PhilosophiePhilosophie

FORSCHUNG

Praktische Philosophie:

PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

 Peter Stemmer legt eine Ontologie der Normativität vor

 Die Ontologie des Normativen ist in vielerlei Hinsicht rätselhaft. So ist die normative Realität allem Anschein nach unsichtbar. Hinzu kommt ein Paradox:

Wenn man vor einer Ampel anhalten muss, muss man zweifellos vor einer Ampel anhalten. Man kann aber auch durchfahren. Um Ordnung in dieser Problematik zu schaffen, legt der in Konstanz lehrende Peter Stemmer eine Ontologie der Normativität vor:

 Stemmer, Peter: Normativität. Eine ontologische Untersuchung. 370 S., kt., € 19.85, 2008, de Gruyter, Berlin.

Dabei stellt er eingangs vier Merkmale des normativen Müssens fest: Es ist ein praktisches Müssen, sein Gegenstand sind Handlungen. Es lässt immer zu, dass man anders als „gemusst“ handelt. Es ist immer ontologisch subjektiv: Seine Existenz ist vom Denken, Fühlen, Wollen der Menschen (oder auch anderer Lebewesen) abhängig. Es kommt, viertens, hinzu, dass das normative Müssen mit einem Handlungsdruck verbunden ist. Dieser Handlungsdruck ist es, der es zu einem normativen Müssen macht.

 Drei Arten des Müssens

Stemmer unterscheidet drei Arten des Müssens:

Das naturgesetzliche Müssen ist mit den Naturgesetzen gegeben. Wenn der Wind eine bestimmte Stärke erreicht hat, muss die alte Buche am Ufer abknicken. Das naturgesetzliche Müssen existiert unabhängig von einem Betrachter und ist ontologisch objektiv. Es hat zwei Varianten: das Müssen der notwendigen Folge und das Müssen der notwendigen Bedingung. Ein Ereignis hat notwendige Folgen, und es hat notwendige Bedingungen, beides aufgrund von Naturgesetzen. Das Müssen der notwendigen Bedingungen findet sich nicht nur in der Natur, sondern auch in anderen, z.B. technischen oder institutionellen Kontexten.  Auch können menschliche Handlungen notwendige Bedingungen für das Eintreten von Naturgeschehnissen sein. So sind Artefakte eigens so konstruiert und hergestellt, dass ein Müssen entsteht: Ihre „Schöpfer“ gebrauchen die Naturgesetze, um durch geeignete Arrangements künstlich ein Müssen der notwendigen Bedingung herzustellen. Man muss, damit die Waschmaschine läuft, den Einschaltknopf drücken

Das logische Müssen. Wenn alle Griechen Menschen sind und alle Menschen sterblich, müssen alle Griechen sterblich sein.

Das normative Müssen kennt verschiedene Arten. Eine ist, wie Kant es nennt, der hypothetische Imperativ: „Wenn du Erfolg haben willst, musst du das-und-das tun“. Eine andere Art ist das Müssen, das mit einer Norm in die Welt kommt. Wo eine Norm    existiert, müssen Adressaten etwas tun oder unterlassen (Stemmer spricht hier vom normgenerierten Müssen). Damit verwandt, aber doch von eigener Art sind Spielregeln. Eine weitere, wichtige Art des normativen Müssens ist das moralische Müssen.

 

Wie entsteht Normativität?

 Was muss zum Müssen der notwendigen Bedingung hinzukommen, dass Normativität entsteht? Für Stemmer entsteht der Handlungsdruck, der das normative Müssen ausmacht, wenn eine stillschweigend gemachte Voraussetzung erfüllt ist: Das x-tun von a muss eine notwendige Bedingung für das Eintreten von y sein, die auch hinreichend oder zumindest unter den gegebenen Umständen hinreichend ist. Das heißt, das Nicht-Tun von x muss die Folge haben, dass y nicht geschieht, und das Tun von x muss, eventuell zusammen mit anderen gegebenen Fakten, die Folge haben, dass y geschieht.

