aus Heft 2/2014, S. 74-82
Ein Gespräch mit Andreas Brenner und Andrea Marlen Esser über den Hirntod und die Entnahme von lebenswichtigen Organen
„Das Hirntodkriterium ist in der Krise“ betitelt Dieter Birnbacher einen Aufsatz. Warum ist man seinerzeit vom Herztod- zum Hirntodkonzept übergegangen?
Andrea Marlen Esser: Das Konzept des Hirntodes geht im Wesentlichen auf das Gutachten des Ad Hoc Komitees der Harvard Medical School von 1968 zurück, in dem eine „Definition des irreversiblen Komas“ vorgelegt und dieses als neues Kriterium des menschlichen Todes vorgeschlagen wird. Die deutsche Bundesärztekammer hat 1982 mit Bezug auf dieses Gutachten den Hirntod im Sinne eines „vollständige(n) und irreversible(n) Zusammenbruch(s) der Gesamtfunktion des Gehirns bei noch aufrechterhaltener Kreislauffunktion im übrigen Körper“ als Kriterium des Todes übernommen. Der Anlass (nicht aber auch die Rechtfertigung!) dafür, das traditionelle Todeskriterium des Herz-Kreislaufzusammenbruchs neu zu überdenken, war pragmatischer Natur: die medizinisch-technische Entwicklung hat es möglich gemacht, die Körperfunktionen von Menschen im irreversiblen Koma über einen längeren Zeitraum zu stabilisieren. Das warf zum einen die Frage auf, unter welchen Bedingungen man eine solche stabilisierende Behandlung abbrechen darf. Zum anderen eröffnete es auch neue Möglichkeiten in der Transplantationsmedizin, führte da aber zu der Frage, ob eine Organentnahme unter diesen Umständen erlaubt ist.
Das Hirntodkriterium war, wie Dieter Birnbacher in einem früheren Aufsatz richtig feststellte, im Verhältnis zu dem damals noch geltenden Herztodkriterium das strengere Kriterium. Denn wenn man den menschlichen Tod als das Ende des Lebens definiert und mit „Ende“ das Ergebnis eines irreversiblen Prozesses, sozusagen ein „point of no return“ angezeigt ist, dann konnte der Herz-Kreislauftod unter den veränderten medizinischen Bedingungen nicht mehr als das Ende des menschlichen Lebens gelten, weil Patienten ja fortan in vielen Fällen erfolgreich reanimiert werden konnten.
Nun haben neuere Untersuchungen gezeigt, dass die Integration des menschlichen Organismus nicht ausschließlich vom Hirn geleistet wird. Was heißt das für das Hirntodkonzept?
Andreas Brenner: Diese Erkenntnisse haben eine sehr große Bedeutung. Zum einen wird damit naturwissenschaftlich bestätigt, was von vielen Nichtnaturwissenschaftlern seit Jahrzehnten, genau genommen seit Einführung des Hirntodkonzeptes behauptet wird: Das Hirntodkonzept reduziert den Menschen auf sein Gehirn. Dieser extreme Reduktionismus ist aber nicht haltbar, wie bereits die Beschreibungen des Menschen von der Antike bis in die Gegenwart deutlich machen. Die entsprechenden Positionen aus den großen Erzählungen, aus der Philosophie und den Kulturwissenschaften erhalten nun gleichsam den naturwissenschaftlichen Segen.
Wenn man weiterhin den Begriff des Hirntodes verwenden will, so muss man sich also klar machen, dass „hirntot“ lediglich den weitgehenden oder totalen Verlust der Gehirnfunktionen beschreibt, ohne damit zugleich eine Aussage über Leben oder Tod des Menschen zu machen.
Sie wollen also zum traditionellen Herztodkriterium zurückkehren?
