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STELLUNGNAHMEN

Christof Arn, Rouven Porz :
Klinische Ethik und Philosophie

aus Heft 4/2013, S. 40-45

In den Ethikkommissionen finden sich generell mehr Theologen als Philosophen. Woran liegt das?

Christof Arn
: Vielleicht liegt den anderen Mitgliedern der Kommission daran, dass sie mit ihren Anliegen verstanden werden. Zuhören und nachvollziehen haben im Berufsbild der Pfarrerin bzw. des Pfarrers und auch in der theologischen Ausbildung vielleicht ein größeres Gewicht; vielleicht auch: sich allgemeinverständlich ausdrücken und konkret, praktisch zu werden; ebenso, sich als gleichgestelltes Mitglied einer Gruppe zu verstehen, obwohl man über ein bestimmtes Vorwissen verfügt. Ein guter Philosoph ist hingegen möglicherweise eher nicht der, der gut zuhört, sondern der, welcher die stärkeren Argumente hat.

Die Aufgabe von Ethikgremien ist Ethiktransfer, was nochmals etwas anderes ist als die angewandte Ethik: Angewandte Ethik findet im Raum und in den Räumen der Universität statt und folgt deren Anreizen und Gesetzen. Ihre Dialogräume sind Fachtagungen, wissenschaftliche Zeitschriften und inneruniversitäre Veranstaltungen. Sollen Ethikaktivitäten außerhalb dieser Räume wirksam werden, müssen sie sich in die Logik der betreffenden berufspraktischen Alltagsfelder einfinden. Ort der Handlung werden dann Flure, Patientenzimmer, Besprechungsräume in Spitälern, Kliniken, Heimen. Dialogräume sind dann Sitzungen in stark gemischten Zusammensetzungen, Fallbesprechungen unter einem gewissen Entscheidungsdruck, allgemeinverständliche Texte in der Hauszeitung, interne Richtlinien usw.

Für die Arbeit in Ethikgremien ungeeignet wären TheologInnen, welche bestimmte «Wahrheiten» vertreten. Ungeeignet sind sie auch dann, wenn sie deren Hinterfragung zwar erlauben, wenn zugleich aber feststeht, dass sie ihre Meinung nicht ändern werden.

Auch PhilosophInnen können allerdings einer bestimmten Schule verpflichtet sein, was dann ähnliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Für die Mitarbeit in Ethikkommissionen ist generell wichtig, dass die mitwirkenden EthikerInnen nicht primär bestimmte Richtungen vertreten, weder religiöse noch «philosophische», sondern als ExpertInnen für die Methodik der wissenschaftlichen Ethik in Ethikgremien mitwirken; somit als ExpertInnen für «Reflexion von Moral», für den Prozess des kritischen Bedenkens von Werten und Normen – insbesondere dann, wenn solche miteinander in Konflikt geraten.
Wie steht es nun um genau diese Expertise bei den TheologInnen? Mir scheint, der Abschluss eines Theologiestudiums garantiere diese nicht generell. Um nach einem Theologiestudium nicht als TheologIn, sondern als EthikerIn in einem Ethikgremium mitzuwirken, braucht es eine entsprechende Weiterbildung, Spezialisierung bzw. Forschungstätigkeit. Das würde dann auch für PhilosophInnen gelten, wenn ein konkretes Philosophiestudium diese Expertise nicht vermittelt.

Rouven Porz: Mir scheint es auch so, dass sich mehr Theologen für die klinische Ethik engagieren als Philosophen. Beweisen kann ich es natürlich nicht. Natürlich muss man bedenken, dass sich klinische Ethikkommissionen in Krankenhäusern ausgebildet haben. Und in Krankenhäusern findet man eher Theologen/Seelsorger als Philosophen. Dennoch, ich habe auch generell die Vermutung, dass die Philosophinnen und Philosophen eine gewisse Skepsis gegenüber der klinischen Ethik hegen. Vielleicht empfinden sie diese als oberflächlich, unscharf oder wenig analytisch und mischen sich erst gar nicht ein. Vielleicht betrachten sie die reale Welt sogar mit einer gewissen Arroganz. Ich bedauere das sehr. Ich komme ja selbst aus der Philosophie. Es bräuchte aus meiner Sicht definitiv mehr philosophische Zugänge zur klinischen Ethik und vor allem mehr junge Philosophinnen und Philosophen in der Medizinethik.