Ein normatives Wissen ist also ein praktisches Müssen der notwendigen Bedingung, das in zweifacher Weise spezifiziert ist: Es ist ein Müssen der Art, bei dem erstens die Bedingung zugleich hinreichend ist, und bei der zweitens, der, der muss, das will, wofür seine Handlung eine notwendige Bedingung ist

Normativität entsteht also aus dem Zusammenkommen von Elementen, die selbst nicht normativ sind. Es ist Stemmer zufolge völlig falsch (wie die Philosophen es in der Regel tun), mit der Entgegensetzung von Faktischem und Normativem, von Sein und Sollen (bzw. Müssen) zu operieren und anzunehmen, dass zwischen dem Normativen und dem Nicht-Normativen eine unüberwindliche ontologische Kluft liege und deshalb aus nicht-normativen Elementen niemals Normativität entstehen könne. Für Stemmen bestehen alle Formen der normativen Wirklichkeit aus zwei Bauelementen: aus einem Müssen der notwendigen Bedingung und einem Wollen.

Häufig wird auch die Ansicht vertreten, dass das Modalverb „sollen“ das Vorliegen einer normativen Situation zum Ausdruck bringe. Eine normative Situation sei deshalb eine Situation des Sollens. Auch diese Ansicht hält Stemmer für verfehlt.

 Das rationale Müssen

 Für die Rationalität einer Person sind zwei Elemente wesentlich. Zum einen ist eine Person umso rationaler, je besser sie ihre Fähigkeiten zum Überlegen gebrauchen weiß und je verlässlicher sie als Ergebnis ihres Überlegens erkennt, wie die Welt beschaffen ist, und welche Handlungen zu tun sind. Stemmer nennt dies deliberative Rationalität. Zum anderen ist eine Person umso rationaler, je verlässlicher sie sich durch das, was sie erkennt, in ihrem Handeln bestimmen lässt und tatsächlich das tut, was sie tun muss (exekutive Rationalität). Irrational ist entsprechend, wer beim Überlegen Fehler macht oder erst gar nicht überlegt oder das Überlegen abbricht und wer zwar überlegt und richtig      überlegt, dann aber, aus welchen Gründen auch immer, anders handelt.

 Da sich das Rational-Sein aus zwei Elementen zusammensetzt, gilt dies auch für das rationale Müssen. A muss das intellektuell-deliberative Element der Rationalität realisieren, und er muss die Handlung, von der er erkennt, dass er sie tun muss, auch tatsächlich tun. Beide Teile zusammengenommen ergibt sich dann, dass a, um sich insgesamt rational zu verhalten, in dieser Situation x tun muss. Damit zeigt sich, dass das rationale Müssen in ein normales Müssen der notwendigen Bedingung ist: Das x-Tun von a ist   eine notwendige Bedingung dafür, dass a sich (in dieser Situation) rational verhält. Für Stemmer ist das rationale Müssen neben dem normativen Müssen, eine eigene Art des Müssens. Die Rationalität dient dazu, auf die normative Situation in Deliberation und Handlung angemessen zu reagieren.

 

Wollen

In welchem Sinne kann man von einem Wollen sagen, es sei rational oder irrational? Misslingt die Komparation und Koordinierung des Wollens, hat das Inkonsistenzen im Set der Wollenszustände zur Folge. Ein Wollen passt nicht zum anderen. Das ist eine Form der Irrationalität. Ein Wollen kann aber auch dadurch irrational sein, das man nicht hinreichend darüber nachgedacht hat, was man will und wie das, was man will, in Wirklichkeit ist. Dem Wollen fehlt es an kognitiver Einbettung. Das zeigt Stemmer zufolge, dass man ein Wollen nur anhand von  Gesichtspunkten kritisieren kann, die der Wollende selbst anerkennt.

 

Gründe

Wer über Normativität spricht, muss über Gründe sprechen. Darüber herrscht in der praktischen Philosophie Konsens. Gründe zwingen und nötigen zu bestimmten Handlungen; sie schaffen oder bedeuten die Notwendigkeit, etwas zu tun. Mit ihnen ist ein normatives Müssen aufgegeben. Aber was sind Gründe – und speziell Handlungsgründe – genau? Für Stemmer wird ein Grund aus einem Wollen und einem Müssen der notwendigen Bedingung konstituiert. Würde Paula ihre Eltern nicht abholen wollen, gäbe es für sie keinen Grund, zum Bahnhof zu gehen. Und wenn sie dafür, ihre Eltern abzuholen, nicht zum Bahnhof gehen müsste, gäbe es für sie ebenfalls keinen Grund, zum Bahnhof zu gehen. Paula geht zum Bahnhof, weil sie meint, um ihre Eltern abzuholen, müsse sie zum Bahnhof gehen. Das Zum- Bahnhof-Gehen ist eine notwendige Bedingung dafür, die Eltern abzuholen. Stemmer weicht hier von der  Standard-Interpretation von Gründen ab. Danach ist nämlich die Tatsache, dass Paula meint, das Zum-Bahnhof-Gehen sei eine notwendige Bedingung, der zweite Teilgrund. Dies ist aber keine Aussage über das Zum-Bahnhof-Gehen, sondern über Paula und einen ihrer mentalen Zustände. Die Meinung kann falsch sein, ohne dass sich an der Tatsache, dass Paula diese Meinung hat, etwas ändert. Wer hier von einem Grund spricht, führt Stemmer zufolge unter der Hand einen anderen Begriff des Grundes ein. Ein Grund ist dann nicht etwas, das dafür (oder dagegen) spricht, etwas zu tun. Hier werden zwei Relationen vermischt, die Relation des Sprechens-für und eine zweite, ganz andere Relation.