Andreas Brenner: Will man weiterhin Organe transplantieren, muss sichergestellt sein, dass man die Organe nicht Lebenden entnimmt. Das Hirntodkriterium erfüllt diese Bedingung nicht, wohl aber das Herztodkriterium. Ob aber nach dem Herztod Transplantationen medizinisch überhaupt realisierbar sind, das ist eine andere Frage.
Frau Esser, Sie haben den Begriff des „personalen Todes“ eingeführt. Was meinen Sie damit?
Andrea Marlen Esser: Mittlerweile bin ich nicht mehr ganz glücklich mit dem Ausdruck, weil er etwas missverständlich ist. Der Sache nach geht es mir damit um Folgendes: Auch die Frage nach einem angemessenen Kriterium für den menschlichen Tod ist meines Erachtens eine normative Frage und bedarf einer moralischen Rechtfertigung. Menschen sind nämlich Personen und sterben auch als Personen. Der Begriff der Person wird in der Philosophie freilich schon lange diskutiert. Meine Überlegung dazu ist, dass wir mit diesem Begriff nicht ausdrücken, dass jemand über bestimmte Fähigkeiten verfügt, sondern dass wir ihm einen bestimmten Status in unseren praktischen Verhältnissen zuschreiben und wir diesem und allen anderen Menschen (auch uns selbst) gegenüber eine dementsprechende Haltung einnehmen sollen: wir sollen alle Menschen als in moralischen und rechtlichen Beziehungen stehend betrachten und sie (und uns selbst) entsprechend der darin geltenden Ansprüchen behandeln. Der Begriff der Person drückt also meines Erachtens die normative Transformation des Menschen als eines Exemplars der Gattung Homo sapiens zu einem Mitglied moralisch-rechtlicher Verhältnisse aus. Das aber führt dazu, dass der Tod eines Menschen als „personaler Tod“ zu bestimmen ist und die Frage etwa nach einem angemessenen Kriterium für den menschlichen Tod eben dies berücksichtigen muss: dass Menschen als Personen leben und sterben und als Personen in Gemeinschaft mit anderen stehen.
Frau Esser, Sie halten „Tod“ (und „Leben“) nicht für einen biologischen, sondern für einen philosophischen Begriff. Was meinen Sie damit?
Andrea Marlen Esser: Die Frage, unter welchen Bedingungen das Leben eines Menschen zu Ende ist, ist nicht unmittelbar im Rekurs auf den Zustand des Organismus beantwortet. Der biologische Begriff der Lebendigkeit ist ja nicht mit dem Begriff des Lebens identisch, wie er in der Alltagskommunikation oder in der aktuellen Diskussion um ein angemessenes Kriterium des menschlichen Todes verwendet wird. Darin geht es nicht um die Frage, zu welchem Zeitpunkt oder unter welchen Bedingungen alle Lebendigkeit aus einem Organismus gewichen ist und ein Organismus in einem biologischen Sinne „tot“ ist, sondern um die Frage, unter welchen Bedingungen wir das Leben von Menschen als Personen als beendet ansehen sollen. Ein „hirntotes“ Exemplar der Gattung Homo sapiens ist im biologischen Sinne nicht tot, sondern lebendig. Für die Frage, unter welchen Bedingungen das menschliche Leben zu Ende ist, muss dagegen entschieden werden, was mit dem Ausdruck menschliches Leben gemeint ist, welche Bedeutung darin der Funktionsfähigkeit des menschlichen Organismus, der biologischen „Lebendigkeit“ also, zugemessen werden soll, und welches Gewicht andere Aspekte des menschlichen Lebens, wie etwa die emotionale, geistige, psychische oder soziale Dimension, erhalten sollen. Die Bestimmung des Endes des menschlichen Lebens erzwingt also ein evaluatives Urteil. Dessen Gehalt muss gerechtfertigt werden und zwar in kritischen Reflexionen moralischer und rechtlicher Normen – insofern in der Philosophie.
Ist schon die Frage nach dem Kriterium für den Hirntod eine normative Frage oder erst die Frage nach dem, was das Kriterium für Folgen hat?