Was ist die ideale Ausbildung eines klinischen Ethikers, und welche Rolle spielt dabei die Philosophie?

Rouven Porz
: Das wird jetzt eine sehr persönliche Antwort: Ich finde, man kann nicht gut über die Medizin nachdenken, wenn man selbst in der Medizin sozialisiert wurde, z. B. als Arzt. Deshalb wünsche ich mir generell mehr Nicht-Mediziner in der klinischen Ethik. Menschen, die sich auch mal trauen, dem Chefarzt eine kritische Frage zu stellen; Menschen, die mit den Hierarchien in einem Krankenhaus gar nicht vertraut sind und sich einfach für die kritische Analyse des Problems interessieren. Für diese fremd- und selbstkritische Rolle scheint mir die Disziplin der Philosophie gut geeignet. Ich selbst habe Biologie und Philosophie studiert. Ich empfinde meinen sowohl naturwissenschaftlichen als auch geisteswissenschaftlichen Hintergrund als sehr hilfreich. Ich verstehe die naturwissenschaftliche Sprache der Ärzte, fühle mich aber nicht in ihren Hierarchie- und Denkstrukturen gefangen.

Christof Arn: Diese Frage gehört umgestülpt: Was ist die ideale Ausbildung zur Philosophin/zum Philosophen, und welche Rolle spielt dabei die klinische Ethik? Ich meine, dass zu einer idealen Ausbildung zur Philosophin/zum Philosophen die Auseinandersetzung mit realen, aktuellen und konkreten Fragestellungen von real, aktuell und konkret lebenden Mitmenschen gehört; also z. B. ein Praktikum in klinischer Ethik, einige Einsätze in philosophischer Beratung oder in der Technikfolgenabschätzung usw.; sorgfältig reflektiert und begleitet, nahtlos ins theoretische Studium integriert.

Im Rahmen der Medizinethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften zur «Ethischen Unterstützung der Medizin» (http://samw. ch/de/Ethik/Richtlinien/Aktuell-gueltige-Richtlinien.html) haben wir uns Gedanken darüber gemacht, welche spezifischen Beiträge eine Ethikerin/ein Ethiker in ein solches Gremium einbringen soll. Genannt werden (Seiten 14−15) unter anderem:

− Kenntnis der verschiedenen Möglichkeiten der Strukturierung ethischer Reflexion in Fallsituationen und anderen konkreten Fragen;
− Erkennen der moralischen Perspektiven aller Involvierten;
− Vertrautheit mit dem ethischen Argumentieren;
− Kenntnis der wesentlichen Etappen der Geschichte der Medizinethik;
− Vertrautheit mit den früheren und aktuellen Debatten über relevante bioethische Fragestellungen;
− Pflege des Kontakts zur akademischen Forschung im Bereich der Ethik, beispielsweise mittels einer Anbindung an ein universitäres Institut für Ethik.

Auch in dieser Aufzählung fällt ins Auge: Entscheidend ist die Fähigkeit und Bereitschaft, über ein fundiertes ethisches Fachwissen nicht nur zu verfügen, sondern es in eine gemeinsame Reflexion prozessorientiert und produktiv einzubringen; sich mit diesem Fachwissen substanziell auf anstehende Fragen einzulassen.

Welche ethischen Ansätze sind für die klinische Ethik besonders geeignet?

Christof Arn: Ich gebe dem Kohärentismus den Vortritt. Durch seine horizontale und vertikale Integration kann der Kohärentismus zentrale Anliegen unterschiedlicher ethischer Schulen, Richtungen und Ansätze ebenso wie Theorie und Praxis produktiv zusammendenken. Andere können allerdings mit guten Argumenten andere ethische Ansätze vorziehen. Wichtig ist, dass man auch dem Ansatz, den man präferiert, nicht hörig wird. Das wäre dann Ideologie, statt wirklicher Philosophie oder wissenschaftlicher Theologie. Dies beziehe ich selbst auch auf meine Präferenz des Kohärentismus. Ich bin überzeugt, dass keine Theorie, kein Ansatz umfassend wahr ist, sondern jede und jeder seine blinden Flecken hat. Man muss sich für eine Herangehensweise entscheiden, und das Ergebnis wird gewinnen, wenn man auch deren Nachteile sehen kann.

