haben alle gleiche Ansprüche, in Überein¬stimmung mit ihren wohlerwogenen Überzeugungen zu leben. Die Normen einer wohlgeordneten Gesellschaft sind dem demokratischen Selbstverständnis zufolge keine Zwangsnormen, die ausschließlich wegen der mit ihnen ver¬bundenen Sanktionen befolgt werden. Sie werden im Idealfall anerkannt und geachtet, weil diejenigen, für die sie Geltung beanspruchen, dies aufgrund vernünftiger Überlegungen für gut und richtig halten. Sagen wir, die Normen einer gerechten Gesellschaft müssen idealerweise öffentlich gerechtfertigte Normen im folgenden Sinne sein: Jedes Gesellschaftsmitglied könnte sie jedem anderen gegenüber, und vor allen anderen, mit Gründen rechtfertigen, die alle Beteiligten im Lichte ihrer wohlerwogenen Überzeugungen und Interessen anerkennen können.
Eine von öffentlich gerechtfertigten Normen geordnete Gesellschaft vereint zwei bedeutende Vorzüge. Erstens ist sie eine spieltheoretisch gesehen stabile Gesellschaft, in der das sogenannte compliance-problem gelöst ist. Nicht nur haben alle Beteiligten aus ihrer Sicht gute Gründe, sich an die Regeln ihres Gemeinwesen zu halten; alle wissen dies auch voneinander, so daß niemand fürchten muß, sich wegen mangelnder Kooperation anderer durch die eigene Regelbefolgung selbst zu schaden. Zweitens versöhnen öffentlich gerechtfertigte Normen die Erfordernisse einer stabilen sozialen Ordnung – zu denen eben auch staatlicher Zwang gehört – mit der Vorstellung individueller Autonomie. Wenn die Normen einer Gesellschaft öffentlich gerechtfertigt sind, ist ihre zwangsweise Durchsetzung durch Gründe gedeckt, die alle Betroffenen im Prinzip als gute Gründe anerkennen können, auch wenn sie nicht immer in Übereinstimmung mit ihnen handeln.
Das Ideal einer durch öffentlich gerechtfertigte Grundsätze wohlge¬ordneten Gesellschaft hat, bei allen Vorzügen, die ihm als Ideal zukommen, mindestens den gravierenden Nachteil, daß seine Verwirklichung hoffnungslos utopisch erscheint. Wir müssen in pluralistischen Gesellschaften nicht nur mit harten und häufig unversöhnlichen Interessengegensätzen rechnen. Der für freiheitliche Gesellschaften charakteristische Pluralismus bedeutet allgegenwärtige – je nachdem ethisch oder religiös begründete – Meinungsverschiedenheiten darüber, welches die für ein gemein¬schaftliches Leben maßgeblichen Werte und Normen sind und durch welche Institutionen sie am besten verwirklicht werden.
Ich habe andernorts dargelegt, warum ich einen Konsens über allgemeine Grundsätze politischer und sozialer Gerechtigkeit auch in pluralistischen Gesellschaften grundsätzlich für möglich halte und brauche das nicht noch einmal aufzunehmen. Die Pointe meiner Legitimitätskonzeption liegt gerade darin, daß wir innerhalb gewisser Grenzen auch ohne ein Einverständnis über konkrete Norminhalte zu öffentlich gerechtfertigten und kollektiv verbindlichen Normen gelangen können.
‚Gerechtigkeit‘ und ‚Legitimität‘ werden, wenn es um politische Institutionen geht, oft als austauschbare Begriffe betrachtet, und dies liegt insofern nahe, als sich normativ legitime Regelungen zunächst und vor allem dadurch auszeichnen, daß sie elementaren Forderungen der politischen Gerechtigkeit genügen. Gleichwohl haben wir es mit — wenn auch verwandten — strukturell verschiedenen Begriffen zu tun. Forderungen politischer Gerechtigkeit werden durch rationale Argumentation — und nur durch rationale Argumentation — gerechtfertigt; innerhalb des kontraktualistischen Ansatzes durch ihre öffentliche Rechtfertigung mit dem Ziel eines allgemeinen Konsenses. Sollte sich nach Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, Werte und Normen zeigen, daß begründete Meinungsverschiedenheiten auch in grundlegenden Fragen der Gerechtigkeit bestehen bleiben, bliebe der normative Gehalt des politisch Gerechten aus eben diesem Grund unbestimmt, und es bliebe nur mehr die Möglichkeit, die politische Kooperation auf der Basis eines modus vivendi fortzusetzen, ohne allgemein anerkannte Gerechtigkeitsgrundsätze.