 Man muss unterscheiden zwischen dem, was Paula bewegt, zum Bahnhof zu gehen, und dem was erklärt, dass sie es tut, und dem, was wirklich dafür spricht, zum Bahnhof zu gehen. Man kann diesen Unterschied markieren, indem man von motivierenden und explanatorischen Gründen spricht. Die Standard-Interpretation führt Stemmer zufolge zu einer fehlgehenden Verdoppelung von Gründen und führt einen neuen Sinn von „Grund“ ein. Es gibt aber nur einen Grund, der dafür spricht, dass Paula zum Bahnhof geht. Und die Voraussetzung dafür, dass sie aus diesem Grund zum Bahnhof geht, ist, dass sie ihn   epistemisch repräsentiert und dadurch motivational wirksam macht.

   Gründe schaffen ein normatives Müssen und kein naturgesetzlich determiniertes Müssen. Deshalb darf es nicht irritieren, dass die Existenz eines Grundes die notwendige Handlung nicht notwendig nach sich zieht. Die Existenz eines Grundes ist kausal nicht hinreichend für den Vollzug des begründeten Handelns.

Wenn die Eltern erst morgen kommen, Paula aber meint, sie kämen heute und deshalb zum Bahnhof geht, liegt ein Scheingrund vor: ein Grund, den es nicht gibt, von dem sie aber meint, es gebe ihn. Diese Art der Erklärung ist die der Erklärung der Gründe. Deshalb kann Stemmer sagen: Wenn wir nach der Erklärung einer Handlung fragen, erwarten wir, weil vor dem Explanandum ein Raum der Überlegung liegt, eine Erklärung durch Gründe oder Scheingründe. In beiden Fällen wird auf Faktoren verwiesen, die die Handlung nicht kausal determinieren.

Ein normatives Müssen besteht also aus einem Wollen und einem Müssen der notwendigen Bedingung. Und: Wo ein normatives Müssen ist, ist ein Grund und umgekehrt. Gründe sind normativ, weil, dass für a ein Grund besteht, x zu tun, bedeutet, dass ein normatives Wissen besteht, das a dazu nötigt, x zu tun. Der normative Druck, der Handlungsdruck, resultiert daraus, dass der, der gegen den Grund handelt, hinnehmen muss, dass etwas von ihm Gewolltes nicht geschieht.

Weitere Charakteristika von Gründen sind:

-         Es können mehre Gründe für und mehrere gegen eine Handlung sprechen. Alle diese Gründe sind pro-tanto-Gründe, keiner von ihnen gibt den Ausschlag.

-         Gründe sind verschieden stark, der   eine ist stärker als der andere.

-         Gründe sind, weil sie wollensrelativ sind, immer personenrelativ und deshalb individuell.

 

Da Gründe als Baustein ein Wollen enthalten, sind sie ontologisch subjektiv. Denkt man das Wollen weg, gibt es keine Gründe.

 

Künstliche Gründe

 

Gründe künstlich zu schaffen und damit eine künstliche Normativität zu kreieren, ist als Instrument der Machtausübung eine beinahe allgegenwärtige Realität. Eine Sanktion entspricht genau den Konstituentien eines Grundes: Sie ist zum einen eine Konsequenz, die einer Handlung unvermeidlich folgt. Weswegen das Unterlassen dieser Handlung eine notwendige Bedingung für das Vermeiden der Sanktion ist. Und weil eine Sanktion nicht eine natürliche Folge einer Handlung ist, sondern etwas, was durch menschliches Handeln und mit einer bestimmten Absicht mit Handlungen künstlich verknüpft wird, kann man auch sagen: Wo eine Sanktion, da ein künstlicher Grund. Neben negativen gibt es natürlich auch positive Sanktionen, und die Gründe bestehen in beiden Fällen aus denselben Bauelementen. Für den, der die Sanktion setzt, hat der Einsatz negativer Sanktionen allerdings einen großen Vorteil: Er braucht, wenn der andere sich unter dem Druck der Sanktion wie gewünscht verhält, nichts zu tun. Für Stemmer der entscheidende Grund, dass man normalerweise die Strategie der negativen Sanktion wählt.

