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FORSCHUNG

Mittelalter: Streit um den Status der Theologie

 

MITTELALTER

 

Der Streit um den Status der Theologie

 

Für den Pariser Bischof Etienne Tempier hatte die geoffenbarte Wahrheit der Heiligen Schrift als Maßstab und Konvergenzpunkt aller irdischen Wahrheitsunternehmen zu gelten. Demgegenüber vertraute Boethius von Dacien allein auf die Prinzipien der natürlichen Vernunft, auf der alle wissenschaftliche Argumentation gründet. Für ihn hat sich die Theologie den Gesetzen und Prinzipien der naturwissenschaftlichen Tradition unterzuordnen, wenn sie als Wissenschaft auftreten und sich nicht auf einen Akt des Glaubens zurückziehen will.

 

Wie der Bonner Mittelalter-Experte Andreas Speer in seinem Artikel

Speer, Andreas: Doppelte Wahrheit?, in: De usu rationis. Vernunft und Offenbarung im Mittelalter. 205 S., kt., € 34.—, 2007, Con­tradictio Band 9, Königshausen und Neumann, Würzburg

 

darlegt, steht dieser Gegensatz im Zentrum eines Disputs, der das Selbstverständnis christlicher Theologie von Anfang an begleitet, aber im 13. Jahrhundert unter dem Einfluss und als Konsequenz der Aristotelesrezeption erheblich an Bedeutung gewinnt: Es stehen sich zwei „göttliche“ Wissenschaften gegenüber, die beide mit einem umfassenden theoretischen und praktischen Wahrheitsanspruch auftreten und den Primat beanspruchen. In diesem Kontext erhält die Frage nach dem epistemischen Status theologischer Argumente eine zentrale Bedeutung.

 

Boethius hielt die Glaubenswahrheiten der natürlichen Vernunft prinzipiell für zugänglich. Für ihn handelt die Theologie als ober­ste der spekulativen Wissenschaften von dem, was ohne Bewegung und abstrakt ist, er betrachtet als „Erste Philosophie“ die unbewegliche und unstoffliche Substanz Gottes. Er war davon überzeugt, Offenbarungswahrheiten in einem universalwissenschaftlichen Kontext als Vernunftwahrheiten aussagen zu können. Thomas von Aquin setzte sich in seinem Kommentar zu Boethius mit dieser Lehrmeinung ausführlich auseinander und führte dabei die Unterscheidung einer Theologie der heiligen Schrift (theologia sacra Scripturae), deren Gegenstand Gott ist, und in der er betrachtet wird, wie er in sich selbst ist, und von einer philosophischen Theologien (theologia philosophica), in der Gott betrachtet wird, wie wir ihn erkennen können, ein. In der Folge spricht Thomas in Bezug auf die Gotteserkenntnis von einem duplex modus veritatis, von einer doppelten Wahrheit hinsichtlich der Wege, die göttlichen Dinge zu erkennen: Die eine Wahrheit vermag die Vernunft durch ihr eigenes Fragen und Suchen zu erreichen, die andere aber übersteigt das Vermögen der menschlichen Vernunft.

 

Die Wahrheit des christlichen Glaubens steht damit der Wahrheit der Vernunft nicht entgegen. Maßgabe für diese Nichtwidersprüchlichkeit ist die natürliche Vernunft selbst, der auch dasjenige, was ihr Fassungsvermögen übersteigt, nicht widersprechen darf. Damit wird der Widerspruchssatz auch zum Maßstab für die Gotteserkenntnis, und zwar in beiderlei Richtung: sofern wir im Durchgang durch die geschaffenen Ursachen zur Erkenntnis Gottes aufsteigen und sofern das Glaubenswissen in Form göttlicher Offenbarung zu uns herabsteigt. Thomas versucht dieses Glaubensmodell in der berühmten ersten Quaestio seiner Summa theologiae in die Gestalt einer theologischen Wissenschaft nach dem Wissenschaftsmodell des Aristoteles zu bringen. Dabei stößt er aber auf das scheinbar unüberwindbare Dilemma, dass die Theologie einer der zentralen Forderungen der aristotelischen Wissenschaftslehre nicht zu genügen vermag: dass nämlich die Prinzipien einer Wissenschaft der natürlichen Vernunft aus sich heraus bekannt sein müssen. Seine Lösung, die Theologie denjenigen Wissenschaften zuzuordnen, die ihre Prinzipien anderen, übergeordneten Wissenschaften entlehnen, welche dieses Wissen bereitstellen und damit auch die Wissenschaftlichkeit der nachgeordneten Wissenschaft sichern, bringt einige Folgeprobleme. Die Verlagerung der Evidenz auf das Wissen der Heiligen, dem die Theologie subordiniert ist und ihre Prämissen verdankt, macht ihre Stellung im Ordnungsganzen der Wissenschaften, in welches die Theologie eingebunden werden sollte, in höchstem Maße problematisch. In Frage steht nicht mehr und nicht weniger als der Anspruch, die wahrhaft erste und göttliche Wissenschaft zu sein, kraft der Exzellenz ihres Gegenstandes und aufgrund der hervorragenden Weise, von dieser zu handeln. Thomas verteidigt diesen Anspruch unter anderem durch den Hinweis auf die Gewissheit der Offenbarung gegenüber der irrtumsbehafteten natürlichen Erkenntnis, mit Bezug auf die Würde des Erkenntnisgegenstandes sowie mit Rekurs auf die von Aristoteles unternommene Unterscheidung zwischen direktem und indirektem Beweisverfahren von Prinzipien.

