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ESSAY

Rehbock, Theda: Menschenwürde und Bioethik. Metaphysisch-konservative versus empirisch-liberale Position

 Der Verfasser des bis vor kurzem maßgeblichen Kommentars zu Artikel 1 des Grundgesetzes, Günter Dürig, schreibt:

„Die normative Aussage des objektiven Verfassungsrechts, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, beinhaltet eine Wertaussage, der ihrerseits aber eine Aussage über eine Seinsgegebenheit zugrunde liegt. Diese Seinsgegebenheit, die unabhängig von Zeit und Raum ‚ist’ und rechtlich verwirklicht werden ‚soll’, besteht in folgendem: Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“ (Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 81, 1956, S. 117-157)

Das bedeutet Dürig zufolge, dass die Würde uneingeschränkt jedem Menschen in jeder denkbaren Lebenslage zukommt, unabhängig von seinen aktuellen Fähigkeiten. Als Beispiele nennt Dürig den Geisteskranken, der diese Fähigkeit „von vornherein nicht hat“; den Verbrecher, der seine Freiheit missbraucht; den Menschen, der mit der Verletzung seiner Würde sich einverstanden erklärt; den noch nicht geborenen und den verstorbenen Menschen; sowie auch den Menschen, der die Verletzung seiner Würde gar nicht bewusst erleidet, wie etwa der schmerzlos getötete Geisteskranke.

Die so verstandene Würde ist in bio- und medizinethischen Debatten Grundlage einer Position, die sich als „metaphysisch-konservativ“ bezeichnen lässt. „Metaphysisch“, sofern hier a priori, unabhängig von empirischen Gegebenheiten, personale Wesensmerkmale zugesprochen werden, „unabhängig von Zeit und Raum“, wie Dürig sagt. Diese metaphysische Anthropologie geht häufig auch mit einem theologischen Rekurs auf die Gottesebenbildlichkeit einher. Als „konservativ“ lässt sich diese Position bezeichnen, sofern daraus im allgemeinen eine ziemlich rigorose Ablehnung medizinischer Praktiken resultiert, wie etwa Abtreibung, aktive Sterbehilfe, Forschung an Embryonen, künstliche Reproduktion, Klonen oder Präimplantationsdiagnostik.

Diese Auffassung der Menschenwürde stößt auf entschiedenen Widerspruch. Umstritten ist insbesondere die Anwendbarkeit des Würdebegriffs in Grenzsituationen am Beginn und am Ende des Lebens. Wie soll es sinnvoll möglich sein, die Achtung der Würde von Menschen zu fordern, die noch nicht oder nicht mehr über die personalen Eigenschaften verfügen, auf welche die Würde sich gründet, wie etwa im Falle von Embryonen oder Verstorbenen? Mit dieser Infragestellung der Unantastbarkeit verbinden sich grundsätzliche Einwände gegen die metaphysische Begründung. Die wichtigsten Einwände lauten:

- Wird die Menschenwürde christlich-theologisch begründet, so ist diese Begründung für eine säkulare Gesellschaft unbrauchbar, in der nur eine wissenschaftliche Weltanschauung und eine rational-wissenschaftliche Begründung der Moral allgemeine Verbindlichkeit auch
für nicht gläubige Menschen beanspruchen können.

- Auch die transzendentalphilosophische Begründung, wie sie bei Kant zu finden ist, gründet sich mit einer dualistischen Zwei-Welten-Theorie auf eine heute nicht mehr akzeptable „transzendente Metaphysik des intelligiblen Selbst “ (Birnbacher).

- Aus „Seinsgegebenheiten“ wird unzulässigerweise ein Sollen abgeleitet. („Naturalistischer Fehlschluss“)

- Die Menschenwürde wird zu einer pathetischen Leerformel, die jede rationale Diskussion verhindert und rigoristisch das fast uneingeschränkte Verbot umstrittener medizinischer Praktiken fordert.

- Dieser Rigorismus missachtet die konkreten Nöte, Interessen und Rechte all der Menschen, für die diese Praktiken eine große Hilfe sein können.