Andreas Brenner: Zunächst erscheint die bloße Frage nach einem „Kriterium für den Hirntod“ als eine wertneutrale und nicht-normative Frage. Die historische Entwicklung dieses Begriffs, auf die Frau Esser hingewiesen hat, macht die Diskussion um ein Kriterium für den Hirntod jedoch schnell zu einer normativen. Und so haftet den Hirntodkriterien – mittlerweile gibt es ja weitere Differenzierungen, nach denen der „Tod“ eines Gehirns beschrieben wird, sie reichen von Ganz- bis zu verschiedenen Formen des Teilhirntodes – der Makel des Instrumentellen an: Die verschiedenen Kriterien lassen sich nicht nur instrumentalisieren, sie sind schlicht Instrumente: Instrumente zur ethischen Legitimation der Transplantationsmedizin. Die für die Hirntoddefinition herangezogenen Kriterien sind also zugleich die Voraussetzungen für die Transplantationsmedizin. Das zeigt auch, dass sich dieser Zweig der Medizin von der klassischen, von Hippokrates begründeten und im wörtlichen Sinne naheliegenden Perspektive, nämlich der Orientierung auf die erste Person, verabschiedet hat und die dritte Person an die Stelle der ersten stellt. Aus eben diesem Grunde verliert in der Transplantationsmedizin der Organspender seinen Advokaten, der die Seite gewechselt hat und die Sache der Anderen vertritt. Die sogenannten Organspendeskandale, die seit einigen Jahren die Öffentlichkeit beschäftigen, haben hier ihren Ursprung: In dem nach Maßgabe der optimalen Organverwertung ausgerichteten Modell hat der Organspender auch deshalb schlicht die schlechteren Karten, weil ihm eine Mehrzahl von potentiellen Empfängern gegenübergestellt werden kann. Es sind deren Interessen, welche das Interesse desjenigen, ohne dessen Organe ja gar nichts geht, trumpfen. Nach dieser Logik wird ja auch von den staatlichen Stellen, − derzeit lässt sich das an der Informationspolitik des deutschen Bundesgesundheitsministeriums beobachten −, eine als Aufklärungskampagne bezeichnete, in Wahrheit aber alleine an möglichst großen Spendezahlen interessierte einseitige PR-Kampagne zu Gunsten der Transplantationsmedizin betrieben. Die Kirchen lassen sich übrigens vor den Karren der utilitaristischen Biopolitik spannen, und erklären jeden Zweifel am Hirntodkonzept mit einem Mangel an Nächstenliebe.
Andreas Marlen Esser: In vielen Punkten kann ich Herrn Brenner zustimmen – insbesondere was die Gefahr der Funktionalisierung des Todesbegriffs angeht und die auch aus meiner Sicht unangemessene Moralisierung der Organspende in den einseitigen Werbekampagnen, die den Begriff der Aufklärung wie auch den der Moralität wirklich nur in Misskredit bringen und das Vertrauen der Bevölkerung auch nicht verdienen. Was mir vielleicht im Unterschied zu Herrn Brenner noch wichtiger erscheint, ist die Perspektive der „zweiten Person“, die interpersonale Perspektive also. Sie kommt sowohl in den „Aufklärungskampagnen“ als auch in der wissenschaftlichen Diskussion zu kurz. Meistens wird die Entscheidung zum Beispiel für oder gegen eine Organtransplantation „individualisiert“ und die Suggestion erzeugt, es handle sich um Fragen, die jeder für sich alleine entscheiden sollte und könnte. Tatsächlich betrifft aber gerade diese Entscheidung die Nahestehenden, da sie in Abläufe gezwungen werden, die ihren Umgang mit dem Tod und den Abschied von der verstorbenen Person prägen und unter Umständen erschweren oder sogar traumatisch werden lassen. Alle Fragen des menschlichen Todes vom Kriterium des Todes bis zum Umgang mit dem toten menschlichen Körper müssen meines Erachtens unter Berücksichtigung der interpersonalen Beziehungen des Menschen diskutiert und beantwortet werden.
