PhilosophiePhilosophie

PHILOSOPHISCHE PRAXIS

Philosophie für jedermann? Über Zugangsschwellen zur Philosophie

Philosophie für jedermann?

Gernot Böhme über Zugangsschwellen zur Philosophie und das Glück, da zu sein.

 


Zugangsschwellen

 

Die Achtung, die die Philosophie in der Öffentlichkeit genießt, ist im Allgemeinen mit einer eigentümlichen Scheu verbunden, einem Befremden, einem kopfschüttelnden Unverständnis, das bisweilen beim handfesten Menschen des common sense in Verachtung umschlägt: Philosophie sei unverständlich, extrem, arrogant, weltfremd, geradezu abstrus. Diese ambivalente Haltung der Philosophie gegenüber hat sicherlich mit ihrem Anspruch, für Jedermann verbindlich zu sein, zu tun, wobei sie aber gleichzeitig diesem Jedermann wie er sich gibt, die Anerkennung verweigert, schon und eigentlich und in vollem Sinn Mensch zu sein. Gleichwohl gibt es lange bevor so ambivalente Ansprüche wirksam werden könnten, Schwellen, die den Zugang zur Philosophie für Jedermann erheblich erschweren, um nicht zu sagen verhindern. Und die haben nun eigentlich mit dem Wesen der Philosophie nichts zu tun, vielmehr mit ihrem Schicksal als      akademischer Disziplin.

 

Es war die sokratische Frage Was ist das? und sein beständiges Drängen, Wissen zu begründen, das die Wissenschaft erst eigentlich auf den Weg gebracht hat. Dabei war die Philosophie weniger Wissenschaft als ein Zugang zur Wissenschaft und eine Disziplin, die über die Methoden wachte. Dieses Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft hat sich mit der Entstehung der modernen Universität seit etwa dem 18. Jahrhundert geändert. Zwar blieb die Philosophie noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein für viele wissenschaftliche Studien ein Propädeutikum, gleichwohl hatte sich die Philosophie dem Geist der Universität anzupassen und das hieß: sie konnte ihren Platz als akademische Disziplin nur verteidigen, indem sie sich selbst als Wissenschaft ausbildete. Das war ein langer Prozess, der beispielsweise auch das Kantische Bemühen um eine kritische Philosophie bestimmte, wurde aber erst explizit mit Husserls Schrift Philosophie als strenge Wissenschaft um 1900. Heute ist die Philosophie an der Universität anderen Wissenschaften nicht vor- oder nachgeordnet, sondern sie steht neben ihnen, eine Wissenschaft eigener Art. Das bedeutet: sie hat ihre eigenen Curricula, ihre eigenen Methoden und Qualifikationen und das bedeutet auch: sie hat ihre eigenen Probleme. Die Arbeit des professionellen Philosophen besteht heute im Wesentlichen darin, sich mit den Problemen zu beschäftigen, die das eigene Fach generiert. Er bezieht sich auf einen Forschungsstand oder Diskursstand, d. h. er bezieht sich im Wesentlichen auf das, was andere Kollegen vor ihm getan haben, und erwartet auch die Anerkennung seiner Arbeit aus den Reihen seines eigenen Faches, also der Philosophie als akademischer Disziplin.

 

Das scheint mir nun eine sehr eingeschränkte  Auffassung von Philosophie zu sein. Man kann, wie ich meine,  drei Weisen des Philosophierens unterscheiden: Philosophie als Lebensform, Philosophie als Weltweisheit und Philosophie als Wissenschaft. Das, was sich offiziell als Philosophie gibt, nämlich die    akademische Philosophie, macht nur ein Drittel dessen aus, was zur Philosophie gehört, nämlich den Teil, den man als Wissenschaft bezeichnen kann. Philosophie als Lebensform wäre eine Weise des Philosophierens, die  nach dem Vorbild des Sokrates Philosophie in einer besonderen Lebensführung sieht. Philosophie als Weltweisheit wäre nach der Definition Kants, Philosophie, die sich um das kümmert, was jedermann interessiert, also um die öffentlichen Probleme. Dabei würde es sich also um eine Art des Philosophierens handeln, die ihre Probleme nicht aus den engeren Fachzirkeln gewinnt, sondern sich von der breiten Öffentlichkeit vorgeben lässt.

