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FORSCHUNG

Wiener Kreis und Gestaltpsychologie

Der Wiener Kreis und die Gestaltpsychologen

 

„In der Gestalt ruht das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile umfaßt, und das einem anatomischen Zeitalter unerreichbar war. Es ist das Kennzeichen einer heraufziehenden Zeit, daß man in ihr wieder unter dem Banne von Gestalten sehen, fühlen und handeln wird“, schrieb Ernst Jünger 1932. „Wenn man solche pathetischen Ganzheitsverkündigungen durch die physikalistische Zensur laufen lässt, bleiben übrigens, gestützt auf Experimente, brauchbare Sätze des Physikalismus übrig, gegen den sich Vertreter dieser Richtung bewußt zur Wehr setzen“, antworte Otto Neurath 1933.

 

Steffen Kluck, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Universität Rostock, hat in seinem Buch

 

Kluck, Steffen: Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung. 220 S., kt., € 36.—, 2008, Alber, Freiburg

 

die Beziehung des Wiener Kreises zur Gestaltpsychologie unter die Lupe genommen und ist dabei zu überraschenden Erkenntnissen gekommen.

 

Allgemein wird angenommen, dass der Wiener Kreis Ganzheitstheorien kritisch gegenüberstand – galten diese doch oft als pure Metaphysik. Kluck zeigt nun, dass es sowohl deutliche inhaltliche Gemeinsamkeiten als auch intensive persönliche Kontakte zu Personen aus dem Umfeld der Gestalttheorie gab – etwa zu Wolfgang Köhler, David Katz, Stephan Witasek und Emil Utitz.

 

Der Ursprung der Gestalttheorie

 

Wilhelm Wundt rekurrierte – ähnlich wie Mach – gestützt durch Überlegungen und Experimente auf Verstandestätigkeiten, welche die Empfindungen zu dem Ganzen verbinden, das gemeinhin als die Erlebniswirklichkeit verstanden wird. Wundts eigentliche Leistung für das Problem der Gestalten sieht Kluck in seinem Prinzip der „schöpferischen Synthese“ oder „schöpferischen Verbindung“: „So sind ein Zusammenklang, ein räumliches Objekt, eine Zeitstrecke usw. Erscheinungen, die in keiner Weise reine Additionen der in sie eingehenden Ton-, Ge­-sichts-, Tastempfindungen usw. sind, obgleich sie doch diese Empfindungen stets als unmittelbar wahrnehmbare Bestandteile enthalten“ (Wilhelm Wundt). Allerdings kann Wundt diesen Ganzheiten nur durch die Hinzufügung einer weiteren Verstandestätigkeit, eben der „schöpferischen Verschmelzung“,  theoretisch gerecht werden.

 

Schon Wundts Zeitgenossen erkannten darin eine Unzulänglichkeit. So schrieb Eduard von Hartmann in seinem 1901 erschienenen Buch Die moderne Psychologie, „dass die Psychologie sich damit in eine Sackgasse verrannt hat“.

 

Christian von Ehrenfels, der als Begründer der Gestalttheorie gilt, schlug in dem bereits 1890 erschienenen Aufsatz Über Gestaltqualitäten vor, Gestalten „als etwas (den Elementen gegenüber, auf denen sie beruhen) Neues und bis zu gewissem Grade Selbstänldiges“ zu betrachten. Damit wandte er sich gegen die Ableitung der Gestalten aus den Elementen und an diesen vollzogenen Gedankenprozessen, zum Beispiel Assoziationen oder Verschmelzungen, und betonte vielmehr die Eigenständigkeit der Phänomene. Insbesondere wies er auf die „Übersummativität“ – des Mehr-Seins der Gestalten gegenüber den zugrunde liegenden Teile – hin. Diese beiden als „Ehrenfels-Kriterien“ bezeichneten Merkmale sollten die Gestaltdiskussion in der Psychologie maßgeblich prägen.

 

Durch die Verwendung des Wortes „Gestalt“ schien eine Art produktive Metapher im intellektuellen Diskurs der Zeit etabliert worden zu sein, die weit über die Grenzen der Psychologie hinaus Einfluss ausüben sollte.