Herr Brenner, Sie wollen die Transplantation von lebensnotwendigen Organen verbieten. Warum?
Andreas Brenner: Der Grund ist ganz einfach: Menschen, von denen transplantierbare Organe entnommen werden, sind nicht tot. Sie leben und werden erst zu Toten durch den Akt der Extransplantation. Die Transplantation lebenswichtiger Organe bedeutet mithin also Tötung. Die neuesten Positionen zur Stellung des Gehirns werden mittlerweile selbst von Anhängern der Transplantationsmedizin so gedeutet, dass der zur Explantation vorgesehene Mensch nicht Leiche, sondern Patient ist. Um dennoch die Transplantationsmedizin nicht aufgeben zu müssen, hat man sich in der amerikanischen Bioethik die Formel vom justified killing ausgedacht. Damit erhält der nahezu die gesamte Gesellschaft beherrschende Utilitarismus einen Ritterschlag. Richtig wird diese Position dadurch nicht. Wenn die Begriffe von Menschenrecht und Menschenwürde weiter Sinn machen sollen, muss man jetzt die Notbremse ziehen und zugeben, dass die Transplantationsmedizin ein gigantischer moralischer Fehler war und endlich damit aufhören.
Frau Esser, was folgt aus dem Standpunkt Ihres personalen Ansatzes hinsichtlich Organtransplantationen?
Andreas Marlen Esser: Nun, da das menschliche Leben kein bloß organismisches Leben ist, sondern viele Dimensionen (neben der biologischen eben auch die soziale, die emotionale, die geistige etc.) vereint, kann weder die Frage, wann das menschliche Leben endet, noch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen eine Organentnahme erlaubt ist, im Hinweis auf nur eine dieser Dimensionen beantwortet werden. Beide Urteile sind nur im Rahmen ethischer und rechtlicher Diskurse zu rechtfertigen. Dies gilt sogar für die Frage, wie man mit dem Leichnam eines Menschen, der in einem biologischen Sinne tot ist, umgehen darf. Folgt man dieser Überlegung, ist meines Erachtens schnell klar, dass die Organspende als „normale“ Praxis nicht zu rechtfertigen ist, sondern einen Eingriff darstellt, der immer und in jedem einzelnen Fall einer besonderen Begründung bedarf. Es sind Umstände des Todes, soziale Bindungen, Verpflichtung auf Glaubensinhalte etc. denkbar, unter denen sich eine Organspende als ethisch problematisch erweist. Die Organspende ist aber meines Erachtens eine Praxis, die ethisch und rechtlich zu rechtfertigen ist, wenn die Entscheidung dafür tatsächlich reflektiert und unter Kenntnis der konkreten Umstände, in die ihr Vollzug führt, getroffen werden kann. Ferner, wenn es sich tatsächlich um eine offene Entscheidung handelt, die weder von staatlicher noch von institutioneller Seite, auch nicht implizit, forciert wird. Beide Bedingungen können allerdings nach meiner Kenntnis unter den gegenwärtigen Realverhältnissen nicht garantiert werden.
Wenn jedes Todeskriterium normativ ist, warum kann eine Organspende dann nicht jeweils einzeln untersucht und gegebenenfalls gerechtfertigt werden?
Andreas Brenner: Nun ist es zwar richtig, dass jedes Todeskriterium normative Implikationen enthält. Unser Vorgehen sollte daher von der Maßgabe geprägt sein, möglichst wenige Widersprüche einzugehen. Beim Herztodkriterium erscheint mir dies der Fall: Die Anbindung an ein biologisches Faktum macht diese Definition in hohem Maße konsistent: Die Lebendigkeit des Organismus soll darüber entscheiden, ob der Organismus lebt, das heißt, diese Frage soll nicht alleine mit Blick auf die Funktionstüchtigkeit eines partiellen Teils des Organismus beantwortet werden.