Im Hinblick auf metaphysisch-konservativ argumentierende Bioethiker halte ich diese Einwände zumindest partiell für gerechtfertigt, die daraus gezogenen Konsequenzen und die zugrunde liegende „empiristisch-liberale“ Position aber sind problematisch. Dass die theologische und die Kantische Begründung auch einen rationalen Gehalt haben könnten, wird von vornherein ausgeschlossen, während man sich zugleich relativ unkritisch auf die Allgemeingültigkeit einer wissenschaftlichen Weltanschauung beruft. Auch empiristische Positionen können dem Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses nicht entkommen, sofern sie die Achtung der Würde – statt auf metaphysische Wesenseigenschaften – auf empirische Fähigkeiten gründen. Sie neigen zudem dazu, relativ abstrakt und damit ebenfalls dogmatisch-rigoristisch für die Liberalisierung medizinischer Praktiken zu argumentieren.

Da auch Vertreter dieser Position nicht in Widerspruch zur Verfassung geraten und deshalb an der universalen Gültigkeit der Menschenwürde festhalten möchten, wird als Ausweg vorgeschlagen, zwei Begriffe von Menschenwürde zu unterscheiden: eine schwächere Gattungswürde und eine stärkere, individuelle Würde.

Zweierlei Menschenwürde?

Die unbedingt zu achtende Würde des menschlichen Individuums, einschließlich der daraus resultierenden Grundrechte, wird eingeschränkt auf einen engeren Kreis von Menschen, die zumindest über ein Minimum an empirisch feststellbaren personalen Fähigkeiten verfügen. Menschen, die noch nicht oder nicht mehr in diesen Kreis gehören, ist stattdessen eine schwächere Form der Würde zuzusprechen, die sich nicht auf sie als Individuum, sondern auf ihre Gattungszugehörigkeit gründet. Gegenüber „Vor- und Reststadien des Menschenlebens“ (Birnbacher) wie Embryonen oder Leichnamen sind wir demzufolge zur Achtung ihrer Würde nur verpflichtet aus Pietät, aus Rücksicht auf die Gefühle Dritter oder aus Respekt gegenüber dem gattungsethischen Selbstverständnis des Menschen, nicht aber aus Rücksicht auf den Verstorbenen oder den Embryo als individuelle Person.

Dieser Vorschlag wirft das meines Erachtens unlösbare Problem einer Grenzziehung zwischen personalen und nicht-personalen menschlichen Wesen bzw. Lebensstadien auf. Es wird zudem unverständlich, wie überhaupt – auch in Bezug auf den eingegrenzten Personenkreis – sinnvoll von Unantastbarkeit der Würde in einem strikten Sinne gesprochen werden kann. Denn empirisch sind die Eigenschaften der Vernunft und Autonomie immer höchst ungleich verteilt, weshalb in einem empiristischen Ansatz Menschenwürde grundsätzlich bedingt und graduell verstanden werden müsste.

Unverständlich wird zudem, warum für das moralische Urteil gewöhnlich gerade die Menschen, die noch nicht, nicht mehr oder gar nicht über die geforderten Eigenschaften verfügen, diejenigen sind, deren Würde am verletzbarsten ist. Das gesteht auch Birnbacher zu, wenn er schreibt, die Würde müsse allen Menschen gleichermaßen zukommen und dürfe nicht an das faktische Vorhandensein gradualisierbarer Fähigkeiten gebunden werden. „Andernfalls müsste sie gerade denjenigen Psychotikern, Antisozialen, Abhängigen und anderen abgesprochen werden, die am ehesten Gefahr laufen, menschenunwürdig behandelt zu werden, und am meisten davor geschützt werden müssen. Gerade da, wo der Begriff praktisch bedeutsam ist, würde er versagen.“ („Gefährdet die moderne Reproduktionsmedizin die menschliche Würde?“, in: A. Leist, Von Leben und Tod, 1990, 266-281.).