Hierin unterscheidet sich der Begriff des politisch Legitimen von dem des Gerechten. Auch dann nämlich, wenn sich öffentlich gerechtfertigte Grundsätze finden lassen, wäre es illusorisch anzunehmen, der auf sie bezogene Konsens ließe sich auf jede konkret notwendige politische Regelung übertragen. Auch unter idealen Bedingungen einer vollständig rationalen und unparteiischen Urteilsbildung bei allen Parteien müssen wir mit begründeten Meinungsverschiedenheiten darüber rechnen, wie die konkreten politischen Probleme einer Gesellschaft am gerechtesten und zweckmäßigsten zu lösen sind. Sagen wir begründete Meinungsverschiedenheiten über konkrete normative Regelungen liegen idealtypisch dann vor, wenn erstens jede der an einer Kontroverse über Normsetzungsfragen beteiligten Parteien ihre Position in kohärenter und allgemein nachvollziehbarer Weise vertreten kann, und wenn zweitens keine der beteiligten Parteien über allgemein anerkannte Argumente verfügt, die hinreichend stark wären, die Positionen der anderen als rational oder moralisch unhaltbar zu erweisen. In einer solchen Patt-Situation läßt sich die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung konkreter Normen durch den Austausch von Argumenten allein nicht mehr erfüllen, und wenn dies so ist, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als auf nicht-argumentative Formen der kollektiven Entscheidungsfindung zurückzugreifen. Die Beteiligten könnten sich zum Beispiel darauf einigen, durch Loseziehen oder Abstimmen zu entscheiden, welche der vorgeschlagenen Regelungen in Kraft treten soll. Solange die zur Entscheidungsfindung herangezogenen Verfahren zweckmäßig und hinreichend effizient sind und alle Vorschläge in fairer Weise berücksichtigen, ist dagegen nichts einzuwenden. Regelungen, die auf allgemein anerkannten nicht-argumentativen Formen der Entscheidungsfindung beruhen, können ebenso öffentlich gerechtfertigt sein wie solche, über die durch Argumentation allein ein rationaler Konsens herbeigeführt werden kann. Angesichts dessen, daß begründete Meinungsverschiedenheiten über soziale Regelungen und Normen bestehen, haben alle Beteiligten einen guten Grund, faire Verfahren als Mittel der kollektiven Entscheidungsfindung anzuerkennen und deren Resultate als normativ verbindlich zu akzeptieren. Die Idee der öffentlichen Rechtfertigung schließt demnach sowohl Formen der argumentativen als auch der nicht-argumentativen Konsensfindung in bezug auf soziale Normen und Grundsätze ein.
Daraus folgt, daß der Inhalt des politisch Legitimen nur zum Teil durch rationale Argumentation festgelegt wird. Zum größeren Teil wird er durch faktische Abstimmungsergebnisse bestimmt, mit der Konsequenz, daß es legitime Regelungen mit normativer Autorität geben kann, gegen die auf Seiten einiger Beteiligter begründete Einwände bestehen. Sie erfüllen gleichwohl die Forderung der öffentlichen Rechtfertigung, wenn das in Anspruch genommene nicht-argumentative Verfahren allen Beteiligten gegenüber fair war oder, allgemeiner gesprochen, wenn es die Forderungen der politischen Gerechtigkeit erfüllt.