 

Die Diskussionen der Gestaltpsychologen

 

Hans Cornelius reagierte auf den Aufsatz von Ehrenfels und gab der entstehenden Gestaltpsychologie damit eine Wendung, die für die Leipziger Schule der Gestaltpsychologie maßgeblich werden sollte. Cornelius schlug vor, Gestaltqualitäten nicht als einen letzten, höchsten Begriff zu verstehen, sondern ihn in einen weiteren Rahmen einzuordnen. Die eigentlich umfassendere Entität sei der Komplex, von dem Gestalten nur eine besondere Form darstellten.

 Damit unterschied sich die Leipziger Schule von der auf Ehrenfels zurückgehenden Grazer Schule. Allerdings waren es die Vertreter der letzteren, die Psychologen um Meinong, insbesondere Benussi, Witasek und Ameseder, die Arbeiten zur Deutung der Gestaltphänomene vorlegten. Ein Jahrzehnt später kam als dritte noch die Berliner Schule hinzu, die sich zwar ebenfalls auf Meinong und Ehrenfels berief, aber nicht als Ahnherren, sondern als Vertreter von abzulehnenden Ansätzen. Das Konzept der Grazer Schule sah einen Akt der Hervorbringung der Ge­stalten über fundierende Inhalte vor.  Es hielt auch an der sog. Reizbedingtheit fest, was auf Kritik stieß.

 

Ein entscheidender Schritt erfolgte 1912 mit Wertheimers Aufsatz „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“, indem experimentell gewonnene Ergebnisse zu     einem radikalen Bruch mit etablierten Grundannahmen führten. Für Wertheimer kommt es gar nicht auf die objektiven Reize, also die vermeintlich fundierenden Inhalte an. Denn die Experimente zeigten, dass man den Bewegungseindruck nicht auf Reizungen von so und so vielen Quellen zuzüglich der Querverbindungen zurückführen kann. Kurt Koffka lehnte in der Folge die gängige These, dass man zur Erklärung der Komplexe auf außersinnliche Aspekte, etwa Herstellungsakte, zurückgreifen müsse, ab. Er war es auch, der erstmals in aller Deutlichkeit von einem Primat des Ganzen vor den Teilen sprach, was den radikalen Bruch mit dem Atomismus der herkömmlichen psychologischen Theorien darstellte. Damit war die „Berliner Schule“ der Gestaltpsychologien entstanden, eine Schule mit besonders radikalen Ansichten.

 

Friedrich Sander veröffentlichte anlässlich des 10. Kongresses für experimentelle Psychologie im Jahre 1927 eine Art Resümee der Diskussion: „Wenn das Ganze mehr sein sollte als die Summe seiner Teile, dann war es eben notwendig, einen Faktor einzuführen, der zu den primären Elementen hinzutritt und auf ihnen als ‚Konstituenten’, als ‚Fundamenten’ das Ganze aufgebaut, sie zu einem Ganzen oder, wie man gleichbedeutend sagte, zu einer ‚Einheit’ zusammenbindet. Schöpferische Synthesen, Produktionsprozesse, Funktionen der Zusammenfassung und Verschmelzung, Aufmerksamkeitstheorien sind solche Elemente vereinigenden, ganzmachenden Faktoren… Alle diese Theoriebildungen haben gemeinsam, dass in ihnen die Lehre vom Primat der Elemente grundsätzlich unangetastet bleibt.“

 

Die Reizbedingtheitsthese der Grazer Schule beinhaltete das „Dogma von der dinghaften Unveränderlichkeit der sog. Elemente“ (Sander). Hinzu kam die Lehre von den reinen Empfindungen, einem Topos der damaligen Psychologie. Danach war es notwendig, die Erlebnisse von allen Zutaten des Geistes zu befreien und die reinen, unveränderten, objektiven Empfindungen herauszustellen, von denen allein oder zumindest hauptsächlich die Wirkung ausgehen sollte. Dem widersprachen nun die Ergebnisse der Berliner Schule, die gezeigt hatten, dass man von absoluten Empfindungen gar nicht sprechen kann, dass es sich vielmehr um relative Gefüge handelt.