Das Bewusstsein, dass Philosophie viel mehr ist, als was im akademischen Fach betrieben wird, ist nie ganz verloren gegangen. Charakteristisch dafür ist eine Äußerung von Wolfgang Wieland, man müsse zwischen Philosophen und Philosophieprofessoren unterscheiden. Zwar wird gegenwärtig der Ausdruck Philosoph durchaus als eine Berufsbezeichnung verstanden und danach wären gerade die akademischen Philosophieprofessoren auch Philosophen. Wielands Bemerkung unterstellt jedoch, dass für den Status des Philosophen eigentlich mehr zu verlangen wäre als akademische Fachkenntnisse im Fach Philosophie.

 

Als besondere Schwellen, die den Zugang zur Philosophie für Jedermann behindern, kann man nun im Einzelnen benennen: die Sprache, die Abstraktheit des Denkens und in gewissem Sinne die Radikalität von Philosophie.

 

Jede Wissenschaft bildet eine Fachsprache aus und man wird das wissenschaftliche Wissen jeweils nur verstehen können, wenn man in die entsprechende Fachsprache einsozialisiert ist. Bei der Philosophie kommt allerdings etwas hinzu, was sie nun wiederum von den anderen Wissenschaften unterscheidet, nämlich ihre Geschichtlichkeit. Die Termini einer Fachsprache haben in der Regel instrumentellen Charakter und ihre Bedeutung hängt eigentlich nur von der jeweils aktuellen Definition ab. Das ist bei der Philosophie nicht der Fall. Vielmehr haben ihre Termini fast immer eine historische Tiefe. Deshalb könnte es geradezu illusorisch sein, sich an einen jeweils aktuellen Gebrauch von Termini der Philosophie zu halten, denn dieser Gebrauch ist stets umgeben von einem diffusen Hof historischer Konnotationen. Das betrifft insbesondere Ausdrücke wie Substanz, Qualität, Identität, Kausalität. Ich nehme ein eher anschauliches Beispiel, nämlich den Ausdruck Quintessenz. Dieser Ausdruck hat seinen Hintergrund in Platons Versuch, die Vier-Elementen-Lehre mit der zu seiner Zeit neuen und sehr eindrucksvollen Lehre von den fünf Platonischen Körpern in Verbindung zu bringen. Die fünf Platonischen  Körper sind die regulären konvexen Körper im dreidimensionalen Raum: Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder. Bei der Zuordnung dieser Körper zu den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft blieb Platon ein Körper übrig, den er halb in Verlegenheit halb mit ironischer Geste dem Weltall im Ganzen zuschrieb. Sein Schüler Philipp von Opus, der Platons Schrift Eponomis zu Ende schrieb, hat versucht, diese Verlegenheit durch eine systematische Überlegung zu überwinden: Er meinte nämlich, dass die Fünfheit der Platonischen Körper auch eine Fünfheit der Elemente verlange, und ordnete dementsprechend dem fünften Platonischen Körper den Äther zu. Dieser Äther war dann im Folgenden die Quintessenz, die fünfte Wesenheit. Von daher haben sich vor allem unter dem Einfluss der Alchemie dann alle möglichen anderen Deutungen der Quintessenz entwickelt, wobei    u. a. bei Paracelsus auch der Mensch selbst die Quintessenz sein konnte. Solche historischen Zusammenhänge muss man kennen, um die Sprache der Philosophie wirklich zu verstehen.

 

Die zweite Zugangsschwelle wurde die Abstraktheit des philosophischen Denkens genannt. Abstraktheit ist nicht das Selbe wie Allgemeinheit, - die würde Philosophie wiederum mit jeder Wissenschaft teilen. Die Abstraktheit philosophischen Denkens hat damit zu tun, dass seine Gegenstände in der Regel nicht sinnlich gegeben sind. Sie werden vielmehr reflektiv bzw. spekulativ gewonnen. Charakteristisch für dieses Verfahren ist die Nominalisierung, die in der griechischen und in der deutschen Sprache besonders leicht durch die Verwendung eines Artikels geschieht. So gewinnt man aus dem in gewöhnlicher Sprache als Verb verwendeten sein den Gegenstand das Sein – und damit gleich eine ganze philosophische Disziplin, nämlich die Ontologie. Dieses Verfahren ist für den Laien, wenn man das so sagen darf, verwirrend, entzieht ihm quasi den Boden. Er weiss nicht, oder zunächst jedenfalls nicht, wovon überhaupt die Rede ist. Hier ist von Gegenständen die Rede, die nicht durch die Erfahrung gegeben sind, aber letztlich doch die Grundlage dafür abgeben, dass uns überhaupt etwas in der Erfahrung gegeben sein kann. Die Philosophie mutet gewissermaßen schon an ihrer Pforte eine Veränderung des Denkens zu, gegen die sich der common sense  sträubt. Nicht in direktem Zugang soll sich die Wahrheit erschließen, sondern vielmehr indirekt, reflexiv, das Gegebene soll aus dem Nichtgegebenen erklärt, das Konkrete aus dem Abstrakten verstanden werden.