Das gilt, so wäre hinzuzufügen, auch für Kleinkinder, schwer demente Menschen oder Menschen im Koma. Warum sollte es nicht auch für Embryonen oder Verstorbene gelten? Birnbacher scheint daran zu hängen, dass von individueller Würde im starken normativen Sinne nur die Rede sein könne, wenn der betroffene Mensch die Missachtung seiner Würde noch bewusst erleben und erleiden könne. Selbst das aber ist oft auch bei geborenen, lebenden Menschen nicht der Fall, ohne dass die Missachtung ihrer Würde dadurch normativ weniger schwerwiegend wäre. Gerade wenn üble Nachrede, Verunglimpfungen oder Beleidigungen gegenüber Dritten „hinter dem Rücken“ der betroffenen Person erfolgen, ohne dass sie davon erfährt, ohne dass sie sich also dagegen zur Wehr setzen kann, wird ihre Würde nach üblichem Urteil in besonderem Maße verletzt.

Will man überhaupt die im strikten Sinne unantastbare und unverlierbare Würde auf Eigenschaften gründen, so scheint ein Rekurs auf nicht-empirische, transzendente Wesenseigenschaften unausweichlich zu sein.

Negative Begründung der Menschenwürde

Beiden Positionen, der konservativ-metaphysischen und der empiristisch-liberalen, liegt die Auffassung des Menschen als einer Entität mit bestimmten Eigenschaften zugrunde. Die Person wird verdinglicht, diese Verdinglichung steht zum Grundgedanken der Würde im Widerspruch. Folgt man der Kantischen Ethik, besteht dieser Grundgedanke darin, dass der Mensch nicht auf ein bloßes Objekt und Mittel für die Zwecke anderer reduziert werden darf. Das heißt natürlich nicht, dass wir den Menschen nicht auch als Objekt auffassen können, vielmehr macht dieses objektivierende Sich-Verhalten zur Welt und zu sich selbst die personale Grundstruktur der menschlichen Existenzform aus, die Helmuth Plessner als „exzentrische Positionalität“ bezeichnet. Mit dieser Formel bringt Plessner zum Ausdruck, dass wir bei aller Exzentrizität doch unaufhebbar an unsere zeitliche und räumliche Position in der Welt gebunden, in unseren Möglichkeiten durch sie bedingt und begrenzt bleiben. Grund dafür ist die leibliche, sprachliche, interpersonale, räumlich-zeitliche und geschichtlich-kulturelle Konstitution aller menschlichen Praxis. Das gilt auch für die Naturwissenschaften, die es mit der Exzentrizität am weitesten treiben, aber dennoch Teil der menschlichen Lebenspraxis sind und damit den Bedingungen menschlicher Endlichkeit unterliegen. Wir können diese Praxis nicht verlassen. Wir verfügen über keinen absolut externen quasi-göttlichen Standpunkt, von dem aus die Welt und wir selbst als Subjekt und Ursprung unserer Praxis uns zum Gegenstand und vollständig transparent werden könnten. Gerade weil die Möglichkeiten der Erkenntnis der Welt und des Menschen unendlich sind, weil sie an kein Ende kommen, bleiben die Welt im ganzen und wir selbst uns entzogen.

Natürlich können und müssen wir uns auf vielerlei Weise und zu verschiedenen Zwecken Bilder von der Welt und vom Menschen machen, die je begrenzte Aspekte der Welt und des Menschen erfassen. Darin manifestiert sich die menschliche Freiheit. Wir können, wie Nietzsche betont, gerade um der Objektivität und Wahrheit willen, in dieser Hinsicht gar nicht kreativ und erfinderisch genug sein, sofern jedes dieser Bilder eine andere Perspektive auf die Welt und den Menschen eröffnet. Diese Bilder sind aber keine Abbildungen, Welt und Mensch sind auf keines dieser Bilder vollständig festlegbar. Dieses Nicht-Festgelegtsein, seine Freiheit und Kreativität macht schon bei Pico della Mirandola – in seiner bekannten Schrift Über die Würde des Menschen – die Gottesebenbildlichkeit des Menschen und damit seine Würde aus. Demnach gründet sich diese Würde nicht in erster Linie auf besondere Leistungen, die ihn als Subjekt aus der Natur herausheben. Sie gründet sich vielmehr auf die vernunftkritische Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Könnens und die daraus resultierende Freiheit und Nicht-Objekti-vierbarkeit des Menschen als Person.