Rouven Porz: Ich selbst profitiere am meisten von feministischen Zugängen zur Ethik und somit auch von der sogenannten Care Ethics. Im Vordergrund stehen hier – vereinfacht gesagt – nicht die sogenannten vier biomedizinethischen Prinzipien (Respekt vor der Patientenautonomie, Fürsorge, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit) sondern vielmehr Überlegungen zu Abhängigkeiten, Vulnerabilitäten, Verantwortung und eine genaue Analyse des Kontextes der einzelnen Situation. Leider macht diese Kontextverhaftetheit die Care Ethics etwas relativistisch, aber mir helfen diese Denkweisen in Fallbesprechungen und klinischen Problemanalysen.

Viel gelobt wird die Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress. Mit Recht?

Rouven Porz
: Das ist keine leichte Frage. Ich habe annäherungsweise zwei sich ergänzende Antwortansätze: Zum einen verhält es sich mit der Prinzipienethik aus meiner Sicht wie mit Wittgensteins Leiter. Man muss die Leiter zuerst mal hinaufgeklettert sein, bevor man sie dann aber verwerfen kann. Ich will damit sagen: man muss die Prinzipienethik zuerst einmal ganz genau studiert haben, bevor man über sie hinausklettert. Zum zweiten vermute ich, dass unheimlich viele Dozenten im medizinethischen Setting die Prinzipienethik scheinbar unterrichten, ohne selbst das Buch jemals genau gelesen zu haben. Mein Problem ist somit nicht die Prinzipienethik an sich, sondern der oft viel zu vereinfachte Weg, wie sie unterrichtet wird. Die vier Prinzipien alleine machen keinen Sinn, wenn man nicht die Überlegungen dahinter versteht (z.B. zu den Tugenden der Berufsrolle).

Christof Arn: Es gibt zum einen grundsätzliche theoretische Probleme. Beispielsweise werden Prinzipien mittlerer Reichweite mit Axiomen ethischer Schulen auf eine Ebene gestellt.

Es gibt zum anderen massive praktische Probleme: Viele der wirklichen Konflikte werden ausgeblendet, d. h. systematisch unsichtbar gemacht, wie z. B. Spannungsverhältnisse zwischen Zeitdruck und PatientInnenautonomie. Aber auch der ganze ökonomische Druck kann nicht wirklich in die vier Prinzipien übersetzt werden, und das familiäre Umfeld der PatientInnen ist als solches überwiegend ausgeblendet, um nur einige wenige blinde oder zumindest sehbehinderte Flecken des Vierprinzipienansatzes zu nennen.

Pluspunkte der Vierprinzipienethik sind die Vereinfachung und die starke Verwurzelung im medizinischen Kontext. Ich sehe diesen Ansatz aber eher als praktikables Eintrittstor, um mit Medizinerinnen ins Gebiet der Ethik einzusteigen.

Wieviel helfen die real existierenden Ethikkurse, welche in die Ausbildungen zu Arzt/ Ärztin, Pflegefachperson und anderen Medizinalberufen integriert sind, für ihren Umgang mit ethisch anspruchsvollen Situationen im Berufsalltag?

Christof Arn
: Diesbezüglich bin ich etwas unsicher. Wenn ich in Spitälern, Kliniken und Heimen im Rahmen von Ethikgremien, Arbeitsgruppen oder internen Weiterbildungen mit ÄrztInnen arbeite, nehmen diese jeweils nicht Bezug auf Ethikkompetenzen, welche sie sich während ihrer Ausbildung angeeignet hätten. Etwas eher nehme ich solche Bezugnahmen bei Pflegefachpersonen wahr.

Wichtig ist in der Aus-, Fort- und Weiterbildung in Ethik generell, eine ethische Reflexion von eigenen ethisch dilemmatischen Fragen der Studierenden bzw. Teilnehmenden zu stimulieren und individuell zu begleiten. Nur so entsteht ein Ethikwissen, das dann, wenn es gebraucht wird, real nutzbar ist und zudem in heiklen Situationen automatisch aktualisiert wird. «Abfragbares Wissen», also «deklaratives Wissen», wie es in Modulen in Studiengängen leider oft produziert wird, ist in der Regel ein sogenanntes «träges Wissen», d. h. Wissen, das zwar abrufbar ist, aber faktisch irrelevant bleibt.