 

Schon dieser Zug zum Abstrakten könnte man der dritten von mir genannten Schwelle zurechnen, nämlich der Radikalität philosophischen Denkens. Das Wort radikal hängt ja mit radix zusammen, mit Wurzel,  und in der Tat ist das philosophische Denken insofern radikal, als es auf das Grundsätzliche geht, auf die Prinzipien, auf die Ursprünge, auf die Anfänge. Damit ist Philosophie auch paradox im wörtlichen Sinne, nämlich gegen das gerichtet, was man gemeinhin so glaubt, gegen die Vorurteile. Demjenigen, der sich der Philosophie nähert, wird zugemutet, alles das, was er bisher für richtig angenommen hat, dahin gestellt sein zu lassen und die Balancen und Sicherheiten, die seine alltäglichen Gewißheiten tragen in Frage zu stellen. Das alltägliche Denken verdankt sich im Wesentlichen Kompromissen, es schafft Ausgleiche zwischen widerstrebenden Tendenzen und Meinungen. Demgegenüber ist philosophisches Denken radikal, indem es bestimmte Gedanken zu Ende denkt, zunächst ohne Rücksicht auf andere Gedanken, die man dem entgegen halten könnte.

 

Dieser Grundzug der Philosophie zur Radikalität des Denkens nimmt nun in einer Zeit, in der man Resonanz für die eigenen Gedanken in einer Medienöffentlichkeit sucht und in der natürlich auch die Reputation eines Philosophen medienvermittelt ist, den Charakter des Skandalösen an: Was radikal ist und dem common sense  widerstreitet, wird in der Medienöffentlichkeit zum Skandalon. Ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist Peter Sloterdijks Rede vom Menschenpark und der Anthropotechnik, ein noch jüngeres ist Giorgio Agambens Buch Homo sacer, in dem er die auf das nackte Leben reduzierten Menschen der Konzentrationslager durch ihre Subsumption unter einen Begriff altrömischen Rechtsdenkens, nämlich den des homo sacer mystifiziert.

 

Philosophie als Weltweisheit

 

Mit der Zugänglichkeit der Philosophie steht es naturgemäß anders, wenn sie sich als Weltweisheit betätigt. Dann nämlich geht sie selbst auf das allgemeine Publikum zu, weil sie ihre Probleme aus dem aufnimmt, was jedermann beschäftigt, und weil sie selbst in der Öffentlichkeit wirksam werden will. Philosophie als Weltweisheit ist wesentlich Kritik. Der Grund liegt darin, dass Philosophie sich an der Lösung öffentlicher Probleme auf ihre Weise und mit ihren Mitteln beteiligen kann und muss. Natürlich verlangen die gesellschaftlichen Probleme in der Regel politische, juristische und ökonomische Lösungen. Nur gibt es einen Aspekt, unter dem die Philosophie bei der Lösung öffentlicher Probleme nahezu unverzichtbar ist. Nämlich bei der Bearbeitung der Frage, wie diese Probleme überhaupt gedacht werden. Sehr häufig nämlich werden die öffentlichen Probleme in der Öffentlichkeit selbst in einer Weise thematisiert, die diese Probleme nicht löst, sondern gewissermaßen verlängert. Das ist immer dann der Fall, wenn die Art des Denkens selber ein Teil des Problems darstellt.