 

Normen

 

Eine Norm besteht aus einem Müssen der notwendigen Bedingung und einem Wollen. Dabei ist das Müssen der notwendigen Bedingung künstlich durch eine Sanktion, also mit der Intention der Handlungssteuerung, geschaffen. Das normgenerierte Müssen ist also ein sanktionskonstituiertes Müssen und zwar eine besondere Art dieses Müssens, nämlich ein an eine Allgemeinheit adressiertes, sanktionskonstituiertes Müssen. Das ist nicht überraschend, da ja Normen Instrumente der Handlungssteuerung sind.

Aufgrund des personalen Ursprungs einer Norm spricht man, genau wie bei einem Gesetz, davon, dass eine Norm etwas gebietet oder verbietet.

 

Die Elemente, aus denen eine Norm besteht, sind für sich genommen nicht normativ. Der künstlich hergestellte Nexus von Handlung und Konsequenz ist nichts Normatives. Es ist einfach so, dass eine Handlung eine bestimmte Konsequenz nach sich zieht und dass man sie folglich unterlassen muss dafür, dass die Konsequenz ausbleibt. Daraus ergibt sich, dass Normen empirische Phänomene sind. Sowohl das Müssen der notwendigen Bedingung wie auch das Wollen der Betroffenen sind grundsätzlich empirisch fassbar. Normen sind des weiteren immer ontologisch subjektiv. Sie enthalten mit dem Wollen immer eine mentale Komponente. Aber Normen sind keine psychischen Zustände, auch nichts Sprachliches, und sie sind auch kein bestimmtes Verhalten. Normen sind soziale Regeln, die durch Sanktionen konstituiert sind. Dies unterscheidet sie von den verwandten, aber andersartigen Phänomenen der Konventionen und Standards. Eine Konvention ist ein konditioniertes Verhalten, das aus dem gemeinsamen Interesse einer Gruppe an der Koordination ihres Verhaltens entsteht – eine Norm hingegen ist keineswegs konditioniert.

 

Eine Norm, die die Macht verleiht, Normen zu geben, ist eine Ermächtigungsnorm. Damit man sieht, dass jemand diese Macht hat, bedarf es eines Terminus, mit dem der Status sprachlich repräsentiert wird. Dieser Terminus ist in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich, er geht von Hauptmann über Meister bis hin zu Direktor. Die Macht eines solchen Superiors ist jedoch begrenzt, sein Wollen gilt nur innerhalb bestimmter Bereiche. Mit Ermächtigungsnormen entstehen aber auch Hierarchien, und dahinter steht eine Sanktionsmacht, die die künstlichen Verbindungen von bestimmten Handlungen mit Konsequenzen schafft.

 

Pflicht

 

Eine Norm schränkt die eigene Freiheit ein. Sie ist eine Schranke, man stößt mit ihr auf die Macht eines anderen. Im Prinzip ist die Norm unmoralisch und nur in besonderen Fällen gerechtfertigt und legitim, das heißt moralisch in Ordnung. Normen sind in einer Welt, in es unmoralisch ist, andere zu unterdrücken, rechtfertigungs- und legitimationsbedürftig. Und dies ist, das wird oft nicht deutlich gesehen, ein moralisches Erfordernis. Wir können deshalb zwischen Normen, die moralisch in Ordnung sind, und solchen, die es nicht sind, unterscheiden: die einen Normen sind verpflichtend, die anderen erpresserisch. Das zu tun, was eine legitime Ordnung gebietet, ist eine Pflicht.

 

Mit seiner Konzeption des moralischen Müssens wendet sich Stemmer explizit gegen zwei in der Geschichte der Philosophie dominierende Konzeptionen:

Zum einen gegen die objektivistische Konzeption, die annimmt, es gebe in der Natur, in der von uns unabhängigen Welt ein moralisches Müssen. Zum anderen gegen die Konzeption Kants, die annimmt, das normative Müssen sei kategorisch, d.h. wollensunabhängig.