Rouven Porz: Meine Antwort ist wieder sehr persönlich: Alle diese Kurse helfen nur dann, wenn es der Lehrperson gelingt, dass der Funke der Ethik überspringt. Es nützt nichts, nur die Prinzipienethik zu vermitteln, oder gar Entscheidungsfindungsmodelle durchzuexerzieren, wenn bei den Pflegenden oder Ärzten kein Interesse für die Sinnfragen geweckt werden kann. Aber mit dieser Forderung nach gutem Ethikunterricht bin ich als ehemaliger Ethiklehrer im Saarland natürlich auch stark in meiner eigenen Sozialisation verhaftet. Nach wie vor bereitet mir der Unterricht in meiner ganzen Arbeit allerdings am meisten Freude, und ich unterrichte sehr viel bei Pflegenden, Physiotherapeuten und Medizinstudenten. Ich hoffe, dass der Funke manchmal überspringt.

Was leisten klinische Ethik-Kommissionen: Konsultationen, Unterstützungen, Argumente oder gar Lösungen?

Rouven Porz
: Am meisten leisten sie aus meiner Sicht zurzeit noch rein „symbolisch“: Sie zeigen, dass es in der jeweiligen medizinischen Institution (in der ein Ethiker arbeitet oder eine Ethikkommission aktiv ist) offiziell erlaubt ist, über ethische Fragen nachdenken zu dürfen. Das ist schon sehr viel. Wie dieses Nachdenken dann erfolgt, ist aus meiner Sicht zweitrangig. Vielleicht können schwierige Fälle nachbesprochen werden, vielleicht können Richtlinien zu ethisch-unklaren Berufspraktiken entwickelt werden, vielleicht kann auch die Geschäftsleitung beraten werden. Wichtig ist aber, dass die Mitarbeiter der Ethikstruktur es ernst meinen. Sobald die anderen Krankenhaus-Mitarbeitenden merken, dass die Kommission z. B. vielleicht nur ein unnützes Feigenblatt ist, dann schadet die Ethikkommission dem kritisch-ethischen Gedanken mehr als das sie nutzt.

Christof Arn: Nach reiflicher Überlegung haben wir in den genannten Richtlinien zur ethischen Unterstützung die Aufgaben von Ethikgremien (Seiten 10−11) gegliedert in:

- Unterstützung für alle Mitarbeitenden bzw. alle Teams bei anstehenden Einzelfallentscheidungen
- Erstellen von Ethikleitlinien zu bestimmten Fragen/Themen
- Gestaltung von Aus-, Weiter- und Fortbildung in Ethik innerhalb der jeweiligen Institution

Dabei kommen sowohl Konsultationen, Unterstützungen, Argumente oder gar Lösungen in Frage, letzteres allerdings primär in der Mehrzahl: die Entwicklungen von Lösungen, welche als Varianten vorgelegt werden, je mit einer kritischen ethischen Reflexion dazu. Die Entscheidung, welche dieser Lösungen umgesetzt wird, liegt beim Behandlungsteam bzw. bei der behandelnden Ärztin/beim behandelnden Arzt; bzw., wenn es um einen Therapieentscheid geht, bei der Patientin/ beim Patienten oder allenfalls bei Angehörigen. Und: Über die Gültigkeit von Richtlinien muss letztlich z. B. die Spitalleitung bzw. generell das entsprechende zuständige Führungsgremium entscheiden. Man kann es nicht genügend oft und nachdrücklich sagen: Die Aufgabe von Ethikgremien ist die ethische Reflexion, nicht die Durchsetzung von bestimmten Normen. Die Macht der Ethik ist die Überzeugungskraft der Argumente. Diese Kraft wird geschwächt, je mehr institutionelle Macht eine Ethikgremium bzw. eine klinische Ethikerin/ein klinischer Ethiker erhält.