Die Widersprüche, in die wir andernfalls geraten, sind zahlreich. Andernfalls müssten wir beispielsweise am Beginn des Lebens, also beim Embryo, mit der Zuschreibung der Lebendigkeit warten, bis eine Hirnfunktion nachweisbar wäre. Ein anderer Widerspruch, in den uns das Hirntodkriterium bringt, besteht darin, dass wir Situationen, in denen Menschen lange nach ihrem diagnostizierten Hirntod weiterleben, nicht mehr als lebendig bezeichnen dürften. Dann aber muss man, was die interessierte Medizin tut, sich begrifflich sehr verrenken, wenn man beispielsweise erklären will, wie es etwa sein kann, dass eine Tote ein Kind während der Schwangerschaft weiter entwickelt und sogar gebiert.
Ein Plädoyer für das Herztodkriterium − und damit für die Abkehr vom Hirntodkriterium − darf nun jedoch nicht so missverstanden und pervertiert werden, dass man, wie in den USA, aber auch in Österreich und neuerdings in der Schweiz, zusätzlich zum sogenannten Hirntod als Explantationskriterium auch die Menschen mit zeitlich begrenztem Herzstillstand, zu sogenannten Non-Heart-Beating-Donors und damit zu Kandidaten für eine Organspende erklärt. Diese Position kann man nicht als eine Rückkehr zum Herztodkriterium bezeichnen, sondern im Gegenteil als völlige Ignoranz gegenüber dem Anspruch der Herausforderung des Todes angemessenen zu begegnen.
Was nun das Konzept des „personalen Todes“ von Frau Esser anbelangt, so könnte ich dieses Konzept dann unterstützen, wenn es nicht, wie von Frau Esser, von der Anerkennungsgemeinschaft der Anderen abhängig gemacht würde. Zu was das führen kann, hat ja beispielsweise Robert Spaemann in seiner Auseinandersetzung mit Peter Singer deutlich gemacht: Wo Anerkennung zugesprochen wird, kann sie auch abgesprochen werden. Und genau das ist ja bei dem etablierten Hirntodkonzept der Fall. Frau Essers Betonung der Zustimmungsrechte der Angehörigen ändert hieran nichts, zumal diesen ja auch heute bereits entsprochen wird. Personalität halte ich in der gesamten Thematik für außerordentlich wichtig; dies jedoch nicht dann, wenn sie von außen behauptet, sondern nur wenn sie aus der ersten Personperspektive erkannt wird. Wir sind Personen durch unser Menschsein, und unsere Personalität endet mit unserem Menschsein, und dieses endet nicht bereits mit dem Ende unserer Hirntätigkeit.
Andrea Marlen Esser: Freilich wird de facto Anerkennung zu- oder abgesprochen – das ist allerdings in Bezug auf das Menschsein auch schon geschehen. Ich muss vielleicht noch deutlicher betonen, dass der Begriff „Person“, wie ich ihn zu entwickeln versuche, eben kein Prädikat ist, das jemand oder eine Gemeinschaft nach Belieben oder entsprechend der Mehrheitsverhältnisse zu und absprechen darf. Wenn ich betone, dass es sich beim Begriff der Person − anders als bei der Klassifikation als Mensch im Sinne eines biologischen Gattungsbegriffs − um einen normativen Begriff handelt, so meine ich damit, dass dieser Begriff fordert, alle Menschen als in rechtlichen und moralischen Beziehungen und Verhältnissen stehend anzusehen. In der Folge muss auch jede einzelne Handlung unter rechtlichen und moralischen Normen gerechtfertigt werden (können). Der Status als Person ist so gesehen nichts, was beliebig zu oder abgesprochen werden könnte, sondern drückt aus, dass wir Menschen unsere Praxis unter den genannten normativen Ansprüchen vollziehen. Bestimmte Rechte oder konkrete Ansprüche zu- oder abzusprechen, muss dann im Rekurs auf rechtliche und moralische Normen gerechtfertigt werden. Ich halte es in Anbetracht der Irrtumsanfälligkeit allen menschlichen Denkens für sicherer, diesen Rechtfertigungsdiskurs interpersonal durchzuführen und ihn nicht der Perspektive der ersten Person zu übereignen.