 

Ein Beispiel: Die Umweltprobleme werden in der Regel mit einem Naturbegriff thematisiert, nach dem die Natur das bezeichnet, was von selbst da ist – und als solches gut. Deshalb ist eine der wesentlichen Lösungsstrategien der Naturschutz: man meint die Umweltprobleme dadurch zu lösen, dass man die Natur, die durch Eingriffe des Menschen gefährdet ist, schützt. Tatsächlich ist dasjenige aber, was man schützen will, selbst nicht Natur, wie sie von selbst da ist, sondern in der Regel schon ein historisches Produkt menschlichen Umgangs mit Natur, und die Naturstücke, um die es geht, sind selbst nicht natural definiert, sondern in der Regel sozial, das heißt durch bestimmte Besitzverhältnisse,

 

durch Nutzungsinteressen usw. Die Philosophie kann hier klar machen, dass das Umweltproblem mit dem klassischen Naturbegriff zu thematisieren dysfunktional ist. Wenn Natur dasjenige ist, was gegen den Menschen geschützt werden muss, so wird sie als solche langfristig immer weiter zurückgedrängt werden. Hier stellt sich also die Aufgabe, Natur so zu denken, dass sie selber bereits als menschliches Produkt gedacht wird.

 

Ein anderes Problem, in dem durch die Art, wie es thematisiert wird, die Lösung behindert wird, ist die psychosoziale Unterversorgung von schwangeren und gebärenden Frauen. Hier lässt sich leicht zeigen, dass das traditionelle Hebammenwissen die Praxisformen einschließt, die den menschlichen Bedürfnissen der werdenden Mütter entsprechen. Wenn man nun feststellt, dass die moderne Geburtshilfe, die von Gynäkologen ausgeübt wird, wegen ihres objektivistischen und technizistischen Zuganges die psychosozialen Bedürfnisse der Frauen nicht befriedigen können, dann wäre eine Rehabilitation und Stärkung traditionellen Hebammenwissens die richtige Antwort. Nur wie die Dinge liegen, sind durch die Herrschaft wissenschaftlichen Wissens die Hebammen längst in eine soziale Abhängigkeit von den Ärzten geraten, so dass eine Stärkung der Hebammen unter den gegebenen Bedingungen darauf hinaus läuft, den Hebammenberuf selbst zu professionalisieren, d. h. mit einer wissenschaftlichen Ausbildung zu versehen. Auch hier ist wieder durch eine bestimmte Denkform - in diesem Fall, die Auffassung, dass wissenschaftliches Wissen die beste Wissensform ist - das Problem bereits so thematisiert, dass es nicht gelöst werden kann und durch die vorgeschlagenen Lösungen nur fortentwickelt wird. Hier hätte also die Philosophie durch eine Kritik der Wissensformen die Vorurteilsstrukturen aufzulösen, die eine Lösung dieses öffentlichen Problems behindern.

 

Philosophie als Lebensform

 

Wenn im Rahmen der akademischen Philosophie heute Philosophie als Lebensform nicht mehr vorkommt, so heißt das nicht, dass sie auch in der breiteren Öffentlichkeit als solche  vergessen ist. Vielmehr hat die Philosophie der Stoa, also die Philosophie aus einer Zeit, in der für größere Teile der Bevölkerung Philosophie im Leben praktisch wurde, bis heute ihr bleibendes Publikum. Autoren wie Epiktet, Seneca, Marc Aurel gehören zu den klassischen Bestsellern der Philosophie. Die entsprechenden Bücher spenden Trost, leiten zur Seelenruhe und Besonnenheit an und halten das Ideal der Weisheit  lebendig. Ob freilich die klassischen    Ideale einer philosophischen Lebensführung, nämlich Selbstbeherrschung, Autarkie, Autonomie, Ataraxi weiterhin die Maximen einer philosophischen Lebensform bestimmen sollten, ist fraglich. Solange diese Fragen nicht ausgetragen sind, kann es sein, dass die klassischen Vorstellungen einer philosophischen Lebensform innerhalb der modernen Lebensumstände eine eher kompensatorische und damit verdeckende Funktion haben.