Zudem muss das Ziel sein, diese ethische Reflexion in den Händen derjenigen zu lassen und zu stärken, die die entsprechenden Entscheide zu fällen und zu verantworten haben. Die ethische Reflexion der Entscheidungen und Handlungen der Behandlungsteams gehört in die Behandlungsteams. Es ist besser, wenn ein Ethikgremium FachmoderatorInnen ausbildet und in Teams entsendet, um dort eine anstehende ethische Reflexion konkret zu begleiten, beispielsweise im Rahmen einer ein- bis zweistündigen ethischen Fallbesprechung. Schlechter ist es, wenn die Fallbeschreibung ans Ethikgremium geht und dieses dann eine Reflexion vornimmt, um dann «Resultate» zurückzumelden. Eine Auslagerung der ethischen Reflexion quasi aus der Tätigkeit der Mitarbeitenden hinaus in ein Spezialgremium wäre eine unzulässige Verantwortungsdelegation. Sinn machen Fallbearbeitungen im Ethikgremium hingegen als Weiterbildung und als Form kontinuierlichen Praxiskontakts für das Ethikgremium selbst.

Wünschenswert, ja eigentlich unverzichtbar, aber selten realisiert, wäre, wenn konkrete Ergebnisse der Arbeit wie z. B. entwickelte Richtlinien oder auch exemplarische Ergebnisse von Fallbesprechungen wieder in den wissenschaftlichen Diskurs zurückfließen würden. Dieser könnte von der konkreten Arbeit profitieren, vor allem aber gäbe es einen fachlichen Gegentest für die Arbeit des jeweiligen Ethikgremiums. Im Falle etwa von Richtlinien, die typischerweise von der Spital-, Klinik- bzw. Heimleitung beschlossen werden, würde zudem auch diese Führungsgremien ein interessantes Feedback erhalten.

Wann wird klinische Ethik gebraucht?

Christof Arn: Diese Frage kann zweierlei meinen: a) «Wann wird klinische Ethikunterstützung in Anspruch genommen?» Oder: b) «Wann wäre klinische Ethik vonnöten?»

Ad a): Einerseits, wenn in Behandlungsteams in einer konkreten Frage unterschiedliche Positionen bestehen, und zwar so, dass in den Augen der potenziell im Team unterlegenen Fraktion Grundsatzfragen tangiert sind. Andererseits, wenn in einem Behandlungsteam (oder bei einer einzelnen Mitarbeiterin/einem einzelnen Mitarbeiter) eine Art Ratlosigkeit, eine grundlegende Unsicherheit in einer konkreten Situation entsteht. Weiter wird oft von der Leitung der Organisation oder vom Ethikgremium selbst eine Auseinandersetzung mit Grundsatzfragen, wie z. B. Fixation angeregt, deren Resultate sich dann in einer ethischen Leitlinie niederschlagen können.

Ad b): Vonnöten wäre zudem und ganz besonders: eine intensive ethische Reflexion von Organisationsdynamiken der Verrechtlichung, der Ökonomisierung, der Überadministration und der Verantwortungsdiffusion. Die Dynamik der Verrechtlichung bewirkt unter anderem, dass die an sich ethisch motivierte Idee des informed consent zur rechtlichen Absicherung der Institution gegen straf- und zivilrechtliche Klagen von PatientInnen degeneriert. Die Ökonomisierung mündet unter anderem in Erhebung von Kennzahlen für Spitalrankings, zu denen Sterbezahlen in einer solchen Art und Weise gehören, dass man aus Reputationsgründen geneigt ist, Menschen am Leben zu erhalten, jenseits der Frage, ob das im konkreten Fall richtig ist. Die Überadministration besteht etwa in immer detaillierterer Leistungserfassung, teilweise mit neuem elektronischem Gerät und so viel zusätzlichem Zeitaufwand, dass deswegen (!) teilweise Stellenprozente erhöht werden, öfter aber die Ressourcen einfach bei der Kerntätigkeit einzusparen sind. Der Verantwortungsdiffusion versucht man heute über Qualitätsmanagementsysteme wieder Herr zu werden – ein reichlich fragwürdiger Ersatz dafür, dass sich irgendjemand Bestimmtes von den tatsächlich mit der Behandlung befassten Personen persönlich dafür verantwortlich sähe, wie eine konkrete Patientin/ein konkreter Patient ihren/seinen Aufenthalt subjektiv erlebt hat.