Normative Legitimität, so meine These, hat, anders als Gerechtigkeit, etwas mit faktischer Herkunft oder, wenn man so will, mit Stammbäumen zu tun. Eben darin gleichen sich selbst das dynastische Legitimitätsprinzip eines Talleyrand oder Metternichs und die radikaldemokratische Legitimitätskonzeption Rousseaus: denn anders als das politisch Gerechte zieht das politisch Legitime seine spezifische normative Autorität nicht allein aus inhaltlichen Gründen, sondern aus seiner faktischen Genese in institutionalisierten Verfahren einer kollektiven und zum Teil nicht-argumentativen Entscheidungsfindung.
Faire Entscheidungsverfahren und rationale Argumentation stehen freilich nicht gleichrangig nebeneinander. Mit Blick auf die Notwendigkeit der öffentlichen Rechtfertigung von Normen besteht ein Primat der rationalen Argumentation. Ob ein bestimmtes Entscheidungsverfahren (etwa das Abstimmen nach der Mehrheitsregel) ein faires Verfahren ist oder nicht und wann seine Anwendung angemessen ist, kann selbst nicht durch Abstimmen oder Loseziehen entschieden werden. Es muß durch öffent¬liche Beratungen und den Austausch von Argumenten herausgefunden werden. Die öffentliche Rechtfertigung konkreter Regelungen mit Hilfe nicht-argumen¬tativer Verfahren kann deshalb nur dann gelingen, wenn bereits ein argumen¬tativ begründeter Konsens über die Grundsätze politischer Gerechtig¬keit besteht. Denn eben sie legen fest, welche Partizipationschancen solche Verfahren bieten und welche Kriterien der politischen Gleichheit sie erfüllen müssen, um gerechte Verfahren zu sein. Und sie regeln auch, innerhalb welcher durch individuelle Freiheitsrechte gezogenen Grenzen kollektive Entscheidungen in das Leben der Bürger eingreifen dürfen.

3. Proto-Rechte und Verfassungsrechte

Nachdem im vorigen Abschnitt die Unterscheidung zwischen politischer Gerechtigkeit und Legitimität eingeführt wurde, soll nun gezeigt werden, wie sich mit Hilfe dieser Unterscheidung ein notorisches Problem liberaler Demokratie¬- und Verfassungstheorien im Prinzip lösen läßt.
Es ist die Aufgabe der politischen Verfassung einer Gesellschaft, festzulegen, unter welchen institutionellen Bedingungen legitime politische Entscheidungen und Normen prozedural zustande kommen. Das kontraktualistische Ideal einer gerechten und legitimen politischen Ordnung wäre dann in dem Maße verwirklicht, in dem alle normativ verbindlichen Entscheidungen in Übereinstimmung mit einer Verfassung getroffen werden, deren wesentliche Inhalte öffentlich gerechtfertigt werden können. Dies in etwa ist der Inhalt des liberalen Legitimitätsprinzips von John Rawls.

Unsere Ausübung politischer Macht ist nur dann angemessen, wenn sie in Übereinstimmung mit einer Verfassung ausgeübt wird, von der man erwarten kann, daß deren Hauptbestandteile von allen Bürgern als freien und gleichberechtigten Personen angenommen werden angesichts von Prinzipien und Idealen, die für ihre gemeinsame menschliche Vernunft annehmbar sind. (Rawls 1993, 137)

Eine Schwäche des Rawls’schen Prinzips liegt darin, daß es für die Legitimierung von politischen Entscheidungen bereits eine Verfassung voraussetzt. Es bleibt deshalb offen, wie eine Verfassung selbst legitimiert werden kann. Diesen Punkt möchte ich jedoch zurückstellen, denn vordringlich stellt sich ein anderes Problem, auf das in der gegenwärtige Diskussion über die Grundlagen liberaler Verfassungsstaaten Jürgen Habermas hingewiesen hat. Es betrifft die Spannung zwischen dem Prinzip der Volkssouveränität einerseits und der Anerkennung unabhängig von diesem Prinzip geltender Grundrechte andererseits. Wenn wir mit dem mainstream der zeitgenössischen politischen Philosophie annehmen, daß der Inhalt der politischen Gerechtigkeit durch politische und liberale Grundrechte bestimmt wird, müssen wir auch annehmen, daß der materiale Gehalt dieser Grundrechte nicht Gegenstand von Abstimmungen sein kann, sondern ausschließlich durch sachlich-moralische Argumente etabliert wird. Fragen grundlegender Gerechtigkeit können, wie bereits festgestellt, nicht durch Abstimmung entschieden werden, sondern nur durch Argumentation. Dies würde jedoch bedeuten, daß die wichtigsten Inhalte der uns bekannten liberalen und demokratischen Verfassungen, in denen diese Grundrechte auftauchen, selbst dem Prozeß der demokratischen Willensbildung entzogen sind. Die „Philosophenkönige“ hätten die Verfassungsgebung gewissermaßen in ihre eigenen Hände genommen. Dem demokratischen Souverän bliebe nur mehr, die einzelgesetzlichen Details nachzuliefern. Bei Rawls wird dieses Problem besonders dringlich, weil bei ihm die von der Gerechtigkeits¬theorie benannten Grundrechte ausdrücklich selbst Verfassungsrechte sind. Dies ist mit dem Prinzip der Volkssouveränität in der Tat nur schwer zu vereinbaren. Es läuft auf eine Enteignung der dem Volk zukommenden pouvoir constituant durch die Philosophie hinaus.