 

Jede Zeit muss die Frage nach Philosophie als Lebensform neu stellen, weil diese Lebensform sich an den jeweiligen Bedingungen des Lebens abarbeiten muss, weil sie die Humanität gegenüber den jeweils deformierenden und nivellierenden Tendenzen der Zeit verteidigen muss. Wenn wir die gegenwärtigen Lebensbedingungen als solche der technischen Zivilisation bezeichnen, so ist damit zugleich gesagt, dass unter diesen Lebensbedingungen die klassischen Ideale philosophischer Lebensführung quasi in trivialisierter Form erfüllt sind. Wenn die Philosophie klassisch gefordert hat, ein Leben zu führen, dass nicht von Leidenschaften geschüttelt und zerrüttet wird, so kann man wohl sagen, dass heute das Durchschnittsleben relativ ereignis- und emotionslos verläuft und durch institutionelle Sicherheitsmaßnahmen gegen biographische Erschütterungen abgesichert ist. Wenn Selbstbeherrschung ein klassisches Ideal philosophischer Lebensführung war, so kann man sagen, dass heute jedermann beispielsweise als Autofahrer dieses Ideal in trivialer Form erfüllt. Ein cool sachliches Verhalten gelingt dem Durchschnittsmenschen ganz unabhängig von seiner jeweiligen Stimmungslage - freilich nicht wirklich durch Selbstbeherrschung, sondern eher durch Abspaltung der Verhaltensweisen. So kann man die einzelnen Gesichtspunkte klassischer philosophischer Lebensform durchgehen und sieht dann, dass sie zwar nicht im emphatischen Sinne, aber doch in trivialer Weise heute von jedermann erfüllt werden.

 

Diese Analyse führt zu der Frage, in welcher Weise die durchschnittlichen Lebensbedingungen, vor allem die technischen Lebensbedingungen den einzelnen Menschen daran hindern, seine Menschlichkeit zu erfahren und zu leben. Ich möchte dafür nur zwei Beispiele nennen. Das eine betrifft den Bereich des Leibes, des Leidens überhaupt, der pathischen Existenzweisen, das andere betrifft das Da-Sein im Sinne von Gegenwartsbewußtsein.

 

In unserer Zivilisation ist ein aktives Selbstverständnis des Menschen seit langem leitend  und in der gegenwärtigen Phase der Arbeits- und Leistungsgesellschaft definiert sich das Selbstverständnis des Einzelnen wesentlich über seine Tätigkeiten und Leistungen. Das hat unter anderem auch zur Folge, dass Ethik fast durchweg als Ethik des Handelns verstanden wird. Demgegenüber liegen alle menschlichen Momente, die damit zu tun haben, dass wir uns selbst gegeben sind, dass uns etwas widerfährt, dass wir leiden, im Schatten. Kompetenzen werden in diesem Bereich nicht ausgebildet, Phänomene sind verdeckt oder unbekannt, das, wodurch wir uns selbst gegeben sind, geht nicht in die eigene Identität ein. Das betrifft insbesondere den menschlichen Leib, d. h. die Natur die wir als die unsere erfahren, obgleich oder sogar weil wir sie nicht selbst hervorbringen. Damit hängt der Bereich der Schmerzen oder allgemeiner der Leiden zusammen, ein Bereich, der eher als zu Überwindendes verstanden wird und in das Nicht-Ich abgedrängt wird. Zwar läßt sich leicht einsehen, dass das Ich, worauf der moderne Mensch so stolz ist, quasi leer bleibt, wenn ihm nichts gegeben ist, das ihn unausweichlich angeht. So sind wir fern davon, uns selbst aus betroffener Selbstgegenbeheit zu verstehen. Hier genau hat Philosophie als Lebensform heute anzusetzen. Es geht um eine Wiedergewinnung von Leiberfahrungen, eine Positivierung des Leidens, um die Ausbildung von Tugenden des Pathischen oder, modern gesprochen, um die Ausbildung von Kompetenzen, sich etwas widerfahren zu lassen.