Ich bin außerdem nicht der Überzeugung, dass unser Personsein mit dem Menschsein endet. Unsere moralischen und rechtlichen Ansprüche reichen über das „Menschsein“ im Sinne der Lebendigkeit eines bestimmten Menschen hinaus und schützen beispielsweise das Andenken an ihn oder schränken den Umgang mit seinem verstorbenen Körper ein. Die Lebendigkeit eines Menschen oder bestimmter seiner Teile, wie etwa des Gehirns oder des Herzens, ist so gesehen nicht für sich entscheidend, sondern wird es erst in Bezug auf bestimmte Rechte und moralische Ansprüche. Dazu gehören aber auch die gerechtfertigten Forderungen einer Gemeinschaft bzw. der Angehörigen. Deren Ansprüche, zum Beispiel auf die Sterbebegleitung einer nahestehenden Person, werden meines Erachtens weder mit der in Deutschland geltenden Erklärungslösung noch mit der Widerspruchlösung ausreichend geschützt und die Realverhältnisse in unseren Institutionen und der politischen Diskussion sind ihrer Verwirklichung auch nicht zuträglich. Die Organspende darf weder geboten noch durch die massive Förderung zu einem politischen Ziel des Staates erhoben werden. Ein solcher Paternalismus in Bezug auf die konkrete Art und Weise, wie man Hilfe leisten oder Gutes tun soll, steht im Widerspruch zu grundlegenden Rechtswerten wie der Autonomie und Selbstbestimmung. Aber im Unterschied zu Herrn Brenner denke ich nicht, dass die Praxis der Organspende deshalb verboten werden sollte. Sie könnte erlaubt sein, unter der Bedingung, dass man sich bemüht, den Beteiligten eine informierte (und nicht durch Werbung beeinflusste) Entscheidung zu ermöglichen und dass man die hoch problematische Steuerung durch „Anreize“ – seien sie finanzieller oder symbolischer Art – wieder aus unserem Gesundheitssystem herausnimmt.
Ohne Organtransplantation leiden viele Menschen und sterben eines frühen Todes. Können wir dies moralisch rechtfertigen?
Andreas Brenner: Ja! Es geht hier darum, katastrophale Fehler zu vermeiden. Und um einen solchen handelt es sich, wenn man Menschen, deren Hirnfunktion irreversibel erloschen ist, nicht nur als hirntot bezeichnet, sondern zugleich behauptet, ihr Leben sei erloschen. Bereits Anfang der 1990er Jahre hat der Neurochirurg Detlef Linke dies in die Formel gebracht: „Niemand braucht zu befürchten, bei einer Hirntoddiagnose nicht wirklich hirntot zu sein. Ob er beim Hirntod aber auch tot ist, das ist eine andere Frage.“ Bis heute haben sich die Indizien vermehrt, dass genau dies die Frage ist und immer mehr Stimmen behaupten schlichtweg, dass der sogenannte Hirntote ein lebender Mensch sei. Diese Position vertrat übrigens bereits Hans Jonas. Kurz: Wenn es sich so verhält, und mir ist bis heute kein überzeugendes Gegenargument begegnet, dann entbehrt der Transplantationsmedizin singulärer, lebenserhaltender Organe schlicht die Grundlage. Den von Ihnen genannten leidenden Menschen ist mithin auf diese Art einfach nicht zu helfen. Wir müssen akzeptieren, dass auch dem ärztlichen Handeln vor dem technisch Möglichen sittliche Grenzen gezogen sein können.