 

Moritz Schlick und die Gestaltpsychologie

 

Moritz Schlicks Allgemeine Erkenntnislehre stellt gleichsam eine Widerspiegelung der Psychologie der Zeit von 1910 bis 1925 dar.


In ihr lassen sich drei wichtige Strömungen der Psychologie der damaligen Zeit herauskristallisieren: die Gestaltpsychologie, die Produktionspsychologie und die Assozia­tionspsychologie. Es lässt sich von allen dreien eine Wirkung auf Schlicks Werk nachweisen. Umgekehrt weist das Buch eine gewisse Uneinheitlichkeit auf bezüglich der psychologischen Theorien, denen es folgt.

 

Schlick selber ist in einem wissenschaftlichen Kontext sozialisiert worden, der eine gewisse Tendenz zu ganzheitlichen Betrachtungen hatte. Im Laufe seiner Auseinandersetzung mit psychologischen Theorien, spätestens seit seinen Zürcher Studienjahren, hat er sich von der Richtigkeit des Ansatzes der Gestaltpsychologie überzeugen lassen. „Den Gestalten kommt bei der Beschreibung des unmittelbar Gegebenen eine schlechthin fundamentale Rolle zu“, schreibt er 1925. Die Gestaltpsychologie hatte explizit für diese These argumentiert, und Schlick folgt ihr nun.

 

Daneben vertritt Schlick gleichzeitig die These, dass „die Natur eine lückenlose, stetige Mannigfaltigkeit gleichartiger Beziehungen darbietet“, dass es „schlechthin gegebene Elemente“ gibt und dass „sinnliche Qualitäten …. Bewußtseinselemente“ sind. Diese Thesen wiederum sind mit der Gestaltpsychologie unvereinbar, Kluck sieht in ihnen ein traditionelles Erbe. Für ihn changiert Schlick zwischen strikt gestaltpsychologischen und traditionelleren, produktionstheoretischen Annahmen.

 

In der Zeit zwischen dem Erscheinen der er­sten und der zweiten Auflage der Allgemeinen Erkenntnislehre gab es zwischen Schlick und den Gestaltpsychologen persönliche Beziehungen von hohem Intensitätsgrad. So wollte man gemeinsam die Herausgeberschaft einer Zeitschrift übernehmen. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die zweite Auflage, die in Wien entstand, stärker ge­staltpsychologisch geprägt ist. Im Wien der dreißiger Jahre war die Gestaltpsychologie intellektuell präsent. So beschäftigte sich etwa Popper in seiner Dissertation, die von Schlick und Bühler betreut wurde, mit methodischen Problemen der Psychologie und nahm dabei einen Vergleich zwischen den Ansichten von Schlick und denen des Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler vor. Vor allem aber Karl Bühler, der 1922 an die Universität Wien berufen worden war, hielt die Gestaltpsychologie im Themenkreis des damaligen intellektuellen Diskurses. Schlick und Köhler waren miteinander befreundet.

 

Welche Änderungen hinsichtlich gestaltpsychologischer Theoreme finden sich in der zweiten Auflage? Schlick betont, statt auf inhaltliche Aspekte zu sehen, soll sich die Philosophie auf die logische Form der einzelwissenschaftlichen Aussagen konzentrieren. Auch die Gestaltpsychologie betont die Geformtheit des Gegebenen.