Ich schlage nun vor, dieses Problem dadurch zu lösen, daß wir strikt zwischen den durch Gerechtigkeits¬grundsätze identifizierten Grund¬rechten, bei denen es sich um Proto-Rechte handelt und den in liberalen Demokratien institutionell garantierten Verfassungsrechten unterscheiden. Während die zur Gerechtigkeitstheorie gehörenden Proto-Rechte ausschließlich durch philosophische Argumentation identifiziert und begründet werden, bedürfen die spezifischeren Verfassungsrechte einer verfahrensmäßigen und namentlich einer demokratischen Legitimation. Denn jedes Proto-Recht kann durch eine unbestimmte Vielzahl konkreter Verfassungsrechte ausgestaltet werden, mit der Konsequenz, daß die öffentliche Rechtfertigung des Grundrechtskatalogs einer Verfassung die Grenzen einer rein philosophischen Argumentation überschreitet. Je nach dem historischen Kontext und je nach den Ergebnissen der die Verfassung stiftenden Prozeduren können verschiedene Völker dieselben Proto-Rechte durch verschiedene Verfassungsrechte institutionell schützen.
Proto-Rechte unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von den ihnen korrespondierenden Verfassungsrechten:
1. Proto-Rechte sind moralische und keine positiven Rechte. Qua Protorechte haben sie eine (wie man sagt) „überpositive“ Geltung unabhängig auch davon, ob sie in einer Gesellschaft mehrheitlich anerkannt werden oder nicht.
2. Ob ein Recht ein Proto-Recht ist oder nicht, ist ausschließlich eine Frage seiner inhaltlichen moralischen Begründung und vollkommen unabhängig von kollektiven Prozeduren der nicht-argumentativen Entscheidungsfindung.
3. Anders als Verfassungsrechte sind Proto-Rechte qua Proto-Rechte nicht institutionell eingebettet, wie ich es nennen möchte. Es gibt für sie keine kanonische Kodifizierung, zum Beispiel keine exklusive wörtliche Formulierung, und ihre kollektiv verbindliche Auslegung und Durchsetzung wird nicht durch einen eingesetzten Stab von autorisierten Personen besorgt.
4. Proto-Rechte sind mit Blick auf die ihnen korrespondierenden individuellen Ansprüche und Pflichten, normativen Kompetenzen, Immunitäten und Privilegien weniger spezifisch als Verfassungsrechte, so daß, je nach historischem und institutionellen Kontext, verschiedene Verfassungsrechte, etwa zur Gewährleistung der Meinungsfreiheit, als Konkretisierungen eines und desselben Proto-Rechts „Meinungsfreiheit“ aufgefaßt werden können.