Verdinglichung und Reduktionismus

In der biomedizinischen Ethik geht mit der Tendenz zur Verdinglichung der Person eine Tendenz zum biologischen Reduktionismus einher. Die einen betrachten den Menschen als Lebewesen, das zunächst rein biologisch existiert, dann für eine gewisse Zeit des Lebens in mehr oder weniger hohem Grade personale Eigenschaften entwickelt, diese Eigenschaften schließlich wieder verliert und spätestens im Koma oder im Tod wieder zu einem rein biologischen Wesen wird. Die anderen greifen zu mysteriösen, transzendenten Wesenseigenschaften, um auch Embryonen als Personen zu begreifen, verankern diese Wesenseigenschaften aber selbst wieder in rein biologischen Gegebenheiten wie dem individuellen Genom ab dem Zeitpunkt der Befruchtung. Dieser metaphysische Dualismus ist der Ergebnis der neuzeitlichen, von Descartes begründeten Metaphysik der Naturwissenschaften. Je mehr wir den Menschen auf seine physische Existenz reduzieren, desto mehr können wir seine Personalität und Würde, wenn wir sie retten wollen, scheinbar nur in einer transzendenten, überirdischen Realität verankern.

Das naturwissenschaftliche Welt- und Menschenbild hat seine begrenzte Berechtigung als modellhafter Entwurf der Natur, in dessen Rahmen sich zu bestimmten Zwecken empirische Entdeckungen auch über den Menschen machen lassen. Geblendet von den Erfolgen der Naturwissenschaften und auch der Medizin neigen wir dazu, allein naturwissenschaftliche Beschreibungen der Realität für objektiv gültig und allgemein verbindlich zu halten und so das naturwissenschaftliche Weltbild als allein maßgebliche Orientierung für unser Welt- und Selbstverständnis anzusehen. Als objektive Realität der Krankheit und des Schmerzes gelten allein die biologisch-medizinisch erfassbaren Prozesse, alles andere wird zum subjektiven Erlebnis, zur rein psychischen Begleiterscheinung. Als objektive Realität des menschlichen Todes gelten allein die messbaren Fakten des vollständigen Ausfalls der Hirnfunktionen, die sinnliche Wahrnehmung phänomenaler Lebenszeichen wie Atmung, Bewegung, Herzschlag und lebendiges Aussehen des Hirntoten gelten als subjektive Täuschung – ähnlich wie durch philosophierende Neurobiologen der Gegenwart sogar die Freiheit als Illusion angesehen wird.

Tatsächlich aber beruht der Glaube an das naturwissenschaftliche Weltbild auf einer Täuschung. Sie entsteht dadurch, dass naturwissenschaftliche Erkenntnis den personalen Gesamtkontext menschlicher Existenz ausblendet (und für die Zwecke naturwissenschaftlicher Forschung auch ausblenden muss), um den Menschen lediglich als physikalisch oder biologisch beschreibbares Objekt erforschen zu können. Um erkennen zu können, dass die Naturwissenschaft die objektive Realität der Natur und des Menschen immer nur unter sehr begrenzten Aspekten zu erfassen vermag, müssen wir (nicht die Grenzen der Welt, wohl aber) die Grenzen dieses speziellen Weltentwurfs transzendieren, um dessen Bedingung und praktische Zwecke im personalen Gesamtkontext menschlicher Lebenspraxis kritisch zu reflektieren. Anknüpfend an Kants vernunftkritische Einsicht in das „Primat der praktischen Vernunft“ ist jeder Versuch einer anthropologischen Begründung der Moral und der Menschenwürde zurückzuweisen, sofern diese Begründung auf empirisch-wissenschaftlichen oder metaphysisch-transzendenten „Seinsgegebenheiten“ basiert. Unverzichtbar aber ist eine anthropologische Reflexion der Moral, wie sie ebenfalls in der Kantischen Moralphilosophie angelegt ist.