 

Allerdings stand Schlick der Gestalttheorie durchaus auch kritisch gegenüber. Käthe Steinhardt berichtet über ein Seminar von Schlick im Wintersemester 1933/34. Dabei wurde berichtet, dass Meinong davon spreche, Ehrenfels habe den Beweis erbracht, man könne dort, wo es sich um eine Gestalt handle, nicht von einer Summe sprechen. Schlick wandte dagegen ein, es könne weder von Beweis noch von Erkenntnis die Rede sein, wenn z. B. davon gesprochen werde, dass eine Melodie oder Tongestalt etwas anderes sei als die bloße Summe der Töne, aus denen sie sich aufbaut. Hier handle es sich „bloß um die Festsetzung von Sprechweisen“. Kluck zufolge wird damit der gestalttheoretisch inspirierten Psychologie vorgehalten, sie habe sich allein um eine begriffliche Neuformulierung oder bestenfalls eine begriffliche Klärung verdient gemacht – aber ontologisch oder phänomenal von Gestalten zu reden sei sinnlos. Der Vorwurf, den Schlick dem Gestaltdenken macht, ist der, dass es deskriptiv zu ontologischen und somit metaphysischen Begriffen hypostasiert.   

 

Angeregt durch die Diskussion des Wiener Kreises hat Schlick sämtliche Aussagen zum Bereich des Erlebens fallen gelassen und sich allein dem Bereich des Erkennens zugewandt, in welchem die Methode der logischen Analyse greift. Damit wird verständlich, warum sich Schlick nun positiv über den Behaviorismus äußert, jene Form der Psychologie, die gänzlich auf das äußerlich feststellbare Verhalten als ihren Gegenstand rekurriert. Allein letzteres kann in der durch den Wiener Kreis geforderten Art und Weise überprüft und als empirische Basis für Sätze und Satzsysteme verwendet werden. Die Gestaltpsychologie wiederum hat sich explizit gegen den Behaviorismus ausgesprochen.

 

Aber nicht nur Schlick, auch Carnap hat sich mit der Gestaltpsychologie beschäftigt. Im Frühwerk Der logische Aufbau der Welt finden sich Parallelen: „Was zu allem anderen erkenntnismäßig primär ist… das sind die Erlebnisse selbst in ihrer Totalität und geschlossenen Einheit“, heißt es dort auf Seite 92. Für Kruck zeigt sich hier der Einfluss der Gestaltpsychologie in aller Deutlichkeit. Carnap war dies durchaus bewusst. So schreibt er in einer Bemerkung: „Die genannte Auffassung ist besonders in der ‚Ge­stalttheorie’ entwickelt worden.“ Später distanzierte sich Carnap davon und meinte, er würde stattdessen als Grundelemente nicht Elementarerlebnisse nehmen, sondern „etwas den Machschen Elementen Ähnliches, etwa konkrete Sinnesdaten, wie z.B. ‚rot einer gewissen Art an einer gewissen Sehstelle zu einer gewissen Zeit“.  Damit hat er die Ge­stalttheorie zugunsten einer physikalistischen Sprachkonzeption fallen gelassen. Nach 1930 spielen bei Carnap psychologische Probleme keine Rolle mehr.

 

Otto Neuraths Ziel war es, die Gestaltpsychologie in die physikalistische Einheitssprache und somit in die Einheitswissenschaft einzugliedern. Dabei sollte die Behavioristik als Ideal der physikalistischen Psychologie bestimmend bleiben. Skeptisch blieb er hingegen gegenüber den mit dem Ganzheitsdenken eng verbundenen metaphysischen Termini. Aus diesem Grund stand er der Berliner Schule weit offener gegenüber als etwas Carnap oder Schlick. Und doch zeigen Neuraths praktische bildpädagogische Arbeiten gewisse Parallelen zu Einsichten, wie sie im Umfeld der Gestaltpsychologie hätten herausgearbeitet werden können.

 

Nicht zuletzt hatten beide Schulen, die Ge­staltpsychologie und der Wiener Kreis, einen gemeinsamen Entstehungs- und Wirkungskontext. Köhler, Wertheimer, Koffka und Schlick studierten zeitnahe teilweise bei denselben Professoren in Berlin und wuchsen so in ein gleichartiges intellektuelles Klima hinein. Sowohl der Wiener Kreis als auch die Berliner Schule unterhielten Beziehungen zu Einstein, dem Bauhaus oder der „Gesellschaft für empirische Philosophie“. Im Inter­esse einer Überwindung traditioneller Ansichten machten sich beide Bewegungen auf, neue Wege der Forschung, vermittels des Leitbildes der Physik zu beschreiten.