Heinrich von Gent protestierte heftig gegen dieses Verfahren und löste damit die Debatte um den Status der Theologie aus. So verstanden erfülle die Theologie, so seine Kritik, eine wesentliche Bedingung des Aristoteles nicht. Denn eine Wissenschaft, die Weisheit genannt werden könne, dürfe ihre Prinzipien nicht von anderen entlehnen, vielmehr alle anderen Wissenschaften von dieser. Heinrich verlangte als Ergebnis eines präzisierten Wissensbegriffs, der die Frage der Gewissheit in den Mittelpunkt stellt, als Kriterium nicht allein die Evidenz von Prinzipien, sondern Evidenz mit Blick auf die Wissenschaft als ganzer. Er forderte einen strikten Begriff von Wissenschaft, „nicht irgendeine gewisse Erkenntnis, sondern allein eine von solchem, dessen Wahrheit dem Intellekt aus der Evidenz der Sache“ einleuchtet. Auf diese Weise erhält der Evidenzbegriff eine zentrale Rolle für das Verständnis von Wissenschaft – mit weitreichenden Folgen auch für die Theologie, der infolge eines geringeren Maßes an Evidenz aufgrund eines Mangels auf Seiten des wissendes Subjekts offensichtlich ein niedrigerer Rang als Wissenschaft droht.

 

Der genannte Pariser Bischof Tempier hat dies gesehen und am 7. März 1277 mit der Verurteilung von These 27, „dass man nichts glauben darf, das nicht evident ist oder aus Evidentem entwickelt werden kann“, darauf reagiert. Wie kann die Theologie in sich und im Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften Weisheit genannt werden, wenn es ihr doch an Evidenz mangelt, fragt Heinrich von Gent in der zentralen sechsten Quaestio des zweiten Artikels der These. Heinrich geht von der augustinischen Unterscheidung zwischen der auf das Göttliche und Ewige gerichteten Weisheit und dem auf das Menschliche und Zeitliche gerichteten Wissen aus. Er verbindet den Vorrang der Weisheit gegenüber dem Wissen mit der Frage der Gewissheit: Darin sieht er das entscheidende formale Kriterium für Vollkommenheit. Weisheit ist das Wissen, das alles übrige Wissen an Gewissheit überragt und daher als dessen Vervollkommnung gelten darf. Kein Wissen, so lautet das zentrale Argument, könne Weisheit genannt werden aufgrund der Gewissheit, die auf der Evidenz gründet, die vom erkennenden Intellekt selbst aus sich heraus mit Bezug auf die gewusste Sache hervorgebracht wird. Andernfalls wäre die Mathematik die gewisse­ste aller Wissenschaften – gewisser selbst als die Metaphysik. Die eigentliche Gewissheit bestehe vielmehr auf Seiten der gewussten Sache, in der evidentia rei, wie nämlich die ersten Prinzipien, die der Intellekt erfasst, am gewissesten sind, sofern er diese in sich selbst in ihrer Wahrheit erfasst, weil sie die ersten sind. Diese Gewissheit, die aufgrund der Wahrheit für alles übrige ist, besteht auch dann, wenn unser Intellekt ihre Evidenz nicht unmittelbar einsieht. Die Weisheit weiß anders als das Wissen um das, was das in hervorragendster Weise Gewusste und die erste Ursache von allem ist. Folglich kann allein die Theologie ungeachtet ihrer im Vergleich zu den übrigen Wissenschaften geringeren Evidenz wegen der Beschränktheit des erkennenden Intellekts Weisheit genannt werden.

 

Diese Reformulierung der augustinischen Unterscheidung führt zu einer Sonderstellung der Theologie unter den Wissenschaften: Sie übertrifft alle übrigen Wissenschaften nicht nur deshalb, weil sie alles Seiende nicht nur danach betrachtet, wie es von der ersten Wahrheit hervorgebracht worden ist, sondern auch hinsichtlich des letzten Ziels von allem, des höchsten Guten. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine spekulative Bestimmung. Die Theologie betrachtet das letzte Ziel aller Tätigkeit auch in praktischer Hinsicht, sofern alle Tätigkeit und alles praktische Wissen auf die göttliche Schau hingeordnet ist, in der die ultima beatitudo besteht.

Heinrich, der Thomas von Aquin eine unzulässige und nicht tragfähige Hilfskonstruktion vorgeworfen hatte, mit deren Hilfe er die Wissenschaftlichkeit der Theologie habe verteidigen wollen, musste sich aber von seinen Kollegen Gottfried von Fontaines und Petrus Aureoli vorwerfen lassen, er habe mit seinem lumen theologicum eine ebenfalls äußerst problematische Hilfskonstruktion gewählt, die seinem selbst gesetzten Anspruch widerstreite.