Anthropologische Reflexion der Menschenwürde

Um der Verdinglichung der Person zu entgehen, schlage ich vor, den Personbegriff und alle damit zusammenhängenden ethisch-anthropologischen Grundbegriffe nicht als Klassifikationsbegriffe, sondern als Reflexionsbegriffe aufzufassen. Klassifikationsbegriffe dienen dazu, Dinge anhand begrifflicher Merkmale in eine klassifikatorische Ordnung zu bringen und sie auf Grund ihrer empirisch feststellbaren Eigenschaften als eine bestimmte Art von Ding zu identifizieren. Reflexionsbegriffe dagegen sind begriffliche Instrumente, die der kritischen Aufklärung und Reflexion der personalen Sinnstruktur menschlicher Existenz im ganzen dienen. „Im ganzen“ soll heißen, dass diese Sinnstruktur – als Möglichkeitshorizont – notwendig und konstitutiv ist für eine adäquate Beschreibung aller möglichen Situationen und Lebenslagen des gesunden und des kranken, des bewussten und des bewusstlosen, des lebenden und des toten Menschen. Ähnlich wie die Verfassung als „Konstitution“ des Rechts festlegt, was rechtmäßige und was unrechtmäßige Gesetze sind, oder wie die Regeln des Schachspiel festlegen, was zulässige und was unzulässige Züge im Schachspiel sind. Wie es unrechtmäßige Gesetze nur im Rahmen der Verfassung oder unzulässige Schachzüge nur im Schachspiel gibt, so ist auch die Situation des Embryo, des Menschen im Wachkoma sowie des Hirntoten oder des Verstorbenen nur im Kontext des personalen Sinnhorizonts der menschlichen Existenz zu begreifen und adäquat zu beschreiben.
Einen Stein können wir nur als „leblos“, nicht aber als „tot“ beschreiben, denn das würde implizieren, dass er „gestorben“ wäre, eine begrifflich unmögliche Unterstellung. Der tote Mensch hingegen begegnet uns, im Unterschied zum Stein, als jemand, der in einer bestimmten Weise – etwa durch Krankheit oder Unfall – gestorben ist, der eine bestimmte Lebensgeschichte und leibliche Konstitution hat, in einer bestimmten Beziehung zu anderen Menschen steht usw. Er begegnet uns als personales Gegenüber, in dessen Lage wir uns selbst befinden könnten und irgendwann befinden werden. Die personale Sinnstruktur ist Inbegriff all der Voraussetzungen, die uns so vertraut sind, dass wir sie ganz selbstverständlich und unwillkürlich machen, wenn wir einem anderen Menschen begegnen. Wir können sie nicht von außen, aus einer reinen Beobachterposition feststellen, wie wir etwa die Eigenschaften einer Blume beschreiben können. Wir können sie nur klären und reflektieren anhand paradigmatischer Situationen der menschlichen Lebenspraxis, an der wir selbst teilhaben, indem wir uns imaginativ in sie hineinversetzen.

Grundmomente dieser Sinnstruktur sind die bereits genannte exzentrische Positionalität, damit verbunden die Verborgenheit und Entzogenheit des Anderen, sowie die Interpersonalität und die Leiblichkeit, ebenso die dadurch bedingte Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Sterblichkeit und Endlichkeit. All diese Momente sind auf komplexe, sich wechselseitig bedingende Weise miteinander verschränkt. Exzentrische Positionalität bedeutet, dass der Mensch nicht einfachhin lebt, sondern sein Leben selbst führen muss, sie impliziert also Freiheit und Autonomie, das von Kant so genannte „Zweck-an-sich-selbst-Sein“.

Es wäre eine gerade für die Bioethik wichtige Aufgabe, genauer zu analysieren und zu reflektieren, wie das Verhalten zu sich selbst und das Verhalten zum Anderen miteinander verschränkt sind. Die personale Grundstruktur menschlicher Existenz ist eine gemeinsam mit anderen Menschen geteilte, wir können uns nur vermittelt durch das Verhalten zum Anderen zu uns selbst verhalten und umgekehrt. Nur so können wir den Anderen – mag das Anderssein und Fremdsein noch so groß sein – doch als Alter Ego sehen, in dessen Lage und Situation wir uns imaginativ versetzen können und müssen, um unser eigenes Handeln aus der Perspektive des Anderen zu beurteilen. Das gilt auch für die Situation eines Menschen etwa im Koma oder nach dem Tod. Auch dabei handelt es sich um Situationen des menschlichen Lebens, für die es uns nicht gleichgültig ist, wie wir von anderen behandelt werden, und für die wir die Achtung unseres Willens und unserer Würde erwarten, ohne sie in der Situation selbst bewusst erleben können. Zur Achtung der Menschenwürde gehört eben notwendig die moralische Phantasie.