 

Mit den Stichworten „Da-Sein“ und „Gegenwartsbewusstsein“ nenne ich ein zweites Beispiel, in dem heute eine philosophische Lebensform dem Verlust an Humanität gegenzusteuern hätte. Die Bemühungen der klassischen Philosophie um eine Selbstkultivierung als auch die des Christentums um Seelenheil dienten einer Überwindung des menschlichen Daseins in seiner Hinfälligkeit und seiner Verlorenheit an die Unmittelbarkeit. Das hatte seinen den Grund darin, dass dieses unmittelbare Dasein mit seinen Anmutungen und Zumutungen  und auch seinem flüchtigen, vergänglichen Charakter von den Menschen als Last erfahren wurde. Im Kontrast dazu wurden die Ideale einer rein geistigen Existenz, eines ewigen Lebens und eines Seelenheils im Jenseits aufgestellt. Heute kann man dagegen sagen, dass das menschliche Dasein unmittelbar gar nicht mehr erfahren wird und quasi von der Gegenwart entkernt ist. Das Bewußtsein des modernen Menschen ist aufgelöst in Projekte und Intentionen, also in Zukunftsvorstellungen einerseits und Erinnerungen und Rechtfertigungsstrategien, also in Vergangenheitsbewußtsein andererseits. Die Unfähigkeit in der Unmittelbarkeit präsent zu sein, wird in der Regel kompensiert durch Dokumentation, d. h. so dass durch Ton- und Bildaufzeichnungen das, was unmittelbar hätte erlebt werden können, im Nachhinein als Faktum angeeignet wird. Dieser Verlust an Gegenwartsbewußtsein bedeutet zugleich eine Mißachtung leiblicher Anwesenheit und eine Unfähigkeit zur sinnlich ästhetischen Erfahrung. Was einem hier entgeht, ist eigentlich das Leben selbst, nämlich die Lebendigkeit des Da-Seins, insofern sie selbst im Vollzug erfahren werden kann. Damit entgeht dem modernen Menschen auch die elementarste Form von Glück, nämlich das Glück, da zu sein. Stattdessen sucht er das Glück auf der Seite der Glücksgüter. Er verbraucht sein Leben mit deren Erwerb und ist dann häufig gar nicht in der Lage, diese zu genießen.

 

Eine philosophische Lebensform in dieser Lage hätte sich um eine Wiedergewinnung unmittelbarer Da-Seins-Erfahrung zu bemühen. Sie müsste in Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsübungen bestehen und sie würde ein Aussetzen oder, wie man in der Philosophie sagen würde, eine Einklammerung, eine Epoché, sowohl von Intentionen als auch von Argumentationen, also vor allem Rechtfertigungsdiskursen verlangen. Ganz im Gegensatz also zur klassischen Haltung der philosophischen Lebensform ginge es heute um Unmittelbarkeit, um Sich-versenken in die Gegenwart und um die Entwicklung eines den Lebensvollzug begleitenden Bewußtseins. Das dürfte ohne meditative Übungen nicht zu machen sein. Nur wären diese wiederum im Gegensatz zur klassischen philosophischen Haltung nicht solche, in denen der Mensch zu ewigen Wahrheiten aufstiege, sondern gerade umgekehrt, solche, in denen er in die Gegenwart in ihrer sinnlichen Fülle und in seine eigene    Existenz als leiblich-lebendigen Vollzug hniabstiege.

 

Wie Philosophie als Weltweisheit für Jedermann offensteht, insofern sie sich um die Probleme kümmert, die jedermann beschäftigen, so ist auch Philosophie als Lebensform etwas, dass durch keine professionellen Schranken eingegrenzt wird. Natürlich gilt auch heute: Philosophie als Weltweisheit besteht wesentlich in einem Umdenken und in der Überwindung von Vorurteilen und Philosophie als Lebensform besteht wesentlich in einer Umkehr und einer Revision der herrschenden durch die technische Zivilisation und die Leistungsgesellschaft vorgeschriebenen Verhaltensweisen. Mit Kant könnte man auch heute noch sagen: ein philosophisches Leben zu führen, heißt mündig zu sein, heißt sein Leben weder einfach verstreichen zu lassen – d. h. also den jeweiligen Trends und Moden anheim zu geben, noch sich die Lebensführung durch Experten abnehmen zu lassen.

 

Von der Redaktion gekürzte Fassung. Die Originalfassung erscheint in:

 

Wolfgang Christ (Hg): Access for All-Zugänge zur gebauten Umwelt /  Wolfgang Christ (Ed.):  Access for All-Approaches to the Built Environment, Birkhäuser Verlag, Basel, Berlin, Boston

 

UNSER AUTOR:

 

Gernot Böhme ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Darmstadt und Leiter des „Instituts für Praxis der Philosophie e.V.,IPPh“ in Darmstadt.