Der letzte Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit. Er erlaubt es, den vermeintlichen Konflikt zwischen politischer Philosophie und Volkssouveränität aufzulösen. Wenn wir annehmen, daß Systeme von Verfassungsrechten immer spezifischer sind als die Proto-Rechte der politischen Gerechtigkeit, dann können diese Systeme nicht vollständig durch die Argumente identifiziert und gerechtfertigt werden, welche die Grundlage der Proto-Rechte darstellen. Wenn darüber hinaus alle konstitutionellen Systeme, welche die Proto-Rechte der politischen Gerechtigkeit positiv rechtlich gewährleisten, gleichermaßen gerechte Systeme sind, dann können begründete Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, welches konkrete System in einer bestimmten Gesellschaft verwirklicht werden sollte. Um einem solchen System normative Autorität zu verleihen, wird deshalb eine nicht-argumentative Methode der kollektiven Entscheidungsfindung benötigt. Und wenn wir davon ausgehen, daß freie und gleiche Bürger einen Anspruch auf gleiche Proto-Rechte der politischen Mitbestimmung haben, dürfen wir annehmen, daß eine solche nicht-argumentative Methode ein Verfahren der demokratischen Entscheidungsfindung nach der Mehrheitsregel sein wird. Doch darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen.

4. Das Verfassungsrecht der Meinungsfreiheit

Ich möchte die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Proto-Rechten und Verfassungsrechten kursorisch am Beispiel der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten und in Deutschland illustrieren.
In der amerikanischen Verfassung wird die Rede- und Pressefreiheit durch den Ersten Verfassungszusatz von 1791 in schlichten Worten und ohne Einschrän¬kung garantiert: „Congress shall make no law [...] abridging the freedom of speech, or of the press“. Die Formulierungen in Artikel 5 des Grundgesetzes von 1949 sind differenzierter. Sie spiegeln wider, welche technischen Entwicklungen die Formen des öffentlichen Austausches seit dem 18. Jahrhundert verändert haben. Artikel 5, Abs. 1, garantiert das Recht der freien Meinungsäußerung „in Wort, Schrift und Bild“, die Pressefreiheit und die Freiheit der „Berichterstattung durch Rundfunk und Film“ sowie die Freiheit, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. Das Grundgesetz garantiert diese Freiheiten auch nicht einschränkungslos. Artikel 5, Abs. 2, nennt als „Grundrechts¬schranken“ die allgemeinen Gesetze, den Schutz der Jugend und das Recht der persönlichen Ehre.
Die augenfälligen Unterschiede in den Formulierungen der beiden Verfassungstexte rechtfertigen für sich genommen keinesfalls den Schluß, in beiden Fällen werde nicht dasselbe Verfassungsrecht garantiert. Auch wenn im Ersten Verfassungszusatz noch nicht von Funk und Film die Rede ist, hat der Supreme Court der Vereinigten Staaten den Ausdruck „speech“ im 20. Jahrhundert doch stets so ausgelegt, daß Meinungsäußerungen durch Film, Funk und auch Fernsehen darunter fallen. Im Übrigen genießt die Redefreiheit auch in den Vereinigten Staaten keinen absoluten Schutz. In seiner Entscheidung im Fall Virginia vs. Black et al. (538 U.S. 1ff., 2003) urteilte der Supreme Court in Übereinstimmung mit früheren Entscheidungen, daß Meinungsäußerungen, die auf die Bedrohung und Einschüchterung von Mitbürgern zielen, keinen Schutz durch die amerikanische Verfassung genießen.
Wenn wir die Verfassungsrechte verschiedener Länder vergleichen, müssen wir über die Urkunden und Texte, in denen sie benannt werden, hinaus die durch diese Urkunden gestützten institutionellen Praktiken der Rechtssetzung, Rechtsauslegung und Rechtsdurchsetzung umfassend berücksichtigen. Wenn wir dies tun, zeigt sich, daß trotz beachtlicher Gemeinsamkeiten zwischen dem amerikanischen und dem deutschen Recht auf Meinungsfreiheit gravierende Unterschiede bestehen.