Eine bekannte anthropologische Grundaussage von Kant lautet, dass wir „Bürger zweier Welten“ sind, als leibliche Wesen einer sinnlichen Welt und als Vernunftwesen einer intelligiblen Welt angehören. Die zwei Welten sind, wie Kant erläutert, im Sinne zweier „Standpunkte“ zu verstehen, „daraus es [ein vernünftiges Wesen] sich selbst betrachten kann“ (GMS: AA IV, 452) und auch muss. Durch unsere unaufhebbare sinnlich-leibliche Konstitution sind unsere Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten nicht nur notwendigerweise bedingt und zugleich beschränkt. Diese sinnlich-leibliche Konstitution ist damit vielmehr auch eine notwendige Bedingung von Moral. Als zugleich vernünftige und leiblich-sinnliche Wesen sind wir zum einen fehlerhafte Wesen, die in moralische Konflikte geraten können, zum anderen sind wir in ihrer Existenz verletzbare und bedürftige Wesen, die ihr ganzes Leben hindurch für das autonome Führen und Gestalten ihres Lebens auf die Fürsorge, Hilfe und Unterstützung der Anderen angewiesen sind. Die Achtung der Autonomie ist nicht viel wert, wenn die notwendigen materiellen und leiblichen Bedingungen für ein autonomes Leben nicht gegeben sind. Die Achtung der Würde fordert daher Kant zufolge nicht nur die Achtung der Freiheit des Anderen, sondern auch die von ihm so genannte „praktische Liebe“ und „Wohltätigkeit“ als „allgemeine Pflicht der Menschen, und zwar darum: weil sie als Mitmenschen, d. i. als bedürftige, auf einem Wohnplatz durch die Natur zur wechselseitigen Beihilfe vereinigte vernünftige Wesen anzusehen sind.“ (Kant, MS II, § 30, AA VI, 453). Ohne die Voraussetzung der gemeinsam geteilten, sinnlich-leiblich bedingten Bedürftigkeit wären wir nicht in der Lage, die Situation des Anderen als Notlage zu erkennen, die unser helfendes Handeln fordert. „Jeder Mensch, der sich in Not befindet, wünscht, dass ihm von anderen Menschen geholfen werde.“ (ebd.) Diesen Wunsch können wir im allgemeinen auch im Fall von Menschen unterstellen, die ihn aktuell nicht äußern können. Ja, je weniger sie dazu in der Lage sind, desto mehr sind sie auf die Hilfe und Fürsorge anderer angewiesen, und damit in ihrer Würde verletzbar.

So wie die Achtung der Autonomie nicht ohne Fürsorge möglich ist, so können aber auch Fürsorge, Hilfe und Wohltätigkeit ohne Achtung der Autonomie paternalistisch, bevormundend und demütigend werden. Dass die Achtung der Autonomie und die Fürsorge beide in der Würde gründen, bedeutet somit auch, dass sie sich wechselseitig bedingen, fordern und korrigieren. Für eine adäquate Beschreibung konkreter moralischer Problemlagen ist es daher notwendig, immer alle relevanten Aspekte der personalen Sinnstruktur im Auge zu haben und sie nicht gegeneinander auszuspielen.

Achtung der Menschenwürde in Grenzsituationen

Die Würde des Menschen ist universal und unbedingt, in allen möglichen menschlichen Lebenslagen gleichermaßen gültig. Es ist aber zu beachten, was dies für die jeweilige Situation konkret bedeutet, welches Verhalten in der jeweiligen Situation moralisch geboten ist. Dies ist unter Berücksichtigung aller moralisch relevanten Umstände und normativen Gesichtspunkte im Kontext der jeweiligen Situation zu beurteilen. Im Fall etwa eines 4-5 Tage alten Embryos oder eines sterbenden Menschen, dessen Leben nicht mehr zu retten ist, haben wir es mit Grenz- und Notsituationen zu tun, in denen die Unrechtmäßigkeit des Tötens nicht so eindeutig auf der Hand liegt wie im Fall eines voll entwickelten lebenden und gesunden Menschen. Der biologische Zustand kann aber nicht allein ausschlaggebend sein, er ist vielmehr im Gesamtkontext der jeweiligen existenziellen Situation zu beurteilen, zum Beispiel am Beginn des Lebens anders als am Ende des Lebens.