Damit sind lauter Elemente der Organisationsstruktur angesprochen, die als solche einer kritischen ethischen Reflexion zugänglich gemacht werden sollten.

Rouven Porz: Man kann das mit einer Fußball-Analogie erklären: Die klinische Ethik ist im akuten klinischen Kontext ein Auswechselspieler, den man dann einwechseln kann, wenn Werte in Gefahr sind. Er (oder sie) ist ein Spezialist für Problem, Grenz- und/oder Dilemma-Situationen. Generell müsste jeder Spieler auf dem Feld (jeder Arzt, jede Pflegende) in der Lage sein, diese Situationen aus ihrer Berufsrolle heraus zu bewältigen, aber manchmal braucht man in der 82. Minute auch jemand mit einem frischen Blick von außen.

Angewandte Ethik in Form von Ethikgremien und Ethikberatung ist momentan groß im Trend. Bringt das nicht auch Gefahren mit sich?

Rouven Porz
: Es bringt mit Sicherheit falsche Erwartungen mit sich. Ein Einwechselspieler kann allein kein Spiel gewinnen (um bei der Analogie zu bleiben). Die Verantwortung bleibt beim ganzen Team. Deshalb wäre es aus meiner Sicht vollkommen falsch, wenn man meint, die Ethik könne die Verantwortung für schwierige Entscheidungen übernehmen. Ethik kann gut mitdenken, analysieren, das ist ihre Expertise. Somit trägt sie in schwierigen Problemsituationen Verantwortung für den Denkprozess und für die Analyse der Argumente und Begründungen. Die Ethik trägt aber nicht die Verantwortung für die letztliche Entscheidung (z. B. bei einem Therapieabbruch).

Christian Arn: Zur Zeit befinden wir uns in einem ausgeprägten Trend zur Überadministration. Es ist wichtig, diesen Trend vom Trend zur Ökonomisierung zu unterscheiden. Denn die Überadministration ist unökonomisch: Der Aufwand kostet, und die Motivation und damit die Produktivität der Fachpersonen wird nachhaltig beeinträchtigt. Flussdiagramme in Massen, ordnerweise Ablaufbeschreibungen, Formulare sogar für die interne Kommunikation, Kostenverrechnungen ins Büro nebenan prägen den Alltag im Gesundheitssystem, Bildungssystem, öffentlicher Verwaltung zunehmend. Ethikgremien haben nun das Potenzial, die Organisation ausgehend von konkreten Fragestellungen zurück zu ihrer eigentlichen Aufgabe zu bringen und Formalismen wirksam zu überwinden. Die Gefahr wäre, dass Ethikgremien selbst auch zu Hütern von Abläufen werden, Papiere produzieren und zu einem formalistischen Faktor im Rahmen von Qualitätsmanagement und Zertifizierungsprozessen verkommen.

Leider fokussiert die wissenschaftliche Ethik typischerweise entweder auf den Handlungsspielraum der Individuen oder unter dem Label «Sozialethik» bzw. «politische Ethik» auf die Gestaltung des Zusammenlebens auf der Ebene der Gesamtgesellschaft. Die enorme Bedeutung, welche die zwischen diesen beiden Ebenen anzusiedelnde Ebene der Organisationen – Firmen, Branchenverbände, NGOs, Holdings, Bildungsinstitutionen usw. – in unserer Gesellschaft hat, bleibt damit vom wissenschaftlichen ethischen Diskurs schlecht erfasst. Im Forschungsprojekt «Ethiktransfer» wurde eine theoretische Basis entwickelt, welche die Methodik der ethischen Reflexion auf dieser Ebene auf eine stabilere Grundlage stellen kann.

UNSERE AUTOREN:

Dr. Dr. Christof Arn, Prof. FH, arbeitet als selbständiger Ethiker kontinuierlich für zahlreiche Spitäler, Kliniken und Heime sowie für verschiedene Fachhochschulen der Deutschschweiz in der Aus- und Weiterbildung.
Dr. phil. Rouven Porz, dipl. biol, AdL, ist der Leiter der Fachstelle für klinische Ethik im Universitätskrankenhaus Bern, dem „Inselspital“. Er ist außerdem der Generalsekretär der europäischen Medizinethik-Gesellschaft EACME (European Association of Centres of Medical Ethics).