An dieser Stelle wird häufig gefragt, wie man einem Menschen, der seine ganze Lebenshoffnung an ein Spenderorgan knüpft, ein solches Nein vermitteln kann. Das ist natürlich eine sehr schwierige und hochdramatische Frage. Und man wird heftig kritisiert, wenn man beispielsweise argumentiert, dass wir eine Kategorie wie das Schicksal zu akzeptieren haben. Die Empörung gegenüber diesem Argument rührt daher, dass die Medizin, wie die Wissenschaftsgesellschaft insgesamt, sich von der Vorstellung grenzenloser Machbarkeit hat leiten lassen. Uns sind aber Grenzen gesteckt: technische ebenso, wie sittlich-moralische.
Warum soll eine Person nicht autonom entscheiden dürfen, ob sie ihre Organe spenden und damit unter Umständen ein Menschenleben retten kann?
Andreas Brenner: Nun, so könnte man Autonomie in der Tat verstehen. Lassen wir einmal die damit verbundenen rechtlichen Probleme bei Seite: Die Befürworter des Hirntodkonzeptes machen einen fatalen Fehler, wenn sie dieses Samaritermotiv ins Spiel bringen. Ihrer Konzeption nach greift das Motiv, sich zu opfern, doch gar nicht, da nach dem Hirntodkonzept der Mensch tot ist und von daher ja gar kein Opfer bringt, wenn er der Entnahme seiner Organe zugestimmt hat. Die Transplantationsmedizin ist voll von diesen Widersprüchen: Da werden Menschen als Patienten bezeichnet, obwohl es sich nach dem eigenen Verständnis um Leichname handelt. Also, was denn jetzt?, mag man da fragen. Kurz: Das derzeit praktizierte Modell des Hirntodes hat eigentlich keinen Platz für das Samaritermodell. Wenn die Anhänger des Hirntodkonzepts es dennoch ins Spiel bringen wollen, dann müssen sie dafür einen Preis zahlen: Sie müssen dann nämlich einräumen, dass der Mensch noch nicht tot ist.
Wenn das klargestellt ist, wenn des weiteren über die Befunde informiert wird, was Menschen mutmaßlich unter der Explantation empfinden und erleiden, wenn aufgeklärt wird, dass nur unter Narkose Organe entnommen werden usw., dann kann man auf den Anspruch der Autonomie noch einmal zurückkommen. Ich bezweifle, dass sich dann all zu viele für ihre eigene Tötung aussprechen würden.
Frau Esser, kann man Ihren Ansatz als einen Art Perspektivenwechsel verstehen: dass wir weniger von den Ergebnissen der Naturwissenschaften, sondern von der menschlichen Kultur und von der Idee eines guten Lebens her zu bestimmen suchen, was der Tod ist und wie wir mit ihm umgehen wollen?
In der Tat bemühe ich mich im Dialog mit Forscherinnen und Forschern der Soziologie, Medizinethik und der Rechtswissenschaft um eine Öffnung der Diskussion in verschiedene, auch gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven. Das Ziel liegt aber nicht darin, die verschiedenen Perspektiven nur zu erschließen und sie dann nebeneinander bestehen zu lassen. Sie müssen, wenn wir sie zur Regelung unserer gesellschaftlichen Praxis und für unsere Entscheidungen nutzen wollen, in ihrer Berechtigung geprüft und in ihrer Geltung bestimmt werden. Das gilt auch für die naturwissenschaftliche Perspektive auf den Tod. Sie ist nämlich eine Perspektive, in der aus methodischen Gründen von den personalen und interpersonalen Qualitäten des Lebens abstrahiert wird und werden muss. Daher bringt sie nur einen Teil dessen, was für uns als Menschen „Leben“ bedeutet, zum Ausdruck und darf nicht absolut gesetzt werden.