Ein Kind ist nicht etwas rein Biologisches, sondern von vornherein, d.h. schon bevor es biologisch existiert und vielleicht erst „geplant“ ist, als jemand anzusehen, als eine individuelle Person, die „durch den Akt der Zeugung“, wie Kant sagt, „ohne ihre Einwilligung“ von den Eltern „auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht“ wird. Person ist das Kind auf Grund der negativen Einsicht, dass „es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen“ (MS I, § 28, AA VI, 280), auf Grund der Einsicht also, dass Kinder zwar gezeugt, aber nicht gemacht werden und sich insofern als Personen von vornherein der Objektivierbarkeit, Verfügbarkeit und Instrumentalisierbarkeit entziehen. In dieser Perspektive der Nicht-Objektivierbarkeit ist schon die Zeugung selbst und alles, was mit dem Kind geschieht, „in praktischer Hinsicht“ als eine Handlung zu begreifen, die gegenüber dem Kind als Person zu verantworten ist. Das bedeutet:

„Sie [die Eltern, Th.R.] können es nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigentum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil sie an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch einen Weltbürger in einen Zustand herüber zogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann.“ (Ebd. 281)

Nur vor diesem Hintergrund – und nicht unter Rekurs auf eine „Würde der menschlichen Gattung“ – wird begreiflich, warum es uns zum Beispiel nicht gleichgültig ist, ob wir absichtslos oder gewollt und mit Absicht gezeugt wurden und mit welcher Absicht dies möglicherweise geschehen ist. Dadurch, dass ich davon wissen und mir dessen bewusst sein kann, erfahre ich mich unter Umständen als in meiner Freiheit eingeschränkt, fremdbestimmt und zu fremden Zwecken instrumentalisiert. Begreiflich wird auch, dass bzw. warum die meisten Menschen unwillkürlich mit Empörung auf den rein instrumentalistischen Umgang mit Embryonen reagieren, oder dass es Behinderten nicht gleichgültig ist, wie Eltern oder eine Gesellschaft mit möglichen Behinderungen von ungeborenen Kindern umgehen. Das ist möglich, weil wir uns imaginativ an die Stelle des Menschen versetzen können, dessen Existenz verhindert werden soll. Das Handeln im Umgang mit dem Menschen vor der Geburt oder vor der Zeugung ist also nicht isoliert, bezogen nur auf diesen Zeitpunkt und Zustand, sondern im individuellen Kontext der ganzen Lebensgeschichte und im interpersonalen, gesellschaftlichen Kontext als Achtung oder Missachtung der Würde des individuellen Menschen zu verstehen und moralisch zu beurteilen.

Eine phänomenologische Analyse des Umgangs mit Embryonen oder Verstorbenen, die ihre Lage im Gesamtkontext der jeweiligen Situation und aus der Sicht aller betroffenen Personen vergegenwärtigt, zeigt, dass und in welcher Weise durch diese Handlungen tatsächlich der jeweiligen Person als Individuum eine Verletzung der Würde zugefügt werden kann. Eltern, die – entsprechend ihren persönlichen Vorlieben oder Zwecken oder auch zum vermeintlichen Vorteil des Kindes – im vorhinein das Geschlecht oder bestimmte andere Eigenschaften auswählen und festlegen möchten, verletzen die Würde dieses einen Kindes, und nicht eine abstrakte Gattungswürde. Das gleiche gilt, wie Kant überzeugend klar macht, noch offensichtlicher gegenüber Verstorbenen:

„Wenn jemand von einem Verstorbenen ein Verbrechen verbreitet, das diesen im Leben ehrlos oder nur verächtlich gemacht haben würde: so kann ein jeder, welcher einen Beweis führen kann, dass diese Beschuldigung vorsätzlich unwahr und gelogen sei, den, welcher jenen in böse Nachrede bringt, für einen Kalumnianten öffentlich erklären, mithin ihn selbst ehrlos machen; welches er nicht tun dürfte, wenn er nicht mit Recht voraussetzte, dass der Verstorbene dadurch beleidigt wäre, ob er gleich tot ist, und dass diesem durch jene Apologie Genugtuung widerfahre, ob er gleich nicht mehr existiert.“ (MS I, § 35, AA VI, 295)

Dass wir einem toten Menschen individuelle Rechte und damit eine individuelle Würde zuschreiben, setzt allein das Selbstverständnis des Menschen „als intelligibles Wesen“ voraus, das sich selbst als Mitglied einer moralischen Gemeinschaft begreift und zu den anderen Mitgliedern dieser Gemeinschaft in moralischen und rechtlichen Verhältnissen steht, welche das Verhältnis und Verhalten zum toten Menschen einschließen. Dies beruht auf der Möglichkeit, von unserer faktischen, momentanen Existenz zu abstrahieren, indem wir imaginativ antizipieren, dass uns selbst gegenüber nach dem Tod eine solche Missachtung der Menschenwürde geschehen kann. Auf Grund dessen können wir die Lage des Anderen, dem dies faktisch geschieht, als eine (im existenzialen Sinne) potentielle eigene Lage ansehen, wodurch wir zu ihm in einer personalen Beziehung stehen, in der er uns zum moralischen Gegenüber wird. Für die Zuschreibung der Würde und des moralischen Status der Person ist somit nicht lediglich die Innenperspektive, sondern ebenso die Außenperspektive konstitutiv. Wir können unsere eigene Lage als Kranker, als Embryo oder als Verstorbener prospektiv oder retrospektiv aus der Perspektive der Anderen imaginieren und uns so zu uns selbst verhalten. Nur so ist es verständlich, dass mir daran gelegen sein kann, wie man mit mir nach meinem Tod umgeht, wie man mich beerdigt, sich an mich erinnert usw.

Die phänomenologisch-anthropologische Reflexion der Moral hält an der universalen und unbedingten Geltung der Menschenwürde fest, vermeidet aber die für metaphysisch-konservative Positionen der Bioethik daraus resultierenden rigoristischen Konsequenzen einer weitgehenden Verurteilung umstrittener medizinischer Praktiken ohne Rücksicht auf die besondere (Art der) Situation. Sie versteht ethische Grundbegriffe wie Person, Würde oder Autonomie als Reflexionsbegriffe, die für abstrakt-formale höchste Gesichtspunkte des moralischen Urteils stehen. Als solche gelten sie universal und unbedingt in Bezug auf den personalen Sinnhorizont menschlicher Existenz im ganzen, das heißt für alle Menschen sowie für alle möglichen Lebenslagen. So verstanden sind diese Begriffe unweigerlich sehr abstrakt und als solche inhaltsleer. Diese semantische Unbestimmtheit ethischer Grundbegriffe ist eine notwendige Bedingung der Deutungsoffenheit sowie praxisbezogenen und problemsensiblen Auslegbarkeit, die je nach (Art der) Situation notwendigerweise variiert. Um zu beurteilen, was jeweils zu tun ist, bedarf es der „durch Erfahrung geschärften Urteilskraft“, die notwendig ist, „um teils zu unterscheiden, in welchen Fällen sie [die „Gesetze a priori“] ihre Anwendung haben, teils ihnen Eingang in den Willen des Menschen und Nachdruck zur Ausübung zu verschaffen.“ (GMS, AA IV, 389).


UNSERE AUTORIN:

Theda Rehbock ist Privatdozentin für Philosophie an der Technischen Universität Dresden. Von ihr ist zum Thema erschienen:

Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik der Ethik medizinischen Handelns, mentis, Paderborn, 2005.

Wie ist die Menschenwürde zu begründen?“, in: Th. Rentsch (ed.), Einheit der Vernunft? – Normativität zwischen Theorie und Praxis, mentis, Paderborn 2005, S. 232-259.