Zunächst einmal jedoch drei in unserem Zusammenhang bedeutsame Übereinstimmungen. Erstens: In beiden konstitutionellen Ordnungen nimmt die Meinungsfreiheit eine hervorragende Position ein, und ihr möglichst weitgehender Schutz wird als unverzichtbare Voraussetzung einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft betrachtet. Zweitens: In beiden Ordnungen wird die Meinungsfreiheit als notwendig für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit betrachtet und zugleich als eine notwendige Bedingung der demokratischen Selbstbestimmung eines Volkes, wobei in den Urteilsbegründungen in der Regel die Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie stärker betont wird. Drittens schließlich gilt in beiden Ordnungen, daß Einschränkungen der Meinungsfreiheit in konkreten Fällen nicht unmittelbar im Rekurs auf umstrittene Inhalte einer Meinungsäußerung begründet werden dürfen, sondern erfordern, daß die mit den Äußerungen unmittelbar verbundenen Gefahren für andere Werte von Verfassungsrang, wie etwa die öffentliche Ordnung oder (in Deutschland) die Würde des Menschen, nachgewiesen gemacht werden. Insbesondere gilt, daß Meinungsäußerungen nicht allein deshalb verboten werden dürfen, weil sie kontroverse oder regierungsfeindliche politische Auffassungen zum Ausdruck bringen.
Es sind diese Gemeinsamkeiten, die, ohne daß ich hier darauf näher eingehen würde, die Auffassung stützen, daß in den Vereinigten Staaten und in Deutschland dasselbe Proto-Recht der Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich geschützt wird. Diesen wichtigen Gemeinsamkeiten stehen jedoch zahlreiche nicht minder gewichtige Unterschiede entgegen.
Die Meinungsfreiheit führt zusammen mit der Gewissens- und Religionsfreiheit den amerikanischen Grundrechtskatalog an und wird in der ständigen Rechtssprechung des Supreme Courts klarerweise als ein höchster Verfassungswert zur Geltung gebracht. In der Ordnung des Grundgesetzes ist die Meinungsfreiheit dagegen der durch Artikel 1 geschützten Menschenwürde untergeordnet. Das Bundesverfassungsgericht betrachtet den Schutz der Meinungsfreiheit (wie übrigens den Schutz aller anderen Grundfreiheiten auch) zwar als einen Aspekt des Menschenwürdegebots; Meinungsfreiheit ist dabei aber eben nur ein Aspekt unter mehreren, und sie wird nicht selten aufgrund anderer Erwägungen der Menschenwürde, insbesondere des Ehren- und Persönlichkeitsschutzes, in Weisen eingeschränkt, die in den Vereinigten Staaten verfassungsrechtlich unzulässig wären. Das Bundesverfassungsgericht urteilte etwa 1987, daß es eine unzulässige Verletzung der Persönlichkeitsrechte des bayrischen Politikers Franz Josef Strauß sei, ihn als Schwein darstellen, das mit anderen Schweinen in Richterroben kopuliert. Nahezu zeitgleich entschied 1988 der Supreme Court dagegen in Hustler Magazin vs. Falwell (485 U.S. 46, 1988), daß eine Karikatur des politisch aktiven Geistlichen Jerry Falwell (jener Tage ein Führer der so genannten „Moralischen Mehrheit“ in den Vereinigten Staaten), in der er im betrunkenen Zustand in einem Gartenschuppen Sex mit seiner Mutter hat, eine durch die Bill of Rights geschützte Ausübung der Redefreiheit sei.
In den Vereinigten Staaten werden anders als in Deutschland inhaltlich diffamierende politische Äußerungen, solange sie nicht in böser Absicht gemacht werden, auch dann geschützt, wenn es sich um unwahre Tatsachenbehauptungen handelt. Dadurch soll, wie der Supreme Court in New York Times vs. Sullivan (376 U.S. 254, 1964) feststellte, die für eine demokratische Öffentlichkeit notwendige Kritikfähigkeit der Presse auch in Grenzfällen gewährleistet werden.