Umgekehrt bedeutet es nicht, dass naturwissenschaftliche, insbesondere lebenswissenschaftliche Überlegungen keine Rolle spielen in der Frage, was Leben für uns als Menschen bedeutet, wie wir mit lebenden Menschen umgehen. Aber wie gesagt: ich denke, dass wir die Frage, unter welchen Bedingungen wir welche Handlungen an Menschen, die in einem biologischen Sinne leben (also auch wenn sie als „hirntot“ diagnostiziert werden, dennoch „lebendig“ sind) als gerechtfertigt ansehen, eben nicht im Rahmen natur- bzw. lebenswissenschaftlicher Untersuchungen und allein im Verweis auf deren Untersuchungsergebnisse beantworten können, sondern dass dies eine ethische Frage ist und einer ethischen (und freilich auch rechtsethischen) Untersuchung bedarf.
Autonomie ist ebenfalls ein Begriff der praktischen Philosophie, nicht der Natur- oder Lebenswissenschaften und schließt den Gedanken der Gesetzgebung mit ein. Damit unterscheidet sich dieser Begriff trennscharf von dem der Selbstbestimmung. Der Begriff der Autonomie verweist uns darauf, dass das Kriterium, unter dem wir uns bestimmen, nicht in das Belieben des jeweils Einzelnen gestellt ist. Entsprechend ist damit also nicht gemeint, dass jeder Einzelne einfach selbst bestimmen könnte, wann er als tot gelten soll, sondern dass es sich bei dem Kriterium um ein allgemeines und unter allgemeinen Gesichtspunkten zu rechtfertigendes handeln muss. In dieser Verwechslung von autonomer Entscheidung und Selbstbestimmung wurzeln nicht nur viele Missverständnisse der Debatte. Auch die meines Erachtens hoch problematische Werbeaktion der Bundesregierung macht sich diese Verwechslung zunutze, indem sie unter dem Motto „Ich entscheide selbst“ die Suggestion aufbaut, eine autonome Entscheidung sei eine, die nur die Wünsche und Vorstellungen des Individuums zum Ausdruck bringen müsse um schon gerechtfertigt zu sein. Das ist eine grobe Verkürzung und schneidet darüber hinaus grundlegende Dimensionen unseres menschlichen Lebens, wie etwa die Eingebundenheit in interpersonale Zusammenhänge, ab.
Eine der Vieldimensionalität der Fragen angemessene Lösung kann keine einfache sein und keine, die die Legitimität der Transplantationsmedizin von einfachen Unterscheidungen wie tot/lebendig, Selbstbestimmung/ Fremdbestimmung abhängig macht. Tatsächlich müssen die vielen Dimensionen des menschlichen Lebenszusammenhangs von einer Regelung berücksichtigt und von den Beteiligten je nach Situation in ihre Entscheidung integriert werden können. Das scheint mir am besten unter den Bedingungen, einer sog. „Erweiterten Zustimmungslösung“ der Fall zu sein. Diese Regelung bietet nämlich die Möglichkeit, die Entscheidung für oder gegen eine Organ- und Gewebeentnahme einer anderen Person zu übertragen (vgl. § 4, Abs. 3 TPG). Dafür gibt es auf dem Organspendeausweis auch ein entsprechendes Kästchen zum Ankreuzen. Eine autonome Entscheidung in Sachen Organspende könnte u. U. also auch so lauten: Entscheidet ihr in Abhängigkeit von den konkreten Umständen meines Todes und eurer Verfassung, ob ihr der Entnahme meiner Organe zustimmen könnt oder nicht. Dass auch ein solches Verfahren erst mit einem bestimmten Grad an Aufklärung über die tatsächlich zu erwartenden Abläufe möglich ist, scheint mir recht deutlich. Dass die aktuellen Aufklärungskampagnen mit ihren modernen Heldenmythen weder dafür noch für die alternativen Regelungen eine angemessene Grundlage sind, allerdings auch.
DIE TEILNEHMER DER DISKUSSION:
Andreas Brenner ist Professor für Philosophie an der Universität Basel. Andrea Esser ist Professorin für Philosophie an der Universität Marburg. Die Fragen wurden von Peter Moser per Email gestellt.