Während so etwas wie die Diffamierung von Gruppen im amerikanischen Verfassungsrecht unbekannt ist, wurde die Meinungsfreiheit durch die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts wiederholt eingeschränkt, um die Persönlichkeitsrechte der Mitglieder von Minderheiten gegen Schmähungen und Verleumdungen zu schützen, die sich nicht direkt gegen einzelne Personen und deren Rechte richten, sondern gegen Gruppen. In diesem Zusammenhang steht auch die in Deutschland verfassungskonforme Strafandrohung für den Tatbestand der „Volksverhetzung“ in § 130 des deutschen Strafgesetzbuches.
Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft die Äußerung und Verbreitung radikaler politischer Überzeugungen. Das Grundgesetz verkörpert das Konzept einer „streitbaren“ oder „wehr¬haften“ Demokratie. Nach den Erfahrungen des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Unrechts sollen sich die Freiheitsrechte des Einzelnen notfalls dem Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterordnen, wie es im sogenannten Abhörurteil des Bundesverfassungsgericht von 1970 heißt. Im amerikanischen System dagegen fallen auch „aufrührerische Verleumdung“ (seditious libel) und die Propagierung revolutionärer und subversiver Lehren unter den Schutz der Meinungsfreiheit. Ein gesetzliches oder richterliches Verbot nationalsozialistischer Propaganda, wie es in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs praktiziert wird, hätte vor dem Supreme Court der Vereinigten Staaten keinen Bestand.
Die genannten Vergleichspunkte zeigen, daß das in den Vereinigten Staaten positiv rechtlich geschützte Verfassungsrecht der Meinungsfreiheit, unangesehen der genannten Gemeinsamkeiten, offenbar nicht dasselbe Verfassungsrecht sein kann wie dasjenige, das unter demselben Titel durch das deutsche Verfassungs¬gericht geschützt wird. Denn die Mengen der Handlungen, oder besser, der Handlungstypen, die in beiden Rechtssystemen jeweils geschützt werden, sind, auch wenn sie sich in zentralen Bereichen überschneiden, nicht koextensiv. Und sie zeigen auch, in wie hohem Maße die verfassungsrechtliche Ausgestaltung proto-rechtlicher Vorstellungen der Meinungsfreiheit in den beiden Ländern von spezifischen nationalen Erfahrungen und Gegebenheiten abhängig ist.

5. Abschluß

Ohne nun auf Fragen der materialen Gerechtigkeit der amerikanischen und der deutschen Verfassung in Sachen Meinungsfreiheit im einzelnen einzugehen, scheint mir klar zu sein, daß es sich in beiden Fällen im Prinzip um gerechte Verfassungen handeln kann, obwohl mehr oder weniger offenkundig nicht dieselben Verfassungsrechte garantiert werden. Und dies wäre genau dann der Fall, wenn in beiden Fällen dieselben Proto-Rechte garantiert werden, wobei wir unter Proto-Rechten eben diejenigen Grundrechte und Freiheiten verstehen, die zur politischen Gerechtigkeit gehören und deren Inhalt argumentativ bestimmt wird und dem demokratischen Willensbildungsprozeß entzogen ist. Die zum Schutz von Proto-Rechten etablierten Verfassungsrechte dagegen bedürfen einer demokratischen Legitimation durch nicht-argumentative Abstimmungs¬verfahren. Ihre inhaltliche Ausgestaltung ist von historisch, kulturell und institutionell bestimmten Kontexten abhängig. Sie geht deshalb unvermeidlich über das hinaus, was sich allein durch universalistische moralische Argumente öffentlich rechtfertigen ließe. Anders als das politisch Gerechte ist das politisch Legitime in hohem Maße auf nicht verallgemeinerbare Kontexte bezogen und durch sie inhaltlich bestimmt. Die Antwort auf die Kritik von Jürgen Habermas am liberalen Demokratieverständnis würde demnach lauten, daß Verfassungsrechte – ebenso wie alle anderen positiven Rechte – in der Tat ihre normative Autorität erst aufgrund einer faktischen Legitimation durch den demokratischen Souverän erlangen, daß diese Legitimation aber nur unter der Bedingung zustande kommt, daß sie den universalistischen Anforderungen der proto-rechtlichen Forderungen der politischen Gerechtigkeit genügt.

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